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Freitag, 2. Dezember 2022

Ein 695-Seiten-Wutanfall: Das Märchen von der Rettung der Welt

                                                          Sibylle Berg: RCE Remote Code Execution. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, 695 Seiten, 26,00 € 

Widerstand scheint zwecklos in einer Welt, die der Neoliberalismus umfassend verheert hat. Kapitalismus ist scheinbar alternativlos geworden, hat wenige absurd reich gemacht und fast allen ein menschenwürdiges Dasein genommen. Fast allen. Aber in einem Container auf einer Schweizer Bergwiese brennt noch Licht.

Die Stuttgarter Autorin Sibylle Berg lebt in Zürich, verfügt über einen messerscharfen analytischen Verstand, eine geschliffene Sprache, eine große Portion rabenschwarzen Humors und den technischen Sachverstand eines Computernerds. Dabei schont sie ihre Wahlheimat kein bisschen: "Die Leute waren zufrieden. Mit sich. Und hatten sich nichts vorzuwerfen. Vom ärmsten Flecken Europas zum reichsten Land der Erde in wenigen Generationen. Hut ab. Die EinwohnerInnen des Landes, das aus Zahnrädern und Gold errichtet war, fühlten sich immer im Recht. Also wie alle Menschen. Nur stärker. Sie konnten keine Fehler zugeben. Also auch wie alle Menschen, aber konsequenter." Ort der Handlung ist, wenn man das so sagen darf, ein Hochplateau mit viel Natur. Neuankömmling Maggie betrachtet die Idylle: "Den Brunnen, die Zikaden, Palmen und Vögel, die fast höflich leise kommunizierten, und sollte es hier Wildtiere geben, dann trugen sie sicher Pantoffeln." Am Waldrand nicht etwa ein Chalet, sondern ein paar abhörsichere Wohncontainer "unter den Bäumen, geschützt vor Drohnen und Helikoptern. Hoffentlich." 

Hier treffen sich fünf Hacker, um die Weltrettung zu programmieren: ein sich selbst ausführender Code (RCE) zur ferngesteuerten Zerstörung all dessen, was zum falschen System gehört: Frei nach Rio Reisers Vers "Macht kaputt, was Euch kaputt macht!" geht es Banken, Milliardären, Konzernen und Lobbyisten an den Kragen. Es ist der letzte Versuch. Und am Ende geht das große Ding gut aus. Der Code funktioniert. Grundbuchämter brennen, Armeen und Polizei haben plözlich nur noch Platzpatronen, Diktatoren und Rechtsradikale werden per Robotaxi auf Kreuzfahrtschiffe verbannt, die Banken müssen ohne Bargeld schließen, ein Großteíl digitaler und analoger Besitztitel lösen sich in Luft auf. Der hybride Krieg gegen das Volk mit Hilfe einer korrupten Justiz endet mangels Masse, Cloud und Tracking-App.

Sprachlich ist der Anakoluth (Zeilenbruch) Programm bei jedem Absatz und Kapitelanfang. Dazu ziemlich provokant-sinnlose Kurzbiographien für Opfer, Täter und Handelnde, die wie Profile von Überwachungsprogrammen wirken (sollen). Auch neben den Varianten von Satire, Sarkasmus, Lakonie und der eigenwilligen (hier jedoch durchaus sinnvollen!) Interpunktion fällt auf: eine Technik des Überspitzens, die sich etwa in der Charakteristik von Ben zeigt. Der spiritus rector der Gruppe wird beschrieben als jemand, der "aus zwei Metern und hundertzehn Kilo Fett, Muskeln und schlechter Laune" bestand. Die Entsorgung von Alten, Kranken und Schwachen als nicht-profitabel findet seine Entsprechung in diversen Methoden friedlicher bis gewalttätiger Entmietung, der Trennung von Mensch, Materie und Arbeit. Ganze Stadtteile wurden verkauft für "irgendwas. Ohne Menschen". Gern wird es auch wortschöpferisch: "codegesponserte Massenvereinsamung", "Massenablenkungswaffe Twitter" oder bei Unbotmäßigkeit "Entzug digitaler Vermögenswerte".

Sprache dient als Spiegel der Existenz: "Wenn Ben sich in Worten auflöste, hatte er kurzfristig das Gefühl, Zusammenhänge zu verstehen, die sonst in Codes zerlegt zu tausend Einzelproblemen wurden. Wenn er redete, dachte er, dass alles doch so klar und einfach sein müsse, wie Einsen und Nullen." Was natürlich bei Sibylle Berg auch das Schreiben einschließt. Sprache als Selbstvergewisserung oder die allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Sprechen (so der große Rhetoriker Walter Jens). Thematisiert wird einfach alles, was stinkt, und das ist eine große Menge und erklärt auch, warum man sich in diesem dicken Roman niemals langweilt. Die realen sozialen Kasten des Geld- und Blutadels, die sozialen Medien, die Plattformen zur algorithmengetriebenen Bereicherung, das Schul- und Bildungswesen, Amazon und Spotify, die Medizin und ihre Bertelsmann-Stiftung mit Hunderten von Privatkliniken, die steuerbegünstigten Thinktanks zum Zweck politischer Manipulation, Ressentiments und natürlich Politik und, und, und... Es ist ein Wutanfall über 695 Seiten. Es ist ein Märchen für große Kinder, weil´s gut ausgeht und so ein schöner Traum ist.

Die Verzwergung von Wirtschaft und Politik, die schließliche Herrschaft der Mittelmäßigen und schlussendlich die Diktatur der Gartenzwerge durch diese manipulativen Netzerke von Kapital und Politik, das ist ja alles zum Wahnsinnigwerden. Es ist zum Verzweifeln, und da hilft nur so ein Märchen, das gut ausgeht. Es ist aber keine Utopie und keine richtige Dystopie, denn die ganze Geschichte ist so nah am Hier und Heute entlang erzählt, dass sie zu 95 Prozent eben auch stimmt. Fast alles ist nachprüfbar in einem Glossar und oft mit weiterführender Literatur belegt. Dabei kann man richtig was lernen.


Donnerstag, 6. Oktober 2022

Ein großer Wurf aus Georgien: Nino Haratischwilis Roman "Das mangelnde Licht"

Nino Haratischwili: "Das mangelnde Licht". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, 832 Seiten, 34 €

Wer keine Adjektive und keine Redundanzen mag, sollte keine Romane lesen, erst recht keine so dicken. Nino Haratischwili hat einen großen Roman geschrieben, keinen Haiku. Und um das gleich zu sagen: Es ist in meinen Augen eine Frechheit, ihn als "gescheitert" zu bezeichnen wie Beate Tröger von SWR2 oder Stefan Kister von der Stuttgarter Zeitung. Der hat zwar manchmal Recht wie bei seiner Lobeshymne auf den Roman "RCE - remote code execution" von Sibylle Berg. Aber manchmal schreibt er auch unfassbaren Blödsinn wie etwa wenn er meint, irgendwann werde ein Autor erwachsen und lasse  das "Poesiealbum der Lyrik" hinter sich, um einen Roman zu verfassen. Oder eben auch über Haratischwili und "Das mangelde Licht", den auch er als "gescheitert" bezeichnete. - Warum so viel Meta-Text als Vorrede? Weil ich behaupte, dass ein großer Roman auch Widerspruch auslöst. Ein Roman soll ja den Leser / die Leserin in sich hineinsaugen. Seine Bilder und Geschichten sollen in den Köpfen weiterleben. Und das tut er nicht nur, wie Unterhaltungsliterat Denis Scheck oberflächelnd kundtat, "weil er historische Hintergründe transportiert, psychologisch schlaue Einblicke gewährt und wirklich sehr süffig zu lesen ist...". Geschenkt. Das tut ein guter Roman sowieso. Doch es geht um sehr viel mehr.

Aber ich mag es dann doch etwas konkreter: Nino Haratischwili erzählt in diesem Roman die Geschichte von vier Frauen, die als Mädchen zusammenfinden. Als sich drei Überlebende 2019 zu einer großen Foto-Retrospektive der toten Vierten in Brüssel für einen Tag wieder treffen, hat sie das Leben fast 20 Jahre lang in alle Winde zerstreut. Die vier Frauen sind so unterschiedlich, wie es nur geht. Da ist die Ich-Erzählerin Keto, ein eher zurückhaltender Typ. Sie ist künstlerisch hoch begabt, traut sich aber keine eigene "Sprache" als Künstlerin zu. Sie wird eine gefragte Restauratorin. Die Rettung verblichener Fresken in mittelalterichen Klöstern und Kirchen zwischen Tbilissi, Istanbul und Kiew ist ihr Lebensunterhalt, aber auch Zuflucht und Ruhepol in sonst unruhigen Zeiten. Irgendwann hat sie angefangen, sich zu ritzen, bis ihre Oberschenkel nur noch aus Narben bestehen. Niemand darf Keto daher nackt sehen, auch nicht beim Sex. Umso intimer das Bild ihrer Freundin Dina, der sie sich eines Tages offenbart. Das ist mehr als intim, das ist schon exhibitionistisch, wenn dann das Foto in Brüssel an der Wand hängt. 

Zunächst seltsam dünnhäutig, ist Keto hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht, ihre Lebensfreundinnen wieder zu sehen, und der Angst davor, was die Fotos auslösen könnten - oder die unvermeidlichen Gespräche über die traumatische Vergangenheit. Das sind nicht bloß "schlaue psychologische Einblicke". Ich vermute, solche Szenen sind ohne deutliche Spuren eigenen Erlebens nicht möglich. Hier, und nicht nur hier, offenbart die Autorin eine Dimension seelischer Verletzungen, die man wohl selbst erlebt haben muss, um so darüber schreiben zu können. Dass nach 20 Jahren Versöhnung zwischen den drei Überlebenden möglich sein soll, die sich so unversöhnlich getrennt haben, wirkt wie ein Märchen zwischen Hoffnung, Wutanfall und Psychoanalyse. Es ist schon ein Wunder der Freundschaft, dass alle drei nach Brüssel kommen und der Begegnung nicht ausweichen, die zu einer Retrospektive ihres Lebens wird.

Dann ist da die draufgängerische Dina, die andere immer mitreißt. Sie schläft mit einem Banditen, dem Bruder einer ihrer Freundinnen, der ihren Geliebten durch eine Intrige ins Gefängnis gebracht hat, um ihren Geliebten freizubekommen. Sowohl ihr Geliebter als auch dessen Erzfeind verachten sie dafür. Daraufhin wendet sie sich ganz ihren Bildern zu, wird Fotografin und dokumentiert in Abchasien und Tbilissi Krieg und Bürgerkrieg als Reporterin. Scheinbar unberührbar steht sie über allem, was sie erlebt, und wird doch schließlich das einzige Todesopfer in dieser Clique. Irgendwann, man ahnt es die meiste Zeit, ist die "Coole" dem nicht mehr gewachsen, was sie an Horror und Leid erleben muss, und erhängt sich.

Ira, Musterschülerin und Stanford-Juristin, ist bestens vernetzt und lässt nach ihrer Rückkehr als Staatsanwältin die ganze korrupte und kriminelle Herrschaft der Clans, Banditen und Milizen in Tblilissi hochgehen. Da die Brüder ihrer Freundinnen in führenden Positionen an diesem System beteiligt sind, gilt sie als Verräterin der Familienehre, nachdem der Fall publik geworden ist: Sie hat die Wohnung eines der Drogenbosses hinter dem Rücken ihrer Freudinnen verwanzen lassen und so das entscheidende Beweismaterial für Medien und Politiker erhalten. Ihre hoffnungslose lesbische Liebe zu Nene treibt sie als Studentin in die USA und später immer wieder in oberflächliche Affären. Dass die griechisch-orthodoxen Popen von Tbilissi noch vor wenigen Jahren eine Gay-Parade zum Anlass nahmen, um ein regelrechtes Progrom gegen Schwule und Lesben zu organisieren, zeigt das tatsächliche Risiko sexueller Selbstbestimmung in Georgien. Also: ein Buch über Männer und Frauen, aber echt auf die Spitze getrieben.

