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Donnerstag, 11. Juli 2024

Seelen-Musik: Eine erzählte Landkarte Siebenbürgens

Dagmar Dusil: "Das Geheimnis der stummen Klänge", Roman. ISBN 978-3-86356-394-3. Pop Verlag, Ludwigsburg, 219 Seiten, 21,00 €
 

Wie eine Zwiebel enthüllt dieses Buch Schicht um Schicht Neues, und manchmal kann es einem dabei tatsächlich auch Tränen in die Augen treiben. Dennoch ist der Kern nicht einfach zu beschreiben. Nicht zufällig wird der Name der Hauptperson, Clara Giseda Gregorius, Narkoseärztin und Musikliebhaberin in Bamberg, erst auf Seite 16 vollständig genannt. Bis dahin ist es schlicht Clara, die sich schon in der ersten Szene fragt, "ob Musik in Worte gefasst werden kann." Sie hört während einer Konzertpause den Rettungshubschrauber und lässt sich pflichtbewusst ins Krankenhaus fahren, weil sie einen Notfall vermutet. Das Personal ist chronisch unterbesetzt und sie gehört zu denen, die immer erreichbar sind, ohne Familie und Kinder, jederzeit einsatzbereit. Aber kein Unfallopfer hat der Hubschrauber gebracht, sondern eine Spenderniere. Als sie zum Narkosegespräch das Krankenzimmer betritt, liegt vor ihr der Dirigent David Goldstein im Krankenbett, den sie noch vor kurzem auf der Bühne erlebt hat. Die Begegnung wird der Beginn einer langen und tiefen Freundschaft.

Clara stellt sich als betreuende Anäthesistin vor und spricht ihn fast gegen ihren Willen an: "Es war so kreativ und individuell, wie Sie die 4. Symphonie von Gustav Mahler dirigiert haben, wie Sie die einzelnen Instrumente zum Klingen gebracht und zu einem Ganzen zusammengefügt haben, wie sich die Töne gleich einer Schnecke von einem Instrument zum anderen bewegt haben". Goldstein vergisst die bevorstehende Operation, ist überrascht und beeindruckt von ihrer präzisen Einschätzung des Gehörten: "Selten kommt es vor, dass ein Laie in Worte fasst, was der Dirigent dem Orchester abverlangt". Nur ist Clara eben kein Laie. Sie ist - und jetzt überspringe ich der Einfachkeit halber mehrere Lagen der Zwiebel - eine hochbegabte, aber vor langer Zeit traumatisierte Pianistin, die das Klavierspiel aufgegeben hat, um Ärztin zu werden. Die titelgebenden "stummen Klänge" hört die Frau mit dem absoluten Gehör nur innerlich, sozusagen mit der Seele, beim täglichen Üben auf einer Tastatur aus Papier. Mit 17 Jahren, als sie in der realsozialistischen Diktatur Rumänien von der Securitate um den Sieg in einem Klavierwettbewerb gebracht wurde, hat sie die 88 Tasten, 52 weiße und 36 schwarze, auf Papierbögen ihrer Mutter gemalt hat - weil es in ihrer Heimat Hermannstadt in Siebenbürgen nichts Passendes zu kaufen gab.

