Ein glücklicher Jean-Christophe Spinosi mit glücklichen Musikern beim Schlussapplaus |
Einziger Programmpunkt beim Saisonauftakt der Stuttgarter Abonnementkonzerte des SWR Symphonieorchesters in der Liederhalle war die 9. Sinfonie D-Moll mit dem Schlusschor über Schillers "Ode an die Freude" für Orchester, vier Solostimmen und Choristen in vier Sätzen. Der französische Dirigent Jean-Christophe Spinosi hatte dabei eine große Besetzung zu leiten: neben dem Symphonieorchester das NDR Vokalensemble und das Chorwerk Ruhr. Das Thema ist eine überschwängliche Hymne an die Freundschaft, die Liebe, den Wein und eine allgemeine Menschheitsverbrüderung, Freiheit und Gleichheit, geschrieben von Schiller kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789 und komponiert von einem tauben Genie 1823/24 als finales Tonkunstwerk, von Gustav Mahler und Wagner zum Vorläufer ihrer "Gesamtkunstwerke" erhoben, ist auf jeden Fall programmatisch.
Das Gedicht ist nicht besonders (Schiller selbst nannte es später "schlecht"), wurde aber in seinem Gefühlsüberschwang mehrfach vertont und hat einen unzerstörbaren Kern. Das sind einzelne Textzeilen wie "Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt" oder "Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt", sie sind wichtiger als die Frage, warum Beethoven welche Strophen weggelassen oder umgestellt hat. Das Gedicht ist politisch als Aufforderung zur Freude als Medizin gerade in Zeiten von Krieg, Chaos und Gewalt. Diese Sinfonie ist politisch schon im Sinne der Musikgeschichte, weil sie das Genre der Instrumentalmusik an ihre Grenzen bringt und sie (durch die erstmalige Aufnahme von Text) überschreitet.
Musikalisch ist diese Sinfonie ebenfalls politisch im Sinne von innovativ: die schlichte Melodie des Kernthemas, die wirklich jeder kennt und mitsingen kann, fängt an mit einem Chaos der Töne, das an die Geschichte der Schöpfung selbst erinnert. Es mündet im ersten Satz in einen Trauermarsch, es gibt einen lustigen Janitscharenmarsch, eine Doppelfuge im Orchester und eine weitere später im Chor. Das Thema wird auf wirklich jede erdenkliche Art in hohem Tempo durchgespielt, aber nicht zu Tode geritten, verkleinert und wieder vergrößert, beschleunigt und gebremst mit Crescendi und plötzlichen Stopps. Der zweite Satz ist ein sehr schnelles Scherzo, der dritte ein langsames Adagio. Der vierte Akt schließlich ist eine furiose Steigerung des Bisherigen bis hin zu einer Extase der Freude, die sogar den Applaus des Publikums einzubeziehen scheint.
Der Chor hat dabei eine besondere Rolle, die er mit schier unglaublicher Textverständlichkeit und Intonationssicherheit bewältigte. Nicht zu unterschätzen dabei: diese Leistung muss ohne Aufwärmübungen oder Einsingen nach fast einer Stunde Stillsitzen erbracht werden - und im Fall der Liederhalle auch über große Entfernung von der Chor-Empore (ich schätze fast 30 Meter bis zur ersten Sitzreihe). Ungewöhnlich angenehm und sicher der Bassbariton Tareq Nazmi (geboren in Kuwait, seit ewigen Zeiten bei der Münchner Staatsoper), routiniert die vielseitige Sopranistin Christine Landshammer. Mit leichten Schwächen der Tenor Kenneth Tarver (USA).
Eine Entdeckung für mich war - auch ganz im Sinne des programmatischen Kosmopolitismus an diesem Abend - die Mezzosopranistin Lena Balkina. Die dunkelhaarige Schönheit, 1987 in Taschkent (Usbekistan) geboren und zwei Jahre später mit ihren Eltern auf die Krim ausgereist, hat in Kiew studiert und bildet als Ukrainerin mit langjährigem Aufenthalt in Leipzig und Wien das kosmopolitische Sahnehäubchen dieses kosmopolitischen Abends. Sie hat eine dieser "schönen, dunklen, weiblichen Stimmen, geheimnisvoll und sinnlich", die laut Sandro Cappeletto von La Stampa schon Rossini verzaubert haben.
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