Nene, die vierte im Bunde, ist ein romantisches kaukasisches Vollweib: sexy, frivol, witzig, immer Mittelpunkt der Gesellschaft, mit Luxusklamotten und Kosmetik stets auf ihr Äußeres bedacht und "Handelsobjekt" ihres kriminellen Onkels, der sie mit Geschäftspartnern aus Russland verheiratet. Ihr Bruder ist der brutale Drogenhändler, dessen verwanzte Wohnung das System implodieren lässt. Ihr Kind kostet den nicht standesgemäßen Liebhaber das Leben und bringt Nene zwei Mal eine Zwangsheirat mit Mafiabossen ein. Doch obwohl sie im goldenen Käfig lebt, sich nie frei entfalten kann und immer unter Beobachtung steht, kann sie Iras Liebe nur verurteilen und rechtferigt sogar noch ihre Unterwerfung unter die kriminelle Männerwelt. Sie ist das herausragende Beispiel für Frauen, die in archaischen Rollenbildern feststecken und sich damit das Leben letztlich selbst zur Hölle machen. So etwas ist im arabischen Raum, in vielen religiös geprägten Ländern und eben auch im Kaukasus noch weit verbreitet: eine permanente Quelle reaktionärer "Erneuerung" frauenfeindlicher Zustände. Frauen wie Nene verteidigen selbst die kriminellen Männer und Vergewaltiger in ihren Familien bzw. Clans mit Zähnen und Klauen: eine georgische Art kollektives Stokholm-Syndrom nennt Ira dieses Verhalten einmal treffend. Dass sie den Freundinnen nichts von ihrer Arbeit als ermittelnde Staatsanwältin erzählt, ist daher auch reiner Selbstschutz.

Keiner der Charaktere in diesem Buch ist nur gut oder nur böse. Jeder und jede hat Stärken und Schwächen, es gibt kein Schwarzweiß. Das macht einen nicht geringen Teil des Umfangs aus, ist aber auch maßgeblich für die Menschlichkeit des Buches und für die Glaubwürdigkeit des Versuches, den Menschen gerecht zu werden. Dazu gehört auch das Wissen, dass sich alle im Lauf der Jahre verändern. Und doch teilen diese vier Freundinnen das Geheimnis, dass nach 20 Jahren fast alles ist wie früher, bis auf das Wissen um die Wunden, die man sich geschlagen hat. Man kennt sich nur allzu gut. Eine Frucht des Älterwerdens ist gewiss die Vorsicht, die bei der Balance zwischen Ehrlichkeit und Wahrheitsbedürfnis herrscht. Man reißt keine Narben auf, doch keine versucht, etwas unter den Teppich zu kehren. Ach, hätten die Deutschen ihre Vergangenheit mit den Diktaturen der Nazis und der SED so bewältigt! Sicher, die Zeit hilft, viele Wunden zu heilen. Aber wenn die Zeit der Sprachlosigkeit zu lang wird und das Schweigen andauert, verfälscht es Erinnerung. Lügen werden mit ins Grab genommen. Man hat als Leser nach 832 Seiten den Eindruck, dass hier nichts dergleichen passiert ist.

 

Galerie der Erinnerungen

Der erste Teil des Romans heißt "Wir" und erzählt viel von der wunderbaren alten Stadt Tbilissi und ihren Bewohnern. Erinnerungen an das Leben in einem traditionellen Hofhaus in der historischen Altstadt mit enger Nachbarschaft wechseln sich mit Bildern der Ausstellung in Brüssel ab, die in einem strengen Schwarz-Weiß das Leben der Mädchengang in den Mittelpunkt stellt. Sie sind chronologisch geordnet und lösen schöne oder schmerzliche Erinnerungen aus. Es ist eines der Verdienste des Buches, dass diese nicht nur benannt, sondern wirklich erzählt werden. Dadurch kriechen die Bilder in den Kopf des Lesers, wo sie sehr bald ein intensives Eigenleben führen. Das Buch macht greifbar - gerade durch die Unterschiedlichkeit der vier Freundinnen und ihrer Familien - was Zeiten großer Umbrüche ganz konkret für die einzelnen Menschen bedeuten. 

Teil zwei heißt "Die Hundejahre" und verhandelt die Liebe in Tbilissi, die Geschichte der Clans, die archaischen Traditionen, den Mangel und Warteschlangen. Teil drei heißt "Heroin" und erzählt, wie Nenes Bruder das bis dahin unbekannte Rauschgift nach Georgien importiert und eine steile Unterweltkarriere macht, der auch sein eigener und Ketos Bruder zum Opfer fallen. Von alten und neuen Harrschaften erzählt dieser Teil drei, von Festen und Verrat in diesem Teufelskreis Georgien, in einem Land mit 3,5 Millionen Einwohnern, das es heute so nicht mehr gibt.

Teil vier heißt "Gott deiner selbst", und da geht es darum, auf den eigenen Beinen zu stehen, um die Selbstermächtigung, sich selbst treu zu bleiben auf der Suche nach dem persönlichen Glück und einer gefestigten Persönlichkeit. "Das mangelnde Licht" ist hier weniger ein Bezug auf den dunklen Park in Brüssel, wo das Trio nach der Vernissage mit Google Maps ein illegales Bad in der heißen Sommernacht ansteuert. Das titelgebende Bild meint viel mehr die Mühen und Schmerzen der Erinnerung: "Ich habe Lücken, wie schwarze Löcher im Hirn". Es enthält finale Lebensbeichten der Freundinnen am Rand des Bassins, Fragen an das Leben, an die Geschichte. Doch nicht um Antworten geht es, sondern darum, all diese Zumutungen als Geschenk einer Freundschaft anzunehmen, die allen Stürmen trotzt.

Der Roman ist ein großes Buch über die Liebe, die zur Überraschung der Protagonistinnen nicht nur beim ersten Mal weh gut, sondern jedes Mal wieder, immer. Die Sprache der Autorin bewegt sich zwischen zupackendem Realismus und purer Poesie: "Keto, wie kann es sein, dass das Herz, einmal herausgeschnitten, wieder nachwächst? - Keto, wie kann es sein, dass man sich selbst nicht beherrschen, aber jemand anderen über sich herrschen lassen kann? - Keto, wie kann es sein, dass ich in Zotnes Nähe aus Versehen glücklich wurde, während ich das Glück an Ratis Seite der Welt so mühevoll abtrotzen musste? - Keto, wie kann es sein, dass der Mensch im Laufe seines Lebens nicht gegen Leid immun wird, aber gegen die Liebe?" Fragen, die das Buch vermutlich anstelle der toten Dina stellt. Kitsch? - Nur für einen ziemlich abgebrühten Zyniker.

Zu den Stürmen, denen die Freundschaft trotzt, gehören die erste große Liebe, die wegen der "Familienehre" nur heimlich ausgelebt werden darf, die wachsende Gewalt vor allem unter den Männern der Clans, die zunehmende Spaltung der ganzen Gesellschaft in einer noch jungen, nicht gefestigten Demokratie (mit all dem dazu gehörenden Nationalismus, den man auch heute noch in der Ukraine beobachten kann), die Demonstrationen und Straßenkämpfe, die Brutalität einer russischen Armee, die jeden Separatismus gnadenlos für die eigenen Interessen nutzt, der Streit in den Familien (köstlich: die radikalisierten Großmütter der Erzählerin Keto) die Stromausfälle, das Frieren und Hungern im Winter und bei den explodierenden Preisen. Der Preis des Überlebens besteht in Form von Mittäterschaft durch Schweigen oder kleine Gegenleistungen aus dem Obst- oder Gemüsegarten. Das alles können wir heute in Deutschland wieder aktuell nachempfinden, selbst wenn man zu jung ist, um es schon selbst erlebt zu haben. Das ist ein weiteres großes Verdienst dieses Romans, der eben viel mehr als "historische Hintergründe transportiert": Er macht sie erst lebendig, fühlbar und spürbar. - Dieses Buch ist ein großer Wurf.

 

Montag, 26. September 2022

Die Degerlocher Kantorei Heinrich Schütz zum 350. Todestag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Am 24. September gab die Degerlocher Kantorei In der stimmungsvollen Versöhnungskirche von Stuttgart ein Motettenkonzert zum Gedenken an den bedeutendsten deutschen Musiker des Frühbarock. Heinrich Schütz wurde 1585 im sächsischen Köstritz geboren, wo bis heute ein gutes Bier gebraut wird. Der zweite Sohn eines kinderreichen Gastwirtes kam in den Genuss eines dreijährigen Stipendiums in Venedig, als Landgraf Moritz von Hessen-Kassel das musikalische Talent des Jungen erkannte. Er war Schüler von Giovanni Gabrieli, dem Organisten und Chorleiter des Doms von San Marco. 1611 veröffentlichte Schütz sein "Primo libro di madrigali", das die vielstimmige, teils mehrchörige Chormusik Venedigs erstmals nach Deutschland brachte. 

Nach seiner Heimkehr wurde Schütz bald sächsischer Hofkapellmeister in Dresden. Sein ganzes Leben und Schaffen stand im Schatten und unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges. Seine geistliche Musik hat Johann Sebastian Bach ebenso beeinflusst wie noch zeitgenössische Komponisten, etwa Vytautas Miškinis aus Vilnius in Litauen. Dessen Werk "Cantate Domino canticum novum" I und II aus der Reihe "Thoughts of Psalms" bildete den Anfang und das Ende eines Motettenreigens von Schütz entlang dem Kirchenjahr, den die Chorleiterin Barbara Straub sehr sachkundig und liebevoll zusammengestellt hatte. Die Degerlocher Versöhnungskirche hat eine ausgezeichnete Akustik und bietet dem Publikum ein nüchternes und für kluge Lichtregie dankbares Ambiente, in dem man sich gut auf die Musik konzentrieren kann. 

Bernhard Moosbauer (Barockvioline), Hélene Godefroy (Barockcello) sorgten für passende Zwischenmusik, Klaus Schulten an der Orgel für dezente Begleitung. Der Chor selbst ist für sichere Intonation, Stilgefühl und feinnervige Interpretation alter und klassischer Kirchenmusik schon mehr als hinlänglich bekannt. Es ist ein Jammer, dass solche Aufführungen nicht mehr Menschen erreichen, denn die Versöhnungskirche ist klein und geradezu intim. Aber ich könnte mir eine Aufzeichnung für Youtube gut vorstellen - und in der Folge auch Einladungen in andere Kirchen, etwa zu Festivals wie dem Musikfest Stuttgart. Fast alle Sängerinnen und Sänger sind reine Amateure und haben nicht die Zeit für eine umfangreiche Konzerttätigkeit. Doch das Niveau ist allemal beachtlich.


Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart tanzt

 

Am 23. September hatte das SWR-Sinfonieorchester seine Abonnenten (gilt für alle Geschlechter) zu einem "Dankeschön-Konzert" in den Hegelsaal der Liederhalle eingeladen - exklusiv für erwiesene Treue auch im dritten Jahr der Pandemie. Unter dem Motto "L´Idée de la danse" hatte Dirigent Jean-Christophe Spinosi ein Bouquet sinfonischer Tänze zusammengestellt, das dem Abend etwas von der Leichtigkeit und Beschwingtheit wiedergeben sollte, die im Zeichen von Corona, Krieg in der Ukraine und Klimakrise für viele Menschen abhanden gekommen ist. Auszüge aus der Wassermusik von Georg Friedrich Händel, die Ouvertüre zur Oper "Der Barbier von Sevilla" von Gioacchino Rossini, ein Walzer aus der Symphonie fantastique von Hector Berlioz, die "Ungarische Polka" op. 332 von Johann Strauß Sohn, die romantische Barcarole aus der Oper "Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach und der 4. Satz (Saltarello) aus der Sinfonie Nr. 4 A-Dur von Felix Mendelssohn-Bartholdy verbanden sich zu einem bunten musikalischen Familienfest. 