Wie musikalisch gebildet bzw. bewandert die Autorin Dagmal Dusil ist, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls stammt sie aus Hermannstadt im rumänischen Siebenbürgen und hat dort nicht etwa Musik, sondern Anglistik und Germanistik studiert und als Englischlehrerin gearbeitet, bis sie 1985 in die Bundesrepoublik Deutschland ausreiste, wie die meisten siebenbürger Sachsen, die bei den zurückbleibenden Rumänen, Ungarn und Roma "Sommersachsen" heißen, da sie nur die Sommerferin in der alten Heimat verbringen. Dusil hat viele Details recherchiert und viele sicher nicht recherchieren müssen, sondern aus der Erinnerung hervorgeholt. Aus Erfahrung kennt sie auch die unseligen, patriotisch verbrämten Machenschaften der Securitate, die stets bedrohten und doch zugleich staatlich privilegierten Künstlerexistenzen sowie die sozialistische Mangelwirtschaft. Sie weiß auch um das verhängnisvolle Schweigen der Secuitate-Opfer. Und sie lässt einen Taxifahrer, der zufällig den gleichen Vornamen hat wie der junge Geheimpolizist, der einst versuchte, die Schülerin Clara nach dem Wettbewerb auszuhorchen, die Geschichte von den "Sommersachsen" erzählen. Überhaupt erzählt der geschwätzige Mann viel, auch über Osterbräuche und das Zusammenleben der diversen Volksgruppen in Rumänien, von denen vor allem die ärmeren Roma heute als Arbeitsmigranten in Deutschland Erdbeeren ernten und Spargel stechen.

Dagmar Dusil strickt ihren Plot nicht, sie häkelt, stickt und klöppelt feinste literarische Spitze, sie komponiert die Handlung wie eine Thriller-Autorin. Unglaublich, wie viele Zwiebelschalen sie auf nur gut 200 Seiten zusammenfügt. Sie springt vor und zurück in Claras Biographie und in den komplizierten Familiengeschichten der übrigen Hauptfiguren wie ein Drehbuch. Fast nichts ist, wie und was es zu Anfang scheint, und doch fügt sich alles am Schluss zusammen, wenn auch nicht zu einem in jeder Hinsicht guten Ende, das wäre ja wirklich ein lebensfremdes Unding. Was man liest, ist aber unterm Strich weit mehr als die Geschichte eines Künstlerschicksals in der Ceausescu-Diktatur. Dieser Roman ist eine erzählte Landkarte Siebenbürgens, und die Geschichte einer untergegangenen Kultur: Klausenburg, Kronstadt, Katzendorf mit seiner Kirchenburg und der immer noch bewohnten "Ziganie". Hier laufen Lebensfäden zusammen und auseinander, um sich Jahrzehnte später wieder zu kreuzen. Das hat teilsweise Dimensionen einer antiken griechischen Tragödie.

Clara ist kein moderner weiblicher Adrian Leverkühn wie der Komponist aus Thomas Manns "Doktor Faustus", doch auch sie ist distanziert und verschlossen, unfähig zum Vertrauen selbst den engsten Freunden gegenüber. Sie denkt und fühlt in Klängen, führt den Leser in eine beachtliche Fülle musikalischen Fachwissens. Auch sie leidet unter  selbstzerstörerischen Zweifeln und bohrenden, teils philosophischen Fragen: "Die Erinnerung lässt sich nicht abschütteln und auslöschen. Auch durch die Musik nicht, die wie ein Sieg über das Vergehen, über die Vergänglichkeit auftrumpft. Die Musik, die ihr ständiger Begleiter ist, die sich an Abenden wie diesem (des Konzerts mit Goldstein in Bamberg) heftiger an sie schmiegt und sie aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit führt. Die Erinnerung ist da, als Klang und als schmerzliche Erfahrung, dass in der Entstehung des Klangs die Freude liegt, die ihr versagt blieb" (durch pubertären Trotz und eigene Sturheit; Menschen sind eben manchmal so, auch das weiß Dusil).

Eine Rückblende ins Jahr 1975 zeigt die dreijährige Clara, die als Ich-Erzählerin berichtet, wie sie ihre Mutter Almuth so lange nervt, bis sie mit ins Konzert darf. Es ist ein Schlüsselerlebnis. Denn der Pianist auf der Bühne in Hermannstadt, dem das Publikum und auch die kleine Clara zujubelt, heißt Clemens Haller und soll später ihr Klavierlehrer werden. Clara hört zum ersten Mal in ihrem Leben Applaus, springt auf den Stuhl, klatscht sich die Hände wund und schreit lauthals immer wieder "Bravo!" Gespielt hatten Haller und das Orchester das Klavierkonzert A-Dur von  Franz Liszt. Claras Mutter Almuth Gregorius, ist Malerin und versucht, Töne in Farben  und Linien künstlerisch einzufangen: "Sie mochte besonders die Stellen, in denen das Klavier und das Solo-Cello miteinander musizierten. Doch zugleich fürchtete sie diese Stellen, spielte doch Leo, ihr Mann, den Cellopart. Sie wusste um sein krankhaftes Lampenfieber, wenn alles im Haus unsichtbar und unhörbar werden musste. Es ging dann nur noch um Leo."

Auch der Solist Clemens Haller war so eine Mimose, ein begnadeter Musiker, zugleich aber unberechenbar und launisch: "Er vereinbarte das Unvereinbare, ließ Unmögliches möglich werden. Sein Spiel ließ Engel und Teufel erwachen und miteinander kämpfen oder gar zu Freunden oder zu Liebhabern werden. Wenn er zu spielen begann, verheilten Wunden. Doch es war für die Kritiker nicht einfach, eine zutreffende Aussage zu machen, die Spannung und den Widerspruch seines Spiels und seiner Interpretation in Worte einzufangen." Nach dem Konzert musste Claras Vater jeden Abend dem Kind vor dem Einschlafen eine Platte auflegen und die Musik sichtbar machen, was er konnte wie niemand sonst: "Vater erklärte die Pastorale von Beethoven, die Wassermusik von Händel und den Hummelflug von Rimski-Korsakov. Sie schlief ein mit diesen Bildern vor Augen und der Musik in den Ohren." Besonders bei Mozart spielte sich das Kind auf der Bettdecke mit einem imaginären Klavier in den Schlaf. Später, als Ärztin, weiß Clara um das selbstzerstörerische Suchtpotanzial der Musik, aber der selbstverordnete Entzug schmerzt so sehr, dass es fast nicht auszuhalten ist.

Der Wettbewerb, mit dem die Tragödie der damals 15jährigen Clara begann, wird in einer Rückblende auf das Frühjahr 1987 knapp erzählt, aber nicht bis zum bitteren Ende. Das Publikum im Saal hielt bei ihrem Spiel den Atem an. Der Knall folgt erst vieler Seiten später. Als wollte die Autorin wie eine Katze um den heißen Brei herum schleichen, folgt erst nach vielen Andeutungen Konkretes. Almuth will ihrer Tochter die Wahrheit sagen (welche?) und hadert mit ihrem Man Leo, dessen Aufgabe das ihrer Ansicht nach gewesen wäre. Doch 1989, kurz vor der Revolution und dem Tod des Diktators, war Leo gestorben und Clara im Sog der allgemeinen Freiheitshysterie das Land verlassen und nach Bamberg gegangen, um Ärztin zu werden. Almuth hatte nie ein Kind gewollt, war unnahbar, kühl und am liebsten allein. Sie blieb in Hermannstadt und malte.

In der Rückblende erzählt Dusil, wie Almuth und Leo sich kennen lernten. Sie studierte Malerei und er besuchte das Konservatorium in Klausenburg: er als Cellist umschwärmt, witzig und leichtlebig, sie eine herbe Schönheit, die sich nicht gern überraschen ließ und trotzdem ja sagte, als er sie spontan bat, seine Frau zu werden, obwohl sie sich kaum kannten. Leos Eltern, der Arzt Ion Lupeanu und seine Frau Magda, geborene Caramilotis aus einer ehrenwerten Familie in Griechenland, die ins weltoffene, multinationale Constanta am Schwarzen Meer eingewandert war, lebten rumänisch-großbürgerlich in Ramnicu Valcea, einer Stadt in den Südkarpaten am Fluss Alt. 