Launig und charmant führte Jasmin Bachmann als Moderatorin durch den Abend. Das Publikum hat´s dankbar genossen: Ohne Schutzmasken im vollen Saal war das hoffentlich kein Tanz auf dem Vulkan. Nach dem "Böhmischen Tanz" aus der Oper "Carmen" von Georges Bizet mischten sich sogar einzelne Bravo-Rufe in den rauschenden Beifall.

 

Samstag, 17. September 2022

Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters

 

Ein glücklicher Jean-Christophe Spinosi mit glücklichen Musikern beim Schlussapplaus

Einziger Programmpunkt beim Saisonauftakt der Stuttgarter Abonnementkonzerte des SWR Symphonieorchesters in der Liederhalle war die 9. Sinfonie D-Moll mit dem Schlusschor über Schillers "Ode an die Freude" für Orchester, vier Solostimmen und Choristen in vier Sätzen. Der französische Dirigent Jean-Christophe Spinosi hatte dabei eine große Besetzung zu leiten: neben dem Symphonieorchester das NDR Vokalensemble und das Chorwerk Ruhr. Das Thema ist eine überschwängliche Hymne an die Freundschaft, die Liebe, den Wein und eine allgemeine Menschheitsverbrüderung, Freiheit und Gleichheit, geschrieben von Schiller kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789 und komponiert von einem tauben Genie 1823/24 als finales Tonkunstwerk, von Gustav Mahler und Wagner zum Vorläufer ihrer "Gesamtkunstwerke" erhoben, ist auf jeden Fall programmatisch.

Das Gedicht ist nicht besonders (Schiller selbst nannte es später "schlecht"), wurde aber in seinem Gefühlsüberschwang mehrfach vertont und hat einen unzerstörbaren Kern. Das sind einzelne Textzeilen wie "Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt" oder "Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt", sie sind wichtiger als die Frage, warum Beethoven welche Strophen weggelassen oder umgestellt hat. Das Gedicht ist politisch als Aufforderung zur Freude als Medizin gerade in Zeiten von Krieg, Chaos und Gewalt. Diese Sinfonie ist politisch schon im Sinne der Musikgeschichte, weil sie das Genre der Instrumentalmusik an ihre Grenzen bringt und sie (durch die erstmalige Aufnahme von Text) überschreitet.

Musikalisch ist diese Sinfonie ebenfalls politisch im Sinne von innovativ: die schlichte Melodie des Kernthemas, die wirklich jeder kennt und mitsingen kann, fängt an mit einem Chaos der Töne, das an die Geschichte der Schöpfung selbst erinnert. Es mündet im ersten Satz in einen Trauermarsch, es gibt einen lustigen Janitscharenmarsch, eine Doppelfuge im Orchester und eine weitere später im Chor. Das Thema wird auf wirklich jede erdenkliche Art in hohem Tempo durchgespielt, aber nicht zu Tode geritten, verkleinert und wieder vergrößert, beschleunigt und gebremst mit Crescendi und plötzlichen Stopps. Der zweite Satz ist ein sehr schnelles Scherzo, der dritte ein langsames Adagio. Der vierte Akt schließlich ist eine furiose Steigerung des Bisherigen bis hin zu einer Extase der Freude, die sogar den Applaus des Publikums einzubeziehen scheint.

Der Chor hat dabei eine besondere Rolle, die er mit schier unglaublicher Textverständlichkeit und Intonationssicherheit bewältigte. Nicht zu unterschätzen dabei: diese Leistung muss ohne Aufwärmübungen oder Einsingen nach fast einer Stunde Stillsitzen erbracht werden - und im Fall der Liederhalle auch über große Entfernung von der Chor-Empore (ich schätze fast 30 Meter bis zur ersten Sitzreihe). Ungewöhnlich angenehm und sicher der Bassbariton Tareq Nazmi (geboren in Kuwait, seit ewigen Zeiten bei der Münchner Staatsoper), routiniert die vielseitige Sopranistin Christine Landshammer. Mit leichten Schwächen der Tenor Kenneth Tarver (USA). 

Eine Entdeckung für mich war - auch ganz im Sinne des programmatischen Kosmopolitismus an diesem Abend - die Mezzosopranistin Lena Balkina. Die dunkelhaarige Schönheit, 1987 in Taschkent (Usbekistan) geboren und zwei Jahre später mit ihren Eltern auf die Krim ausgereist, hat in Kiew studiert und bildet als Ukrainerin mit langjährigem Aufenthalt in Leipzig und Wien das kosmopolitische Sahnehäubchen dieses kosmopolitischen Abends. Sie hat eine dieser "schönen, dunklen, weiblichen Stimmen, geheimnisvoll und sinnlich", die laut Sandro Cappeletto von La Stampa schon Rossini verzaubert haben.

 

Mittwoch, 17. August 2022

Ein vergleichender Kognitionsforscher stellt fest: Intelligenzbestien überall

Ein Kea (Neuseeland)
Ludwig Huber: Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche. 670 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 354,00 €, Suhrkamp Verlag 2021

Um des gleich zu sagen: Wir Menschen haben weder Intelligenz noch Moral gepachtet. Dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind, hat sich schon länger herumgesprochen. Aber erst Ludwig Huber von der Veterinärmedizinischen Universität Wien macht deutlich, dass man Intelligenzbestien im Tierreich an Land ebenso findet wie in der Luft oder unter Wasser. Sein Buch begründet sozusagen einen neuen, interdisziplinären Zweig der Naturwissenschaft, der Philosophie und Psychologie, Biologie und Verhaltensforschung umfasst. Als Gründer und Leiter des Messerli-Forschungsinstituts für Mensch-Tier-Beziehungen an der erwähnten Universität hat er sich der Erforschung sowohl der kognitiven als auch der emotionalen Fähigkeiten von Tieren verschrieben. So gesehen ist der Titel des vorliegenden Werkes von geradezu britischem Understatement geprägt. Huber tritt damit in die großen Fußstapfen von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Hatte der große Verhaltensforscher Lorenz eindrucksvoll Bindungen zwischen Tieren und Menschen beschrieben und demonstriert (legendär wurden seine Graugänse, bei denen er erfolgreich die Mutterrolle übernahm), so übertrug sein Schüler Eibl-Eibesfeldt dessen Erkenntnisse in die menschliche Verhaltenspsychologie und definierte universale kulturelle Konstanten der Wahrnehmung und der Ethik, die er in der Evolutionsbiologie verankerte. Eibls Expeditionen zu den Galapasgosinseln und seine eindrucksvollen Tierfilme, die er gemeinsam mit dem Meeresforscher und Zoologen Hans Hass drehte, zeigen ihn auch als Medienprofi und Schriftsteller. Huber geht mit seinen 58 Jahren so viel weiter, dass einem angesichts des angesammelten, systematisch strukturierten und ausgebreiteten Wissens  schwindelig werden kann.

Auf die Frage, ob man Tieren Geist zuschreiben könne, antwortet er eindeutig: "Ja, Tiere haben unzweifelhaft mentale Fähigkeiten, die über rigide, instinktgebundene Handlungskontrolle hinausgehen und damit flexibles Verhalten und vor allem das Lösen von neuartigen Problemen ermöglichen." Sprache und Bewusstsein, besonders von Philosophen, Anthropologen und Linguisten als Alleinstellungsmerkmale des Menschen herausgestellt, die ihn einzigartig machen. Huber zweifelt das an keiner Stelle an, weist aber nach, dass sich die einzigartigen Fähigkeiten des Menschen auf eine breite Palette biologischer Mechanismen stützt, die wir mit anderen Tieren teilen, die ebenfalls kommunizieren und Wissen wie auch Emotionen mitteilen. Er plädiert daher für eine abgestufte Sicht der Dinge. Menschenähnliche  Leistungen sind ja nicht nur bei Menschenaffen wie Schimpansen zu beobachten, sondern auch bei bestimmten Papageien und Rabenvögeln, ja sogar Fischen, Reptilien, Fröschen, Bienen und Tintenfischen. Sicher ist die menschliche Kultur nicht zuletzt in ihrer Vielfalt einzigartig, doch man sollte das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Obwohl die Gehirngröße eine gewisse Aussagekraft bezüglich der Intelligenz hat, ist doch die Struktur, der Aufbau des Gehirns und die Art der Verschaltung zwischen den Neuronen von großer Bedeutung. So kommen Keas oder manche Krähenarten mindestens so schlau weg wie Schimpansen. In der Spitzengruppe liegen auch Kraken, Wale und Delfine. 

Eine breite Öffentlichkeit begeisterte zudem der Bordercollie, der mit seinem enormen Gedächtnis und einer unglaublichen Gabe fürs Lernen von Wörtern vor einigen Jahren in der ZDF-Sendung "Wetten, dass..." mit Thomas Gottschalk. Ein Nebenraum war mit Hunderten von Plüschtieren gefüllt, und der Hund lief auf Zuruf "Bring..." los und holte etwa "Micky Maus". Zum Schluss löste ein kreativ eine richtige Denksportaufgabe: Die Tiertrainerin schickte ihn los, um ein neues Plüschtier zu holen, das er noch nie gesehen hatte. Er lief los, blieb eine Weile weg und brachte dann das richtige Tier. Es war das einzige, das er nicht kannte, und das hatte er im Ausschlussverfahren identifiziert. Das war schon beeindruckend, zumal Hunde sonst nicht für überragende Intelligenzleistungen aufgefallen sind.

Tiere gebrauchen Werkzeuge und stellen sie her, verstehen logische Zusammenhänge beim Verstecken von Futter und Stehlen, beim Austricksen körperlich überlegener Konkurrenten oder menschlicher Zoowärter. Jeder, der ein Haustier hat, kann ein Lied davon singen. Je verspielter, desto mehr sind Hindernisse auf dem Weg zum Leckerbissen nur eine kreative Herausforderung. Tiere können wir wir planen (etwa wie man Vorräte anlegt), sie haben ein Gedächtnis und können in gewissen Weise "Gedanken lesen", d.h. sich in ein Gegenüber hineinversetzen und dessen Handlungen voraussehen. Sie nutzen eine Vielzahl von "Sprachen", von Warnrufen angefangen bis hin zu komplizierten Balz-Choreographien oder dem "Schwänzeltanz" der Honigbienen, die den Kolleginnen genau mitteilen, wo sie eine neue oder besonders ergiebige Futterquelle entdeckt haben.

Ein Wermutstropfen bei dieser lehrreichen Lektüre ist für meinen Geschmack ein Übermaß an Metastudien. Ich muss nicht die Entwicklung jeder Etappe der Forschung durch jede Schule von Lehrmeinungen in allen beteiligten Disziplinen ausführlich im Für und Wider diskutieren (auch wenn sie inzwischen überholt bzw. widerlegt sind). Da wäre es eine Hilfe gewesen, bei jedem der neun Schwerpunktkapitel eine kurze Zusammenfassung zu haben. Das Buch ist schon so dick geworden, da hätte das wohl kaum geschadet, aber der Lesbarkeit einen einen großen Dienst erwiesen.