Nicht ohne Humor schildert die Autorin den Zusammenprall der verschiedenen Kulturen und Traditionen, als Herr und Frau Lupeanu es sich nicht nehmen lassen, gegen den Willen von Braut und Bräutigem ins siebenbürgische Hermannstadt zu reisen, um bei den Brauteltern nach Landessitte um die Hand ihrer Tochter anzuhalten, was bei den Siebenbürger Sachsen nicht üblich ist. Es gibt genau zwei Gemeinsamkeiten: Auch Viktor Gregorius ist Arzt, und in beiden Familien wird die Hausmusik geschätzt. Almuths Bruder Gottfried, ein "wohlerzogener" junger Doktor der Chemie, findet Anerkennung als von Clemens Haller gelobter Amateurpianist. Es wird jedoch kein zweites Familientreffen geben, zumal Leo und Almuth verkünden, nicht kirchlich heiraten zu wollen. Am Ende dieses Kapitels beschließt Almuth, Clara zu einem Gespräch nach Wien einzuladen, wo sie an einer Ausstellung teilnehmen wird.

Szenenwechsel, ein harter Schnitt. Die Starpianistin Levinia Vandu besucht ihren Patenonkel, der als Arzt und Oberst der Securitate in einer ziemlich protzigen Staatsvilla (mit Personal und einem Interieur aus edlem Mobilar und venezianischen Spiegeln) residiert. Oberst Lepadatu kannte ihr Problem; er wusste immer alles, und seine Frau kaufte in speziellen Läden Dinge ein, die es sonst nirgends gab oder nur als Mangelware. Auch bei Lavinias Eltern war das so; die die Männer waren Kollegen, die Paare waren befreundet und besuchten einander. An ihre früheste Kindheit hatte Lavinia nur nebelhafte Erinnerungen, die ein befreundeter Therapeut auf Wunsch von Herr und Frau Vandu auslöschen sollte. Dusil beschreibt hier eine gängige Praxis im real existierenden Sozialismus: "Lavinias frühe Erinnerungen wurden von ihren Adoptiveltern entsorgt. Es gab sie kaum noch. Lavinia war ihr Kind. Ihr Wunschkind. Musikalisch hochbegabt." Was auch der Therapeut nicht ganz ausradieren konnte, waren Flashbacks an das trostlose Kinderheim mit den lieblosen Betreuerinnen, der Schmutz, die Gerüche nach Urin, Erbrochenem und Kot. In Putins Reich lebt das System noch weiter.

Kurz vor dem Autounfall, bei dem sie beide starben, hatten ihre Ihre Eltern der 18jährigen  mitgeteilt, dass sie adoptiert worden sei, um sie aus dem Martyrium im Heim zu befreien, dass ihre Mutter eine Roma sei und der Vater unbekannt. "Ich bin ein Zigeunerkind!", hatte Lavinia entsetzt aufgeschrien, aber die Mutter hatte sie in die Arme genommen und der Vater hatte ein Machtwort gesprochen: "Du bist unser Kind, nur unser Kind. Das allein zählt." So, gleichsam nebenbei, beschreibt Dusil den bis heute verbreiteten Rassismus und vor allem Antiziganismus in Rumänien. Die Akte war geschlossen. 

Seit dem Unfall ihrer ungewollt kinderlosen Adoptiveltern fühlte sich Oberst Lepadatu für Lavinia verantwortlich. Sie war nun 19 und schon eine nationale Hoffnung, der aufsteigende Stern am rumänischen Pianistenhimmel. Nur eine Nacht hatte sie nach einem Konzert in Hermannstadt mit dem Solo-Cellisten verbracht, mit dem sie Skrjabins Klavierkonzert Nr. 1 in fis-Moll gespielt hatte. Sie hatte sich von der Musik hinreißen lassen, und nun war sie m 4. Monat schwanger, eine Abtreibung kam nicht in Frage. Doch ihr Lebenssinn hieß Musik. Kinder waren für sie nur kleine brüllende Monster. Der Oberst sorgte dafür, dafür, dass sie die Monate bis zur Geburt in einer abgeschirmten Parteivilla am Schwarzen Meer verbringen konnte. Dort spielte sie Klavier, übte viele Stunden am Tag und entdeckte das selten gespielte Klavierkonzert in fis-Moll von Alexander Skrjabin. Als es so weit war, wurde sie inkognito nach Klausenburg gebracht und das Kind wurde noch in der Geburtsklinik von einem ihr unbekannten Paar adopiert. Man ahnt, das waren Almuth und Leo.