Huber beendet seine faszinierende Reise durch die Kognitionsforschung mit einem wirklich übersichtlichen Resümee in 7 Punkten und einer Plädoyer für mehr Verantwortung gegenüber Tieren. Er will nicht nur zeigen, was wir heute üben den Geist von Tieren wissen und wie die Forscher das herausgefunden haben, sondern auch, wozu das gut ist: "Um sie zu retten, müssen wir uns kümmern und kümmern können wir uns nur, wenn wir sie verstehen", sagt er über die oft irrationale und ethisch fragwürdige Einstellung gegenüber Tieren. Beim Italiener muss man ja nicht immer Tintenfisch essen, es gibt auch sehr leckere Pasta-Gerichte. Rühren kann uns auch, was Huber über seine Schweine-Versuchsfarm schreibt: Hausschweine gibt es indessen ja schon häufiger. Wer eins hat, weiß, wie schlau und reinlich die netten Kerlchen sind. Mäuse und Ratten ebenfalls. Das Buch ist also weit mehr als nur eine manchmal etwas mühsame Fleißlektüre zur Befriedigung der Neugier. Ihn treibt auch ein moralischer Imperativ besonders bei Tieren, die wir essen oder bei Tierversuchen einsetzen. Damit ist Huber nicht nur auf der Höhe der Zeit, er sagt Grundsätzliches. Sein Buch dürfte ein Klassiker seiner noch jungen Wissenschaft werden.
 

 

 

Freitag, 12. August 2022

Peter Frömmig: Sedimente der Zeit. Essays und Erzählungen. Reihe Fragmentarium Bd. 25, 361 Seiten, ISBN 978-3-86356-344-8, €[D]21,00

 "Ich bevorzuge Brücken, über die man ohne Beeinträchtigung gehen kann, die auch zum Verweilen einladen. Solche Brücken können ein Gefühl von Leichtigkeit vermitteln und Inspiration hervorrufen. Luftig über dem Wasser, das kraftvoll strömt oder gemächlich dahin fließt, dabei einen festen Halt haben, aufs Geländer gelehnt und die Gedanken dem Fließen überlassen". So schreibt Peter Frömmig zu Beginn seiner "Reflexionen über Brücken", die den Erzählband eröffnen. Wäre er Ingenieur geworden, so der Autor, hätte er sich wohl am liebsten dem Bau von Brücken gewidmet. Und dann erzählt er exemplarisch von der Brücke, die in Tübingen über den Neckar und den Hölderlinturm in die Altstadt führt, der Brücke über die Mulde nahe seiner Geburtsstadt Eilenburg bei Leipzig oder die große Rheinbrücke bei Speyer, deren Einweihung er 1956 als Kind erlebte.

Nicht erzählt er von den Salzburger Brücken über den reißenden Gebirgsfluss Salzach. Über den Mozartsteg, der mit seinen Holzbohlen und seiner luftigen, eleganten Tragekonstruktion ganz seinem Ideal entspricht, sind wir in unserer Jugend beide viele hundert Male hin und her gelaufen zwischen der verwinkelten touristischen Altstadt mit den Stätten der Salzburger Festpiele, dem Dom, dem Café Tomaselli, der Getreidegasse und der alten Universität, wo früher ein Gymnasium war. Thomas Bernhard, Peter Handke und später auch ich teilen schmerzhafte Erinnerungen daran. Peter lief aus der Altstadt über den Mozartsteg wohl oft in die Steingasse am anderen Ufer, wo er einige Jahre lang wohnte. Sie schmiegt sich eng an den Felshang des Mönchsberges und endet hinter dem Hotel Stein, in dem Carl Amery sich das Leben nahm, unweit der Staatsbrücke, über die der Autoverkehr rauscht und über die man aus der Altstadt zum Mozarteum und zu Peters Lieblingscafé Bazar gelangt. Für mich war der Mozartsteg Teil des Schulwegs. Doch Peters Brückenmetapher hat mich in den Strudel eigener Erinnerungen gerissen. Von den unterschiedlichen und gemeinsamen Erinnerungen haben wir 2001/2002 in dem dialogischen Hörbild "Zwischen Getreide- und Steingasse. Salzburg in der Erinnerung" erzählt.

Die "Sedimente" sind nach Art eines Tryptichons aufgebaut: Ein stark autobiografischer Mittelteil "Weg ins Offene", der Etappen von Frömmigs künstlerischen und schriftstellerischen Werdegangs präsentiert, ist eingebettet in seine sehr eigene Bücherwelt. Da umgibt er sich mit allen Autoren, die ihm zeitlebens wichtig waren und sind: Christoph Meckel, Nicolas Born, Peter Handke, Hermann Lenz, Robert Walser und C.H. Artmann, auf dessen Spuren wir in Salzburg gemeinsam unterwegs waren, sind nur die wichtigsten. Sie wurden zu seinen Vorbildern und teils auch seinen persönlichen Mentoren. Der erste Teil bzw. linke Flügel des Tryptichons heißt "Vor und zurück". Er beschreibt die geografischen und intellektuellen Suchbewegungen eines jungen Menschen, der seine Identität und Bestimmung noch nicht gefunden hat. Der dritte Teil oder rechte Flügel mit dem Titel "Vertraute der Schrift" enthält viele neue Texte, die in früheren Publikationen noch fehlen. Es sind in der Hauptsache Porträts von Schriftstellern mit Würdigungen ihrer Werke. Die Auseinandersetzung damit ist nicht theoretisch wie bei vielen Kritikern, sondern praktisch und handwerklich, aus der Sicht des Schreibenden. So gesehen ist das vorliegende Buch weit mehr als ein erzählender Sammelband. Es ist das Buch eines Künstler- und Dichterlebens.

Peter Frömmig, 1946 in Eilenburg bei Leipzig geboren, lebt und arbeitet als Schriftsteller und bildender Künstler in Marbach am Neckar. Schreibt Erzählungen, Essays, Kurzprosa und Gedichte. Zuletzt erschienen u.a. die Bände Im Lichtwechsel. Vier Geschichten zwischen Tag und Nacht (2002), Anderswo. Novelle aus diesen Tagen (2005), Der Strand gehört dem Strandgut. Gedichte und Lieder (2007), Auf langen Wegen in kleiner Stadt, Essay (2010), Am Leben sein. Gedichte und Collagen (2012) sowie Das Rumoren am Rande der Ereignisse. Erkundungen auf Nebenschauplätzen. Prosa-Miniaturen und kurze Geschichten. 2014.

Lieferbare Titel von Peter Frömmig

– „Das Rumoren am Rande der Ereignisse. Erkundungen auf Nebenschauplätzen. Prosa-Miniaturen und kurze Geschichten. Mit einem Nachwort von Rainer Wochele. edition monrepos Band 5.ISBN 978-3-86356-066-9142 Seiten, €[D14,50

– „Das Haus, in dem die Wörter wohnen.“ Gedichte und Bilder für Kinder und Erwachsene. edition monrepos Band 13. 144 Seiten, ISBN 978-3-86356-143-7, €[D15,50

– „Die Wörter gehen ein und aus„. Gedichte und Bilder. Kids Samlung Bd. 3, 45 Seiten, ISBN 978-3-86356-245-8, €[D]9,90

 

Donnerstag, 4. August 2022

Und wieder die Abgründe der Geschichte: Spionage im Dienst der Aufklärung

Martin von Arndt: Autor, Musiker
Martin von Arndt: "Wie wir töten, wie wir sterben": Roman, Verlag ars vivendi, 296 Seiten, 19 €

Er hat es wieder getan: einen genialen Mix aus skandalöser Enthüllungsstory und Politthriller geschrieben, dieser Martin von Arndt. Ein Fahrradfahrer, Punkmusiker und Romancier aus Leidenschaft. Sein Name klingt wie von altem Adel, sehr deutsch, führt aber in die Irre. 1968 wurde dieser freundlich lächelnde Mann als Sohn ungarischer Eltern geboren, die vor den Kommunisten über den eisernen Vorhang getürmt waren. Und weil Spionage wohl auch in der Verwandtschaft vorkam, sollte der Name ein wenig Schutz bieten und ein unbelastetes Leben im freien Westen ermöglichen. Das Ergebnis ist eine Existenz zwischen Essen und Stuttgart, Literatur und Musik. Aber immer im Clinch mit den großen historischen Traumata der Deutschen und ihrer Opfer. Die Folgen des Ersten und Zweiten Weltkrieges für Europa und die Welt haben es von Arndt angetan. Seine Antihelden waren immer (und sind noch heute) "freie" Ermittler und Ex-Polizisten oder Geheimdienstler, gezeichnet von den Schrecken des Krieges, und sie jagen die Profiteure des Schreckens. 

Diesmal ist es vor allem der abgehalfterte US-Agent und Preisboxer Dan Vanuzzi. 1961 wird er in Bonn vom französischen Auslandsgeheimdienst angeheuert, weil der sich in Deutschland nicht so frei bewegen kann, weil er unter Beobachtung durch die Siegermächte steht. Vanuzzi soll zwei Mitglieder der algerischen Befreiungsarmee finden und den Franzosen ausliefern, die ihnen Verbrechen im seit sieben Jahren tobenden Algerienkrieg vorwerfen. Um die beiden aufzuspüren, muss Vanuzzi seine ganze Erfahrung aus 20 Jahren Agentendienst einsetzen. Doch schnell wird klar, dass er nur die Drecksarbeit für zwielichtige Figuren machen soll. Niemand ist der, der er zu sein scheint. Und niemand sagt ihm die Wahrheit. 

Daher kontaktiert Vanuzzi seinen alten Kampfgefährten Rosenberg vom Mossad, der als Nazijäger in der BRD hinter dem ehemaligen KZ-Kommandanten Arthur Florstedt her ist, den er nach Israel entführen soll. Die beiden helfen sich gegenseitig, vor allem bei Beschattungen. Florstedt ist bestens vernetzt im politischen Bundesdorf und geht im Kanzleramt ein und aus. Doch auch beim Mossad regieren Kameradenschweinerei und Verrat. Weshalb sich Rosenberg am Ende mit sämtlichen Unterlagen in die US-Botschaft flüchtet und um Asyl bittet. Vanuzzi dagegen erkennt, dass seine französischen Auftraggeber die eigentlichen Kriegsverbrecher sind, koloniale Motive haben und gern Zeugen ihrer eigenen Verbrechen beseitigen wollen.

Martin von Arndt bringt hervorragende Ortskenntnisse aus der Region zwischen Bonn und Essen mit, recherchiert wieder einmal brilliant und hat ein famoses Gespür für die Feinheiten des geheimdienstlichen Versteckspiels. Da er Sportbox-Amateur ist, sind auch seine fachlichen Beobachtungen bei Vanuzzis Boxkämpfen vom Feinsten. Passt alles. Man muss nur höllisch aufpassen, dass man die vielen ineinander verwebten Handlungsfäden aus französischer Kolonialgeschichte und Holocaust nicht durcheinanderbringt.

 

 

 

Donnerstag, 28. Juli 2022

Literatur aus einer untergegengenen Welt

Eginald Schlattner: Schattenspiele toter Mädchen. Roman. Pop Verlag, Ludwigsburg, 401 Seiten, 29 €

Zwei Brüder fahren mit dem Rad von einem Dorf ins andere, um fünf Mädchen und ihre musikalische Mutter zu besuchen. Das heißt, korrigiert der Erzähler sich selbst rasch: "Für mich nur eine: Agathe". Und schon ist er ins Erzählen geraten von Land und Leuten, die es so nicht mehr gibt: den rumänischen, teils rumäniendeutschen Dörfern zwischen dem Fluss Aluta und den Südkarpaten, deren Bewohner fromme, arme Leute waren, ehemals leibeigene Bauern, die auf dem steinigen Ackerboden ums tägliche Brot kämpften, christianisiert von von orthoxen Mönchen. Die Buben sind anscheinend familiär philosophisch vorbelastet: "Der kleine Bruder hinter mir fragte: "Warum kräht der Hahn, der keine Krähe ist, und warum krähen die Krähen nicht, die Krähen sind?" 

Seit Jahrhunderten immer gleiche Rituale, Feste, Unsitten und Sprüche, seit Jahrhunderten die immer gleichen Sorgen, Nöte, Freuden und Abhängigkeiten. Die Geschichte springt hin und her zwischen Vergangenheit Gegenwart. Zu einem Fest des Gemeinde-Schutzheiligen, bei dem es nach Mitternacht Damenwahl gab und auch der Pfarrer aufgefordert wurde. Eine Szene, die typisch ist für Schlatters Art, zu erzählen:

"Als mir das zum ersten Mal geschah, zögerte ich (warum eigentlich, als evangelischer Pfarrer?). Ein Kirchenvater mahnte besorgt: Sagt eilends Ja, Herr Pfarrer!" Inzwischen besteht die Kirchenhemeinde aus zwei alten Leuten: eine Frau gleich alt, achtundachzig, und mir. Wie jemand befand: zwischen achzig und scheintot. Die Geschichte hat uns aufgegeben." Sicher nicht die Literaturgeschichte. Denn in Schlattners Büchern finden sich die wichtigen kleinen Geschichten, die sonst zwischen den Zeilen untergehen.

Der Roman ist, so der Autor, ein Gedächtnisroman im Gegensatz zum Erinnerungsroman. So versucht er begrifflich zu differenzieren und uns zu erklären, warum die Omnipräsenz seiner Autobiographie, die sich einerseits oft wiederholt, andererseits in wechselnden Kontexten neu klingt. "Was ist ersonnen, was Tatsache in dem Text? Wann und wo decken sich Erdichtetes und Erinnerung? ... Ich meine, dass es in jeder Geschichte einen Angelpunkt geben muss, wo sich erinnerte Wahrheit und wahre Geschichte in den Armen liegen". Zu lesen ist eine mehrfach gebrochene, aber niemals zerbrochene Dichter-Biographie. Eginald Schlattner wurde 1933 in Arad geboren (Rumänien). Seit 1991 arbeitet er als Gefängnisseelsorger für unterschiedliche Bekenntnisse in verschiednen Haftanstalten. in der Zeit um 1950 wurde er als Student u.a. wegen "unsittlichen Lebenwandels" verurteilt (in Wahrheit eine Intrige der Securitate) und musste nach seiner Entlassung erst in einer Ziegelbrennerei, dann auf einer Staatsfarm und beim Eisenbahnbau arbeiten, bevor er 1969 das Studium der Hydrologie abschließen durfte. 1973 gab er das Ingenieurwesen auf und studierte Theologie. Nach dem Ende der Diktatur erschienen die Romane "Der geköpfte Hahn", "Rote Handschuhe" und "Das Klavier im Nebel" beim Wiener Zsolnay Verlag. "Rote Handschuhe" thematisiert seine zweijährige Isolationshaft bei der Securitate in Kronstadt (Brasov, damals Stalinstadt). Die Bände "Wasserzeichen", "Gott weiß mich hier" und "Drachenköpfe" (2021) erschienen im Pop Verlag Ludigsburg. Der Autor lebt bis heute als Pfarrer auf dem evangelischen Pfarrhof in Rothberg (Rosia, Siebenbürgen).

Schlattners Bücher sind voller Austriacismen und Ausdrücke aus der KuK-Monarchie (fesch, stiebitzen, Tschinakel für Ruderboot, ein  Huhn "krageln", also ihm den Hals umdrehen u.v.a.). Ein echter Till Eulenspiegel ist dieser Autor, der mit "Schattenspiele Toter Mädchen " wirkt wie ein irgendwie aus der Zeit gefallener Don Juan ohne je ordinär zu werden, in einer zurückhaltenden und doch deutlichen Sprache. Das Buch ist eine Erinnerungsparade an seine zahlreichen Liebschaften zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Verhältnissen. In seiner Jugend stammte der österreichische Hohenzollernkönig aus Preußen. Er lieferte Rumänien gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mit seiner Kapitulation, als er die Seiten wechselte, der Roten Armee aus. Verhältnisse und Zeiten, sie sind untergegangenen wie die Menschen, die darin gelebt haben. Oftmals erst durch eine Todesanzeige wurde dem Autor klar, dass er zu den letzten Überlebenden der deutschen Volksgruppe in Rumänien gehört. Er setzt den Frauen in seinem Leben und all den verflossenen Liebschaften ein Denkmal, aber auch dem Alltagsrassismus der Kampfspiele zwischen jüdischen oder Sinti-Rumänen und Hitlerjugend, und der Freundschaft quer durch die Glaubensbekenntnisse und Ethnien in Rumänien. 

Er schreibt auf Deutsch, weigert sich aber auszuwandern wie die überwiegende Mehrzahl seiner Volksgruppe. Außerdem gibt es die rumänische Mehrheit, eine ungarische Minderheit, viele Sinti und chassidische Juden, die teils jiddisch sprechen (zumindest damals). Das Land der Kirchenburgen aus der Zeit der Tartarenkriege war und ist eine Art balkanischer Schweiz mit extremer Kulturdichte, in der das Deutsche ausstirbt.

Dem Pfarrer Schlattner kam die Gemeinde abhanden, aber er blieb und schrieb und schrieb. Mehrsprachig (Ungarisch, Rumänisch, Jiddisch, Deutsch und Lateinisch) - das ist in bescheidenen Grenzen nachlesbar in diesem seltsam-seltenen Roman aus vergangenen Zeiten. Rilke-Verse und NS-Marschlieder, das mischt sich bruchlos. Wie sagte der Kinderarzt zu Eginald zum überstürzten Abschied: "Dein Vater glaubt nicht an den Endsieg. Und Deine Mutter singt jüdische Schlager beim Tschinakelfahren". Das kann man wenigstens glauben. Kaum glauben kann man die Histörchen vom großen Aluta-Hochwasser in Fogarasch, als im Park der Kirchenburg ein Fuchs und ein Hase sich auf ein- und denselben Ast eines Baumes gerettet hatten. Tja, aber ausgerechnet das hat die halbe Stadt gesehen. 

Eine der Frauen, die es Eginald angetan hatten, war Gittli aus dem Roman "Der Klosterjäger" von Ludwig Ganghofer. Erfunden zwar, doch Inhaberin eines Schlüssels vielleicht zu Eginalds Suche (Sucht?) nach den Frauen. Gittlis Liebhaber ist der Jäger Haymo: "Er küsste sie - wieder und wieder - und schien dabei doch endlich die Überzeugung zu gewinnen, dass er völlig wach wäre." Manche sind ausgewandert und als Besuch zurückgekommen, andere sind gestorben. Die Frauen dienen jedoch als Gesamtheit der Selbstvergewisserung. Sie sind Anker für die wahrhaftig reichen Erinnerungen des Autors. Sie sind ihm Beweis dafür, dass er noch lebt und dass dieses Leben nicht nur einen Sinn hat, sondern auch schön ist - zuweilen ausnehmend schön.


Sonntag, 26. Juni 2022

Kein Boykott: Ein Russisch-ukrainisches Konzert des SWR-Symphonieorchesters Stuttgart

Dima Slobodeniouk (mit Bart) und Vadym Kholodenko
Der russische Dirigent Dima Slobodeniouk wurde in Moskau geboren und erhielt seine musikalische Ausbildung auch in Finnland. Seit 213 ist er Chefdirigent des Orquestra Sinfónica de Galicia, seit 2016 auch Erster Dirigent des Lahti Symphony Orhestra und künstlerischer Leiter des Sibelius Festivals. Als Gastdirigent ein begehrter Mann, weil er zwei musikalische Traditionen aus Ost und West vereint. Sein Konzert mit dem ukrainischen Pianisten Vadym Kholodenko, in dieser Saison Artist in Residence beim SWR Symphonie Orchester in Stuttgart, am 23. und 24. Juni war wohltuend normal. 

Das Abonnementkonzert war lange geplant. Doch nun fiel es in eine Zeit der Absagen und Boykotte wegen des brutalen kriegerischen Überfalls von Wladimir Putin auf die Ukraine und in der Folge wütender Versuche nationalistischer Politiker in Kiew, Einfluss auf die Kultur zu nehmen: Programme und Veranstaltungen, bei denen russische und ukrainische Künstler zusammen auftreten, wurden reihenweise zur Zielscheibe einer Art von Zensur, die auch Komponisten und Autoren einsschließt, die schon lange tot sind. Der SWR und sein Orchester widersetzen sich dieser Auffassung, nach der manche Buchhändler russische Klassiker wie Dostojewski und Tschechow aus dem Programm nahmen und Konzertveranstalter massenhaft Engagements russischer Interpreten aufkündigten. Kunst darf niemals Geisel der Politik sein. Was vor dem Krieg selbstverständlich war, muss es bleiben. 

Folglich wurde das Programm nicht geändert. Es begann mit der "Rhapsodie über ein Thema von Paganini" von Sergej Rachmaninow (1873 - 1943). Die Virtuosität dieser Komposition lässt schon der Titel ahnen, denn Paganini war der "Teufelsgeiger" und Rachmaninow wollte ihn vermutlich noch übertreffen. Der technisch brilliante und einfühlsame Solist (geboren 1986 in Kiew) interpretierte dieses furiose Werk mit seinen schnellen Läufen in hinreißender Sicherheit und scheinbarer Leichtigkeit. Schon wie er mit dem Orchester in musikalischen Dialog trat, war ein Ohrenschmaus.

Nach der Pause dirigierte Dima Slobodaniuk eine Auswahl aus den Ballettsuiten Nr. 1 und 2 zu "Cinderella" von Sergej Prokofjkew (1891 - 1953). Das Märchen "Aschenputtel" ist bei uns durch die Brüder Grimm bekannt, doch schon im 9. Jahrhundert nach Christus tauchte die erste Variante der Geschichte in China auf. Prokofjew befreit seine Märchenfigur von allzu märchenhaften Zügen und macht ein junges Mädchen aus Fleisch und Blut daraus. Unter dem russischen Namen "Soluschka" kam die sowjetische Version 1950 zu Walt Disney und inspirierte ihn zu seinem berühmten Zeichentrickfilm "Cinderella". Das Orchester agierte mit gewohnter Souveränität und ließ vergessen, dass die Welt der Klassischen Musik schon immer international, bunt, groß und vielseitig miteinander verwoben war. Es wirkte aber alles wie gerade eben völlig neu entdeckt. Der Applaus war anhaltend und dankbar.

Dienstag, 21. Juni 2022

Ein gutes Buch, das 30 Jahre zu spät kommt

"Ostkontakt" ist eine für viele Leser immer noch aktuelle Analyse ostdeutscher Prägungen mit dem schönen Untertitel "Ein deutsch-deutsches Date", ein Essay mit Interviews aus dem Mairisch Verlag, (152 Seiten, 12 €. Die Autorin ist Dagrun Hintze, 1971 in Lübeck geboren, führt ihre Arbeit als Regisseurin und Dramatikerin häufig in ostdeutsche Theater. Als Kind betrachtete sie mit einem Fernglas die "Zone" am anderen  Ufer und fragte sich, ob dort Menschenfresser hausten. Heute hat sie einen Zweitwohnsitz im ehemaligen DDR-Sperrgebiet. Sie befragte zum Jubiläum 30 Jahre deutsche Einheit für das Theaterprojekt "rübermachen" Teilnehmer aus West und vor allem Ost dazu, wie es ihnen nach dem Mauerfall ergangen ist. Schnell war klar: Wir müssen reden. Noch 30 Jahre danach wissen die Menschen in Ost und West herzlich wenig voneinander. Das Buch ist eine Einladung zu einer Gemeinsamkeit, die es bis heute nur in Einzelfällen gibt. Traumata und negative Erfhrungen werden meistens nicht geteilt, geschweige denn verarbeitet. Dabei wären sie das Herzstück interkultureller Dialogarbeit. Doch ein Gespräch auf Augenhöhe wird selten gewollt, auch im Westen nicht. "Ich kann mich nicht erinnern, dass mir irgend ein Erwachsener jemals erklärt hätte, was es mit der deutschen Teilung auf sich hatte", erinnert sie sich an ihre Kindheit. Umgekehrt war es, als klebe ihr ein Schild "Westschnepfe" auf der Stirn. Ein Freund aus Dresden gestand ihr, bei der ersten Begegnung habe er gedacht, "Noch so eine von diesen professionellen Westschnepfen". Kein Wunder, dass diese Frau für einen respektvollen und sensiblen Umgang miteinander plädiert.