Eines Tage trifft Clemens Haller auf der Straße in Hermannstadt zufällig Almuth, zu der er seit dem von der Securitate manipulierten Wettbewerb keinen Kontakt mehr hat, die ihm beiläufig erzählt, dass seine Schülerin jetzt als Ärztin in Bamberg lebt. Nach einem Konzert in Bamberg trifft sie ihn in der Künstlergarderobe, und er sagt nur "Begleite mich morgen nach Venedig". Unausgesprochen bleibt (wie so vieles), dass er ihr unterwegs alles erzählen will, was zu dem fatalen Wettbewerb in Hermannstadt geführt hat. In Venedig wird er ein gut bezahltes privates Recital spielen. Schon unterwegs sprudelt es aus ihm heraus, wie einen Tag vor dem Wettbewerb und zwei Wochen vor seiner Tornee durch die USA ein Soldat bei ihm klingelte und ihn mit einer Postkarte für den Nachmittag ins Hotel Continental zitierte, 11. Stock, Zimmer 5. Dort empfangen ihn zwei Securitate-Leuten, die ihm eröffnen, dass Clara beim Wettbewerb keinen Preis gewinnen wird. Es ist der Versuch, Leo unter Druck zu setzen, dessen lustiger Schwager Gottfried sich bei einer Dienstreise nach Deutschland abgesetzt hat - ein sinnloser Versuch, weil Gottfried keinen Kontakt zur Famillie hat und niemand weiß, wo er lebt.

Clemens Haller sitzt in der Jury und reagiert empört, aber sie drohen diskret, leise und effizient mit Verletzungen seiner Hände, er weiß sehr wohl, dass er die Triller mit dem seigt einem kleinen Unfall verkürzten Mittelfinger der rechten Hand besonders gut spielen kann. Er möge einfach nur an seine Tournee in den USA denken, um die übrigen Mitglieder der Jury brauche er sich nicht zu kümmern. Die Italienerin wird einfach kein Visum bekommen und durch eine willfährige Polin ersetzt werden, ein anderer wird damit bedroht, seine Homosexualität öffentlich zu machen, die Vorsitzende Lavinia Vandu wird mit ihrem Kind erpresst, das sie zur Adoption gab. "In dem Augenblick wusste ich, dass ich Dich für mein eigenes Spiel opfern werde, für die Musik, für meine Freiheit, die keine Freiheit war. Ich wurde zum Täter". 

Das Recital von Clemens Haller im Palast einer Contessa ist Chopin gewidmet, und er beendet den Abend mit dem "Adagio in c-Moll von Carl Filtsch, dem Lebewohl des Komponisten von Venedig.  Dagmal Dusil wäre nicht Dagmar Dusil, käme in Venedig nicht auch noch ein unbekanntes musikalisches Wunderkind vor: Carl Filtsch, ein Siebenbürger Sachse aus Mühlbach, Dichter und Kompinst, Schüler von Liszt und Chopin, hat zwischen 1830 und 1845 Wien, London und Paris als Pianist verzaubert. Mit nur 15 Jahren starb er in Venedig an Tuberkulose. Im protestantischen Teil des Inselfriedhofs San Michele liegt sein Grab. Zu seinen Ehren hat Clemens den Klavierwettbewerb in Hermannstadt geschaffen. Nach einer Liebesnacht besuchen die beiden das Grab.