In schöner Offenheit schreibt sie gleich zu Beginn: "Von mir wollte noch kein Ostdeutscher und keine Ostdeutsche wissen, welche Vorstellungen ich von der DDR hatte, was Mauerfall und Wiedervereinigung in meinem Leben für eine Rolle gespielt haben und wie ich Ostdeutschland heute wahrnehme". Es gab viele guter Dinge in der DDR: Sichere, wenn auch oft beschissene Abeitsplätze, Kinderkrippen für berufstätige Frauen, ausreichend sozialen Wohnungsbau, die Poliklinik, eine professionelle Autorenausbildung am Leipziger Johannes-R.-Becher-Institut, Kultur in den Betrieben, eine großartige Versorgung für Kulturschaffende, sofern sie nicht in offener Opposition waren, phantastische Autorenhonorare. Aber das wenigste davon wurde gewürdigt, (wie überhaupt die Lebensleistung der Menschen), nichts wurde übernommen, das meiste erst mal geschlossen. Stattdessen kamen Autobahnen, schön sanierte historische Innenstädte, aber auch Massenarbeitslosigkeit, die Betrügereien der "Treuhand", viel Besserwisserei und Wirtschaftskriminalität. 

Das Gerede über "blühende Landschaften" erwies sich sehr bald als Gewäsch ohne solide Grundlage. Angesichts von Strukturbrüchen und Millionen zerstörter Existenzen war das "Überstülpen" westlicher Gesetze und Standards auf allen Ebenen vom Berufsabschluss und der Kita-Struktur bis hin zu Kirchen und dem Inhalt der meisten Supermarktregale. Wortbruch und Vertragsbruch hatten Hochkonjunktur, ein beherrschendes Gefühl der vom neoliberalen Turbokapitalismus Beherrschten, davor von der SED Gedemütigten, den inzwischen professionell Unselbständigen. Die, denen ihre Freiheit nichts wert war, weil sie den Preis dafür nicht bezahlt hatten. Die Spaltung der Gesellschaft geht tief und reicht lange zurück, weiter als bis Hoyerswerda und Lichtenhagen. Die Nazis sind im Westen verboten und bekämpft worden, im Osten haben sie als Parteimitglieder überlebt, als Pegina-Marschierer, als russland-affine Putinversteher. Ob das die oft geradezu demonstrative Ablehnung alles Schönen und Guten - von gutem oder auch nur gesundem Essen bis hin zu einer geradezu ideologischen Fixierung auf eine prollige Billig-Einkaufsphilosophie (egal, was da drin ist) rechtfertigt, kann jeder für sich selbst beurteilen. Ich finde so etwas nur einfach provinziell, altbacken und manchmal auch rückständig. Ich mag es, wenn jemand gut und gerne kocht, tolle selbst gemachte Marmelade verschenkt und seine Sachen in Ordnung hält - einfach, weil ich gutes Handwerk (und generell gute Arbeit) zu schätzen weiß. Dem verdankt auch Dagrun Hintze so manches schockierende Aha-Erlebnis.

Einen kapitalen Bock hat Dagrun Hintze aber doch geschossen, das muss bei allem Lob gesagt werden. Es ist nicht der billige Broschur-Einband mit der fantasielosen Abbildung zweier Gartenstühle aus Plastik Ost und West. Es ist die Unterstellung, in Deutschland könne niemand mehr sagen, er habe die Wiedergeburt des Rechtsextremismus aus der sozialen Kältekammer Ost nicht kommen sehen, wenn er das Buch 89/90" von Peter Richter gelesen habe. Niemand, den ich kenne, hat das gelesen. Ich habe keine Ahnung, wer Peter Richter war oder ist, vermutlich ein kluger Mann. Doch es macht mich einfach stutzig, dass ich seinen Namen nicht kenne, obwohl ich mich seit mehr als 40 Jahren mit dem Thema beschäftige. Ich würde gerne noch erfahren, wer das war oder ist. In diesem klugen Buch erfahre ich es leider auch wieder nicht. Schade. Inzwischen habe ich ihn gegoogelt. Er ist Kritiker, Autor Kulturkorrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Berlin, aufgefallen ist er mir aber trotzdem nicht. Das ist der Schicksal der Blasenbewohner. Ich lese eben andere Zeitungen.
 

 

 

 

Sonntag, 1. Mai 2022

Eröffnung der Ludwigsburger Schlossfestspiele: Geändertes Programm - Streithähne raus

Iddo Bar-Shaï
Foto: Danny Jacobs


"No More War" als neues Motto - Trauer um Opfer

5. Mai, 20 Uhr im Forum am Schlosspark, Ludwigsburg

Die Dirigentin Oksana Lyniv und Intendant Jochen Sandig haben das Programm für das Eröffnungskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele im Forum am Schlosspark geändert. Statt der Sinfonie N. 6 (Pathètique) von Tschaikowsky und der geplanten Uraufführung des zeitgenössischen Werks "Nova" von der ukrainischen Komponistin Victoria Poleva haben die ukrainische Dirigentin und Sandig Mozart und Gustav Mahler aufs Programm gesetzt, um Streit über den Ausschluss russischer oder ukrainischer Komponisten von Aufführungen zu vermeiden. Im ersten Teil des Konzertes spielen der Pianist Iddo Bar-Shaï aus Nazareth und das Orchester der Schlossfestspiele wie geplant Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur. Es folgt die Sinfonie Nr. 5 cis-Moll von Gustav Mahler, deren Trauermarsch am Anfang sich zu einem erlösenden Finale entwickelt und das Ausrufezeichen dieses Konzertes für den Frieden bildet. Es soll ein Stück Hoffnung auf Frieden sein. Der Krieg in der Ukraine stellt gerade auch den Kulturbetrieb verstärkt in den Fokus politischer Diskussionen und Handlungen. Ein »Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit« soll hierfür auch ein zentrales Forum bieten.Doch »Angesichts der akuten Tragödie, der brutalen Gewalt, in der wir unermesslich viele menschliche Opfer beklagen, haben wir die gemeinsame Entscheidung getroffen, das ursprünglich geplante Hauptwerk der 6. Sinfonie von Peter Tschaikowsky zu einem anderen Zeitpunkt aufzuführen, und wollen uns ganz bewusst auf eine andere Ebene begeben«, so Oksana Lyniv und Jochen Sandig. »Wir werden die 5. Sinfonie von Gustav Mahler aufführen. Dieses Meisterwerk vom Anfang des 20. Jahrhunderts trägt sowohl die Vorahnung von bevorstehenden Katastrophen, von Schmerz und Trauer, als auch eine tiefe Hoffnung auf Erlösung durch die geistige Weiterentwicklung unserer Gesellschaft auf der Grundlage humanistischer Werte in sich.«

Weiter erklärte Jochen Sandig: »Über die Frage, welche Werke in Zeiten des Krieges von wem aufgeführt werden können und ob kulturelle Sanktionen zielführend sind, habe ich als Intendant meine Zweifel. Einen pauschalen Bann sämtlicher Werke von Autor*innen russischer Herkunft, wie er aktuell unter anderem vom ukrainischen Kulturministerium und dem Ukrainischen Institut gefordert wird, halte ich persönlich nicht für den richtigen Weg. Gleichzeitig möchte ich einen Raum öffnen, in dem auch andere Positionen zu Wort kommen können, um dieses sensible Thema aus verschiedenen Perspektiven zu diskutieren. Daher werden die Ludwigsburger Schlossfestspiele gemeinsam mit der Staatsoper Stuttgart und weiteren Kulturinstitutionen noch in dieser Saison zu einer internationalen hybriden Konferenz für einen ergebnisoffenen Dialog einladen.«

Ein besonderes Anliegen der Schlossfestspiele ist es, zur »Fest Spiel Ouvertüre« und in alle Konzerte der diesjährigen Spielzeit ukrainische Geflüchtete einzuladen. Am Eröffnungswochenende ist außerdem das von Oksana Lyniv gegründete Youth Symphony Orchestra of Ukraine einen Tag später bei der Frei Luft Musik am Freitag, 6. Mai um 18 Uhr auf dem Ludwigsburger Marktplatz zu Gast. 

Karten für die Fest Spiel Ouvertüre sind ab 38 Euro (für Festspielgäste in Ausbildung zu 15 Euro) erhältlich: www.schlossfestspiele.de; Kartentelefon: (07141) 939 636; karten@schlossfestspiele.de

Das Eröffnungskonzert wird für ARTE Concert aufgezeichnet und zu einem späteren Zeitpunkt auf die Digitale Bühne der Schlossfestspiele gestreamt.

Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Die Schlossfestspiele danken ihren institutionellen Förderern – der Stadt Ludwigsburg und dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg.


Samstag, 30. April 2022

Putins Kulturkampf gegen die Wahrheit: Aus meinem Bücherregal

Ich finde es furchtbar ermüdend, immer wieder zu lesen, was alles nicht gelesen wurde - auch auf Facebook etwa. Dieses Buch erschien 1977! Und da steht alles drin, was auch Putin wissen müsste. Etwa dass er seine eigene Kultur nicht kennt bzw. kaum russische Autoren des 20. Jahrhunderts gelesen hat. Wer behauptet, dass wir das ächten würden, kann nur verrückt sein. Und wer so etwas bei uns oder in der Ukraine ächten will, weil Wladimir Putin Krieg gegen die Ukraine führt, hat keine Ahnung von Kultur. Putin ist kein Maßstab, sondern einfach nur ein hochgekommener Gangster und Ex Geheimdienst-Agent. Armes Russland! Und arme Nachbarländer, die er gern unterwerfen will! Der russische Präsident, sein orthodoxer Patriarch Kyrill und deren Entourage faseln, Russland befinde sich im Krieg mit den Nazis der Welt. Unter Nazis verstehen sie alles, was mit Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu tun hat. Nein, Putin führt als oberster Dienstherr aller Neonazis der Welt einen Kulturkampf gegen jede Kultur, die diesen Namen verdient. Und das geschieht mit einem Glaubenseifer, der schlimmer ist als der Fanatismus der Mullahs oder des IS. Er hat mit all seiner Macht des organisierten Verbrechens jeder Friedensordnung den Krieg erklärt. Er will absolut keinen Frieden, er ist ein bedingungsloser Prediger des Hasses, der Gewalt und der brutalstmöglichen Zerstörung geworden. Er behandelt Menschen wie Dreck, auch seine eigenen Soldaten und Oligarchen.
Lew Kopelew war ein russischer Ehrenmann und Offrizier in Zweiten Weltkrieg mit mehreren Auszeichnungen. Er setzte sich aber auch für Menschlichkeit und Versöhnung mit den Besiegten ein und protestierte beim Einmarsch in Polen und Deutschland gegen Verbrechen wie etwa Massenvergewaltigungen. Sein Bericht, der erst 1979 komplett auf Deutsch zu lesen war, trägt den Stempel "Aufbewahren für alle Zeit", wie üblich für die Akten des KGB zu Naziverhören und Kriegsverbrechen. Er ist ein erschütterndes Dokument über den damaligen (und leider noch heutigen!) inneren Zustand der russischen Armee. Ein Kriegsgericht verurteilte ihn wegen "Mitleid mit dem Feind". Im Gefängnis perfektionierte er sein Deutsch, las deutsche Literatur und schrieb über Heinrich Heine. Nicht in Russland erschienen seine Bücher, sondern in Deutschland. Er wurde ein Brückenbauer zwischen den Kulturen, den ich immer verehrt habe. Ihn hat Putin sicher nicht gemeint, als er behauptete, Deutschland und der Westen würden russische Literatur ächten, Tolstoi, Puschkin und Dostojewski verbannen. Musiker wie Peter Tschaikowski, Igor Strawinski und Dmitrij Schostakowitsch kann er ebenfalls nicht gemeint haben oder Dichter wie Alexander Scholschenyzin und Andrej Sinjawski oder Anna Achmatowa. Sie alle kennt Putin wohl nicht, sie würden sich im Grab umdrehen, aber das wäre dem Diktator völlig egal. Doch das sind russische Literatur und Musik, die uns geprägt haben und die auch dann überleben werden, wenn Putin die Welt anzündet.

Der russischer Präsident Wladimir Putin ist der erste Faschist, Massenmörder und Neonazi, der aus dem orgnisierten Verbrechen kommt und sich seiner bedient, um an der Macht zu bleiben. Dazu gehört leider auch, dass er über Atomwaffen verfügt und möglicherweise bereit ist, sie auch einzusetzen. Denn er fälscht und missbraucht die Geschichte und rechtfertigt sein Tun mit grotesken Lügen. Er scheint in seinem imperialen Größenwahn zu glauben, dass "eine Welt ohne Russland (d.h. ohne Putins Russland) nicht gebraucht" werde. Ich hatte immer gedacht, diese Art des erweiterten Suizids sei einem kalt kalkulierenden Zyniker, einem menschenverachtenden Machtpolitiker fremd. Doch ich bin mir da nicht mehr so sicher. Eine Hilfe gegen die Angst vor Krieg, Atomkrieg und Inferno ist das nicht. Aber das würde auch nicht helfen, ebenso wenig wie Unterwerfung. Er hat ja oft behauptet, dass er russische Menschen vor einem Genozid schützen wolle. Aber ob die Menschen auf diese Art seinen Schutz wollen, darf bezweifelt werden. So oder so: Ich habe längst beschlossen, mich nicht mehr einschüchtern zu lassen.

Vermutlich geht es Putin so wie dem alten General in "Der Herbst des Patriarchen" von Gabriel García Márquez: Er kämpft einen sinnlosen und vergeblichen Kampf gegen selbst erschaffene Gespenster. Das Traurigste dabei ist aber, dass all das Leid, der Tod und die Zerstörungen dieses Todeskampfes neben der Ukraine vor allem sein eigenes Land und sein eigenes Volk treffen. Und das alles für Gespenster. Sinnloser geht es kaum.

 

 

Mittwoch, 27. April 2022

Ein neuer Thriller-Star bei Suhrkamp: Candice Fox

Aus dem australischen Englisch von Andrea O´Brien. Es hat eine Weile gedauert, wie immer. Aber nun ist nachlesbar, dass es bei Suhrkamp eine sehr lesenswerte neue Autorin in der Reihe "Thriller" gibt, in der auch preiswerte Taschenbücher erscheinen: Candice Fox, angeblich aus "einer eher exzentrischen Familie", ist zum Start ihres Debüts in Deutschlands Nobelverlag gleich zwei Mal vertreten: Mit "Dark", 395 Seiten, 11 €, schon im vergangenen Dezember erschienen, und mit "606", 400 Seiten, 16,95 €, schon im November 2021 erschienen. Aber all die dicken Schinken kosten eben auch den Rezensenen Zeit (der vorerst dickste auf meinem Tisch, soviel schon vorab, kommt  mit über 800 Seiten von Nino Haratischwili aus Georgien). Aber eins nach dem anderen:

"Dark" erzählt die spannende Geschichte einer unfreiwilligen Frauen-Gang, die in Los Angeles ein entführtes Mädchen sucht und einen kriminell-Korrupten Cop zur Stecke bringt, der alle Ermittlungen zu torpedieren versucht und dabei auch vor Mord nicht zurückschreckt. Eine verurteilte und frisch aus der Haft entlassene Mörderin, eine talentierte Diebin, eine skrupellose Gangsterin frustrierte Ermittlerin, die von einigen männlichen Kollegen gemobbt wird, sind schon eine interessante Zusammensetzung für so ein Team. Schon die verurteilten ehemaligen Staftäterinnen stehen ja ständig mit einem Bein wieder im Knast, denn sie dürfen ja in den USA untereinanander keine Kontakte haben. Das allein birgt eine Menge gefährlicher Situationen. Man sucht ja Verbündete, wenn es Probleme gibt. Und die zweite Problemzone, die korrupte Cops prima ausnutzen können, die mal einen Prozess manipuliert und Unschuldige ins Gefängnis gebracht haben: Wie soll man einen Prozess neu aufrollen, wenn man kein Geld für teure Anwälte hat, keine Akteneinsicht bekommt und bei der Polizei niemanden fragen darf, weil man nicht weiß, wo die Lügner und die U-Boote sitzen? Die Handlung in Kürze: Die Tochter der Diebin ist verschwunden. Diese Diebin bittet mangels Alternativen ihre frühere Zellengenossin, die wegen Mordes gesessen hat und Ärztin ist, um Hilfe. In ihrer Not wenden sich die beiden an die Polizistin Jessica Sanchez, die ein 7-Millionen-Dollar-Haus geerbt hat und deshalb ver den Kollegen verhaßt ist. Da die Spur der Vermissten ins kriminelle Milieu führt, stößt auch die brutale Bandenchefin Ada zu der schrägen Truppe, obwohl sie wohl eher 7 Millionen Dollar riecht. In der Todeszelle sitzt derweil ein Bankräuber und Mörder, der die Fäden zieht. Fazit: ein echter "Pageturner", ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen und habe jede Nacht das Licht zu spät ausgemacht.

"606" halte ich eher für einen blöden Titel, aber er hat es in sich. Da geht es um einen perfide inszenierten Massenausbruch aus einem Hochsicherhzeitsgefängnis mitten in der Wüste von Nevada. 606 der gefährlichsten Verbrecher er USA schwärmen in alle Himmelsrichtungen aus. Mörder, Psychopathen, Wahnsinnige und andere Gewalttäter und verbreiten Chaos, Angst und Schrecken in Las Vegas und den umliegenden Städten. Zumal es einigen der Schlimmsten gelingt, auf einem abgelegenenen Privatflugplatz eine Cessna zu entführen. John Cradle nämlich hat einen Flugschein, sitzt seit Jahren und will nach Hause, um seine Unschuld zu beweisen. Leider ist er aber auch die spezielle Zielscheibe einer Fahnderin, die als Aufseherin im Todestrakt sehr persönliche Gründe hat, ihn zu hassen - und sie weiß offenbar genau, wo er hinwill. Nicht genug damit: der irrsinnige Triebtäter, als der "Würger" bekannt ist und über eine sanfte Stimme sowie Bärenkräfte verfügt, lässt ihn nicht aus den Augen und bedroht ihn zusätzlich. Uff! Zuerst dachte ich wirklich, ein Blöder Romantitel und ein gigantomanischer Plot (warum gleich 606 Ausbrecher, hätte es nicht auch eine Nummer kleiner getan?) sind einfach nicht der Rede wert. Aber das Spannungspotenzial in diesem Buch ist so riesig, dass es mich magisch hineinzog. Das haben Sie jetzt davon. Ich wünsche aufrichtig gute Unterhaltung, obwohl wir uns nach der Pandemie und dem Ukraine-Krieg wahrlich andere Ablenkung vorstellen können. Spannend schreiben, das kann diese Candice Fox jedenfalls. Und das ohne einen einzigen Komma, Sprach- oder Tippfehler (nicht mal aus dem Konflikt zwischen Genetiv und Dativ): Ich bin als alter Tippfehler-Junkie beeindruckt!



 

Sonntag, 10. April 2022

 

Teodor Currentzis und der Bratscher Antoine Tamestit
Am 7. und 8. April 2022 spielte das SWR Symphonie Orchester unter der Leitung von Teodor Currentzis ein mehr als ungewöhnliches Abo-konzert in der Stuttgarter Liederhalle.

Im Mittelpunkt stand zweifellos der Solist Antoine Tamestit (Viola). Er begann allein, bespielte die ganze Bühne. Er bewegte sich tastend, erst versteckt saß er zwischen den Musikern der hinteren Reihen, bewegte sich dann kreuz und quer, setzte den Boden seines Instruments wie eine Bongo-Trommel ein und flirtete dann musikalisch mit einer Querflötistin, die ganz wunderbar mitpielte im Dialog mit einzelnen Instrumenten, der Harfe, den Bongo-Trommeln des Schlagwerks, dem Kontrabass. Ein sehr veränderter, ernster Currentzis setzte mit dem Dirigieren erst beim ersten Tutti ein. Das wieder einmal grandiose Orchester und ein Geiger von Weltformat spielten sich die Ton-Bälle zu, dass es eine Freude war. Jörg Widmanns Schüler Tamestit nutzte die Freiheiten, die sein Lehrer ihm 2015 dem Konzert eingeschrieben hatte, mit großem komödientischen Talent: Was für ein Konzert, was für Musiker! Nach und nach "unterliegt" der Solist mit seinem Instrument der geballten Tongewalt der schieren Masse und kann sich am Ende nur mit einem Schrei der Verzweiflung gegen den Untergang behaupten. Es ist ein elegischer Abgesang auf die Sehnsucht nach zerstörten Märchenwelten. Das jüdische "Stedtl" der Ukraine klingt mit Klezmer an, "Wenn ich einmal reich wär" meint man zu hören.
Das Konzert war ein großer "Appell für Frieden und Versöhnung" in der Ukraine mit Werken von Oleksandr Shchetynsky (Currentzis ist seit vielen Jahren mit dem Komponisten aus Kiew befreundet). Dessen "Glossolalie für Orchester" wirkte ein wenig wie eine Ouvertüre, dann  folgte Widmanns Violakonzert. 
Nach der Pause gab es die Sinfonie Nr. 5 von Dmitrij Schostakowitsch. Unter dem Titel "Mein Schostakowitsch" hat der ukrainische Komponist der "Glossolalie" fürs Programmheft geschrieben, diese Musik sei ein Zeichen der Auflehnung gegen Unfreiheit, Gewalt und Gesetzlosigkeit zur Stalinzeit gewesen: "Im Widerstand der Ukrainer gegen die neue Barbarei des Kreml ist Schostakowitsch mit seiner Musik unser aufrichtiger Verbündeter." Damit nicht genug, gab das Orchester als Zugabe den Bach-Choral "Jesus bleibet meine Freude, meines Herzens Trost und Saft, Jesus wehret allem Leiden, er ist meines Lebens Kraft". Hier spürte man, dass Currentzis ein gläubiger Mensch ist.
Einige Musiker spielten weiter, andere sangen - und mir kamen die Tränen. Das war ein Gebet um Frieden vor 2000 ergriffenen Menschen. Die Leute haben verstanden. Standing Ovations. Currentzis hält keine Fensterreden. Seine Sprache ist die Musik. Doch nicht verstanden hat es Susanne Benda. Die Kritikerin der Stuttgarter Zeitung lobt erst Currentzis und das Konzert ausführlich, um dann den zweiten Versuch zu machen, den Dirigenten öffentlich unter Druck zu setzen. Er soll seine Kunst und die seiner Musiker zur Waffe machen. Es ist eine völlig sinnlose, verquere Zumutung. Es ist die idealistische Forderung einer Frau, die nichts verstanden hat. Die tatsächlich zu glauben scheint, man dürfe Künstler nötigen, sich auch verbal zu positionieren. Das ist ungehörig, verantwortungs- und respektlos, und sie sollte sich schämen! Man weiß, dass Currentzis Verwandte, Freunde und viele Kolleginnen & Kollegen in Russland hat. Und die soll er einem Regime aussetzen, das für seine Sippenhaft berüchtigt ist? Kunst ist nun mal keine Waffe, die einen wie Putin beeindrucken könnte. Sie ist Licht und Trost in finsteren Zeiten, wenn wir das zulassen. Hier war das auf eindrucksvolle Weise der Fall.