Clara denkt beim Treffen mit ihrer Mutter in Wien, dass sie nun alles weiß, und erzählt Almuth von Venedig. Sie wisse nur nicht, womit die Jury-Vorsitzende Lavinia Vandu erpresst worden sei, aber das spiele nun auch keine Rolle mehr. Doch dann klärt Almuth sie auf, dass ihre leibliche Mutter Lavinia Vandu ist. Nur Leo, ihr leiblicher Vater, der Oberst und Almuth wussten das. Auch Lavinia ist auf der Suche nach ihren Wurzeln und macht auf der Fahrt zu einem Konzert in Hermannstadt (mit David Goldstein als Dirigent!) Station in Katzendorf. Unter den dortigen Roma sucht sie nach Informationen über ihre Mutter. Ein Musiker der Siebenbürger Sachsen habe das schönste Roma-Mädchen der Stadt vergewaltigt, eine gewisse Maria. Doch die sei nach der Geburt eines Mädchens verschwunden, und der Vater sei gestorben.

David Goldstein hat Clara erzählt, dass er ein Konzert in Hermannstadt mit Lavinia Vandu als Solistin dirigieren würde, das Klavierkonzert Nr. 1 in fis-Moll von Alexander Skrjabin. Er ahnt nicht, dass er damit das Fundament legt für einen dramatischen finalen Showdown. Er ahnt nicht, dass Clara in einem ungestraften kriminellen Akt der Selbstbefreiung für dieses eine letzte Konzert an Lavinias Stelle spielen wird. Clara Giseda Gregorius wird nach ihrem zweifelhaften Triumph wieder als Ärztin in Bamberg arbeiten, aber in ihrer Wohnung wird ein echter Flügel stehen. Einige Karrieren enden, einige Freundschaften überleben, dank der Musik als Kitt. So endet eine fast unendliche, immerhin über vier Generationen reichende, unglaubwürdige und eben darum ziemlich glaubhafte Geschichte. Sie erscheint mir mindestens so realistisch wie die unglaublichen Geschichten der Stasi, der Securitate und anderer Geheimdienste.

 

Samstag, 8. Juni 2024

"Die Zärtlichkeit der Schweigenden": Der Abschied von Teodor Currentzis

Schlussapplaus: Currentzis und Solisten

Teodor Currentzis dirigierte am 6. und 7. Juni in Stuttgart zum Abschied als Chefririgent des SWR Symphonieorchesters das "War Requiem" von Benjamin Britten. Vor dem Konzertbeginn in der Liederhalle dankte SWR-Intendyant Kai Gniffke dem Freund und Musiker mit bewegenden Worten für großartige musikalische Erlebnisse und seine ungewöhnlich erfolgreiche Arbeit mit dem Orchester in den sechs Jahren seiner Amtszeit. Nach der Fusion der SWR-Orchester in Stuttgart und Freiburg hat der junge Currentzis aus zwei teils demotivierten und frustrierten Rumpforchestern einen ganz neuen, ganz eigenen Klangkörper geformt sowie mit seinem Charisma, seinen Ideen für Konzerte und Aufführungen klassischer wie Neuer Musik junge Publikumskreise angezogen. Mit öffentlichen Workshops und ungewöhnlichen Konzertformen traf er den Nerv der Zeit und des Publikums, nicht nur die Liederhalle war bei jedem seiner Auftritte bis auf den letzten Platz ausverkauft. Wie ein Popstar umjubelt und durchaus unorthodox gekleidet, aber bescheiden und zugewandt in seinem Auftreten, machte er als "Probenmonster" aus seinen Musikern extrem engagierte Weltstars, mit denen er auch auf Tourneen im In- und Ausland viel Erfolg hatte. Gniffke ging auch auf die Tatsache ein, dass Currentzis einen russischen Pass hat und aus Verantwortung für die russischen Musiker seines Ensembles MusicaEterna zwar gegen den Krieg in der Ukraine Stellung bezogen, eine konfrontative Positionierung gegen Wladimir Putin jedoch stets vermieden hat. Zu Recht wies Gniffke darauf hin: "Benjamin Brittens War Requiem ist nicht nur eine der bedeutendsten Kompositionen des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein bewegendes  Symbol der Versöhnung, ein Statement gegen den Krieg schlechthin".

Das War Requiem entstand 1962 als Auftragsarbeit zur Einweihung der neuen Kathredrale von Coventry neben den Ruinen des historischen Sakralbaus, der von den Nazis im Luftkrieg gegen England völlig zerbombt wurde. Das anderthalbstündige Mammutprojekt ist der Appell eines Mannes an die Menschheit, der sich als Komponist, Dirigent und Pianist immer für die Jugend, den Frieden und die Völkerverständigung eingesetzt hat. Er sagte in einem Interview dazu: "Ich glaube einfach nicht an Macht und Gewalt", und er war ein großer Bewunderer und Freund von Dmitrij Schostakowitsch, den auch Currentzis verehrt. 

Die Texte des monumentalen Chorwerks bestehen aus der lateinischen "Missa pro defunctis" (Totenmesse) und Gedichten von Wilfried Owen, ein sprachmächtiges Gedenken der Gefallenen im Ersten Weltkrieg. Der Dichter selbst kam am 4. November 1918 starb als Soldat mit nur 25 Jahren bei Ors in Frankreich - nur wenige Tage vor dem Waffenstillstand. Sie stehen im Dialog oder Wechselgesang der Solisten von Tenor und Bariton, die nur von einem Kammerensemble begleitet werden, auf der einen Seite, und dem lateinischen Messtext, den drei Chöre und eine Sopranistin mit der großen Orchesterbegleitung singen. Tenor und Bariton streuen in englischer Sprache als imaginäre Stimmen von Gefallenen einst verfeindeter Lager ihre Erinnerungen und Gedanken über das Grauen des organisierten Massenmordes in die Texte der traditionellen Messe ein. Von fern erklingen die hellen Stimmen eines Knabenchors und die Orgel, die wie aus höheren Sphären von Erlösung und ewiger Ruhe künden.

Der Aufbau des Werkes in den sechs Sätzen folgt der klassischen lateinischen Totenmesse mit den bekannten Titeln Requiem aeternam, Dies irae, Offertorium, Sanctus, Agnus Dei und Libera me. Glockenklänge und tiefe Streicher begleiten den einleitenden Messtext Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, Und das ewige Licht leuchte ihnen. Und da sei ein Zitat erlaubt, um die Wucht der nachfolgenden Verse von Wilfried Owen in Übersetzung nachvollziehbar zu machen:

Welche Totenglocken läuten denen, die wie Vieh sterben?

Nur die ungeheure Wut der Geschütze,

Nur das Knattern ratternder Gewehre

Kann hastige Gebete herunterrasseln.

Kein Hohn für sie in Oitaneien oder Glocken,

Und keine einzige Stimme der Trauer, bis auf die Chöre,

Die schrillen, wahnsinnigen Chöre heulender Granaten

Und Hörner, die aus trostlosen Landschaften nach ihnen rufen.

 

Welche Kerzen sollen gehalten werden um sie auf ihrem Weg zu geleiten?

Nicht in den Händen von Knaben, sondern in ihren Augen

Möge das Licht des Abschieds leuchten.

Die Blässe junger Mädchen soll ihr Leichentuch sein,

Ihre Blumen die Zärtlichkeit der Schweigenden,

Und jede langsame Dämmerung ein Fallen des Vorhangs.

Der Knabenchor des collegium juvenum Stuttgart war effektvoll vorne an der großen Tribüne des Zuschauerraums platziert, das SWR Vokalensemble und der London Symphony Chorus auf der großen Chorempore über der Hauptbühne, auf der das SWR Symphonieorchester in großer Besetzung saß, davor der Dirigent, die Sopranistin Irina Lungu, der Tenor Allan Clayton und der Bariton Matthias Goerne. Allein diese Aufstellung macht schon klar, welche Mammutaufgabe da auf den Dirigenten wartete. Auch wenn er die Unterstützung des musikalischen Assistenten Gregor A. Mayrhofer und traditionell die Chorpartien durch Chorleiter einstudiert wurden (SWR Vokalensemble: Yuval Weinberg; collegium juvenum: Sebastian Kunz; London Symphony Chorus: Mariana Rosas) blieb die Aufgabe für den Dirigenten riesig, und er löste sie mit Bravour. Auf eine detaillierte Bewertung der Chöre und Solisten möchte ich wegen der Nähe des Werks zum modernen Musiktheater und den Carmina Burana von Carl Orff verzichten, weil ich nicht kompetent dafür bin. Der Gesamteindruck war jedoch mehr als stimmig, er war großartig.