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Dienstag, 5. April 2022

Kleine deutsche Sprachkunde 4: Doubletten

Doubletten, also Doppelungen, sind nicht nur eine unnötige Platzverschwendung auf dem Smartphone-Display, sie sind auch hässlich - und sogar teilweise falsch. Im Fall der doppelten Negation (Verneinung) wie "Man kann nicht einfach nichts tun, wenn Putin Zivilisten in der Ukraine abschlachten lässt", ergibt zwei mal Minus ein dickes Plus! In solchen Fällen wird die Forderung, etwas zu tun, unterstrichen bzw. verstärkt.

Manche Leute finden ständig etwas ganz, ganz toll oder sehr, sehr gut. Neuerdings taucht sogar die Dreifach-Tollität auf. Da ist jemand oder etwas sehr, sehr, sehr gut oder ein Essen ganz, ganz, ganz lecker. Der gesteigerte Superlativ ("Der Allerwerteste Herr", "der einzigste Überlebende" o.ä.) ist nur noch eine Karikatur. Eigentlich gehört das schon in die verbreitete Rechtschreib-Anarchie

Montag, 31. Januar 2022

Kleine deutsche Sprachkunde 3: Die Tücken der Partizipialkonstruktion

 "Die vergnügt zahlreiche Lieder singenden Kinder" waren schon dem "Stilpapst" Ludwig Reiners ein Gräuel. In seiner ebenso vergnüglichen wie lehrreichen "Stilfiebel", aus der X Generationen von Autoren, Journalisten und Deutschlehrer erfahren konnten, was sie für gutes Deutsch tun können, kommt dieses putzige Beispiel dafür, wie man es NICHT machen sollte, ganz vorne beim Thema Partizipien. Gegen das "gelobte Land" oder die "strahlende Sonne" hat niemand etwas einzuwenden. Doch wer ein Partizip durch unnötig vors nächste Substantiv geschobene Wörter schwer verständlich und kompliziert macht, schreibt nur altmodisch. Manche Partizipien kann man streichen; sie sind überflüssig, weil sie doppelt moppeln. Es ist schlechter Stil von Bürokraten, von einer "getroffenen Feststellung" zu reden, die mitnichten das Gleiche ist wie "ein getroffener Hund", der bellt. Überhaupt hat sich der Heilige Bürokratius im Kanzleideutsch mächtig ausgetobt, weshalb sich dort so viele schlechte Stilbeispiele (bis hin zu Stilblüten!) finden. "Gemachte Erfahrungen", "unternommene Maßahmen (anders als "unterlassene Hilfeleistungen") oder "geltende Bestimmungen" und "erwiesene Ausdauer" sind einfach Nonsens. Weg damit!

Ein Paradebeispiel noch, und dann höre ich auf: "Die an sich sehr zu lobende Bemühung um die Benutzung von Partizipien führt zu sehr zu tadelnden unbedeutenden Formen, wenn sie in dieser ungeschickt zu nennenden Weise ausgeübt wird". - Viel schlimmer geht´s nimmer. Da ist auch noch eine völlig überflüssige Menge von Wörtern auf -ung drin. Tipp: Wer´s nicht kann, lasse es bleiben. Man kann fast alles einfacher und eleganter sagen als mit derart umständlichem Geschwurbel. Der oder die "Auszubildende" war Reiners noch unbekannt. Die erste Auflage seiner "Stilfibel" erschien 1963. Er würde im Grab regelrecht rotieren, wüsste er von den Auswüchsen des Genderns" durch angeblich geschlechtergerechte Partizipien wie "Studierende", die grammatikalisch korrekt nur für Studentinnen und Studenten während der Tätigkeit des Studierens gilt - und sonst nichts. So eine Sprache wird niemandem gerecht und gehört weder in Richtlinien noch in Empfehlungen selbst ernannter Sprachreglerinnen oder Regler. Dazu wäre noch viel zu sagen, aber ich halte es mit Reiners selbst: "Fasse Dich kurz".

Donnerstag, 27. Januar 2022

Herausragendes Sachbuch: "Die Hydra des Dschihadismus" von Asiem El Difraoui

Asiem El Difraoui: "Die Hydra des Dschihadismus", Entstehung, Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 367 Seiten, 24,00  €

ISBN 978-3-518-42564-0.
 

Der vielfach ausgezeichnete Journalist und Dokumentarfilmer Asiem El Difraui, Jahrgang 1965, war als Sohn eines Ägypters und einer deutschen Mutter schon immer ein Reisender und Mittler zwischen den Kulturen. Er wuchs in der Nähe von Frankfurt am Main auf, studierte in London und Kairo Soziologie, promovierte in Paris und spricht neben Arabisch und Deutsch fließend Englisch und Französisch. Er schrieb und schreibt für ARD, BBC und CNN, gehört zu den führenden Experten zum Thema Dschihadismus, berät die deutsche und französische Regierung. Viele der bekanntesten Theoretiker, Prediger, Attentäter und Drahtzieher des extremradikalen Islamismus hat er persönlich interviewt. Spätestens seit der erneuten Machtergreifung der Taliban in Afghanistan 2021 zeigt sich der ganzen Welt, wie quicklebendig die Hydra des Dschihadismus ist, der wie der mythischen Schlange immer neue Köpfe wachsen, wenn man einen abschlägt. Nur mit Gewalt ist ihr nicht beizukommen.

Difraoui hat die unübersichtliche Szene übersichtlich und spannend beschrieben. Er traf Kampfgefährten von Osama bin Laden in Khartoum und PR-Strategen, die in Berlin-Charlottenburg IS-Propagandavideos produzierten. In Kriegsgebieten wie Bosnien, dem Irak  oder Afghanistan, aber auch in Paris quasi vor seiner Haustür hat er persönlich den Terror der Islamisten gegen die Bevölkerung erlebt. Kenntnisreich und anschaulich schildert er, wie der Dschihadismus entstanden ist, wie seine Denkmuster und seine Propaganda sich verändert haben und woraus die Hydra ihre Kraft bezieht. Was macht die todbringende Ideologie des aggressiv-missionarischen Islamismus auch für junge Menschen in Europa so attraktiv? Welchen Anteil daran hat der Westen selbst an ihrem Erfolg? Welchen die Medien? Und wie lässt sich vielleicht die Macht der Hydra brechen?

So, wie es bis jetzt versucht wird, ist der "Krieg gegen den Terror" jedenfalls nicht zu gewinnen - Sogar Leser, Politiker, Wissenschaftler und Journalisten mit Erfahrung auf diesem Gebiet werden von Difraouis Buch immer wieder überrascht sein, der die Entwicklung seit dreißig Jahren beobachtet. Besonders verdienstvoll ist die Identifizierung arabischer Reiz- und Schlüsselwörter, die auch einer Klientel ohne arabische hilft, zu verstehen, wann die Alarm-Signale anspringen sollten. Es sind arabische Fachwörter für Feindbilder der Islamisten (den "Dschihad" kennt inzwischen jeder): 

"Kuffar" ist ein verächtliches Wort für Ungläubige, in den Augen der Fanatiker auch Juden, Christen und vor allem Jesiden. "Rafida" sind Abtrünnige und Ketzer, im sunnitischen Islam auch alle Schiiten. "ghulat" sind religiöse Abweichler, die nicht der radikalen Deutungen der Dschihadisten folgen. "Und takfir" meint die Verbannung, den Ausschluss aus der Gemeinde der Rechtgläubigen und Rechtgeleiteten. Hört man als Beamter, Sozialarbeiter oder Helfer bzw. Lehrer so reden in einer Moschee oder unter Flüchtlingen im Deutschkurs, die plötzlich arabisch sprechen, sollte man darauf bestehen, dass deutsch gesprochen wird.

Besonders verdienstvoll ist außerdem, dass der Autor auf Regionen- Rückzugsräume und Entwicklungen hinweist, die bisher weder Politik noch Ermittler oder Presse nachhaltig auf dem Schirm haben: Die Sahelzone etwa und mit dieser weite Teile Afrikas. Man denke nur an die Eroberung und Verwüstung der Kulturstadt Timbuktu, die Schutzgeld-Industrie der Miliz Abu Sayyaf und Konsorten in abgelegenen Feriengebieten verschiedener Inselgruppen Südostasiens. Da sind fast immer Widerstandsbewegungen gegen autoritäre Regime mit Auslöser, die aus religiösen oder rassistischen Gründen ganze Bevölkerungsgruppen diskriminieren und radikalisieren. Das geschah in Tschetschenien, mit den Fulbe und bei Boko Haram in Schwarzfrika, den Tuareg in Mali oder den Sunniten im schiitisch dominierten Irak. Auch Erdogans faschistoid-paranoider Kurdenhass oder der Stellvertreterkrieg zwischen Saudis und iranischen Mullahs im Jemen, das Assad-Regime in Syrien oder die Verfolgung der Muslimbrüder Ägyptens radikalisieren bzw. instrumentalisieren Menschen, die sich aus Hoffnungslosigkeit von der Hydra verführen lassen. Und dann wirft sie sie weg.

Die sozial vernachlässigten Migranten im Ruhrgebiet, in Berlin oder in Frankreich, Belgien und Großbritannien sind kaum weniger gefährlich als die rechtsradikal-nationalistisch aufgehetzten Corona-Demonstranten und Impfgegner in Ostdeutschland. Und immer besteht der Humus für die Prediger des Hasses aus Armut, Perspektivlosigkeit und fehlender Bildung. All diese Wurzeln trocken zu legen ist mühsam und mindestens so teuer wie die Energiewende, die "grüne Transformation" von Verkehr und Industrie oder die Bekämpfung der Pandemie, aber es ist möglich. Es wird nicht schnell gehen und einen langen Atem verlangen, doch es gibt keine Alternative. 

Schließlich gilt es, 30 Jahre Fehlentwicklungen zu korrigieren. Der Verdacht ist nicht vom Tisch, dass die Demokratien des Westens nicht unbeteiligt sind an diesen Fehlentwicklungen. Das beginnt mit dem Kolonialismus und endet noch nicht mit der skrupellosen, zynischen Instrumentalisierung von Flüchtlingen und Migranten als "Waffe" durch Autokraten wie Lukaschenko, Putin und Erdogan. Wenn wir erpressbar geworden sind, dann weil wir seit langer Zeit mit gespaltender Zunge reden und weil uns Handelsbeziehungen wichtiger sind als Menschenrechte. Und weil unsere Regierungen seit Jahrzehnten mit zweierlei Maß messen. Erst wenn das aufhört, auch wenn es um alte Freunde wie die USA oder Israel geht oder um die gesetzliche Gleichbehandlung von Christen, Juden und Muslimen in Deutschland, kann die Hydra des tödlichen Dschihadismus wirklich austrocknen.