Am Ende erklang nochmals ein leises Requiem aeternam dona eis, Domine zu Glockenklängen. Der Rest war Schweigen. Nachdenkliches, ehrfürchtiges, berührtes Schweigen. Das Publikum schwieg gut eine Minute, bevor der Beifallssturm losbrach. Als er endete, verließen 2000 tief berührte Menschen die Liederhalle wie Besucher eines Gottesdienstes eine Kathedrale. Was mir durch Mark und Bein ging angesichts des Schweigens von Currentzis, der es immer vorzieht, durch Kunst zu sprechen: "Die Zärtlichkeit der Schweigenden". Sie war sehr groß.

Einen kleinen Wermutstropfen muss ich aber in mein Lob gießen. Warum hat es keine große Projektion der deutschen Übersetzung der Gedichte von Wilfried Owen gegeben? Bei anderen Gelegenheiten war das möglich, und hier wäre so etwas eine wesentliche Hilfe bei der Aufgabe gewesen, die englischen Texte zu verstehen, die von den Solisten präsentiert wurden. So konnte das Publikum nur ungefähr das bekannte lateinische Textrepertoire der Chöre verfolgen, während man bei den anspruchsvollen lyrischen Reflexionen zum massenhaften Sterben im Krieg nur die Wahl hatte, seine Aufmerksamkeit auf die Musik oder den Text zu richten. Ich kann z.B. ganz gut Englisch, aber hier konnte ich kaum ein Wort verstehen. Schade. So saßen dann 2000 Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums mit der Nase im Textbüchlein da...



Samstag, 25. Mai 2024

Das erste Jahr: Tagebuch einer jungen Mutter

Anna Ospelt: Frühe Pflanzung. Limmat Verlag Zürich, 96 Seiten, 24 €

Eigenwillig, feinfühlig, poetisch: eine Art Tagebuch und auch wieder keines ist dieses Buch. Es ist kein Text, es ist viele, es entzieht sich einer schnellen Einordnung, und der Leser darf davon ausgehen, dass dies Absicht ist. Die studierte Soziologin und Pädagogin hat etwas Flirrendes, Zartes geschrieben, bei dem sich genaue, fast wissenschaftliche Beobachtung mischt mit einer Gefühlsintensität, die sonst eher lyrisch genannt wird. Sie zieht Vergleiche zwischen einer Pflanze und einem Menschenleben. Wie ein Setzling in die Erde gepflanzt, gegossen und bewacht wird, so wächst ein Kind während der Schwangerschaft im Bauch der Mutter und kommt zur Welt. Elementare Dinge also, die Ospelt auf eigentümliche Weise erkundend beschreibt. "Es sei noch kein Kind gewesen. Früher nannte man das eine Frucht!" Und wenig später: "Ich pflanzte eine mehrjährige Blume anstelle der Frucht. Grabe sie aus, grabe sie ein. Die Frucht hatte die Größe einer Rosenknospe bereits überschritten. Allerlei Knospengrößen schon gehabt. Man weiß nicht, in welcher Form die Knospe sich entfaltet hätte, in welcher Farbe, mit welchem Duft." 

Später wird es irgendwann heißen, das Kind rieche nach Mandarinen. Das erste von sieben Kapiteln endet mit einem poetisch-lakonischen Satz, der das eigene Leben, das Schreiben reflektiert: "Das Schreibgewebe beginnt, sich zu lösen." Das zweite und titelgebende beginnt im Garten, als im Herbst Eicheln ins Gras fallen. Sie notiert "Eicheln sind Erzählkapseln", und "Die Schwangerschaft ist ein ungewisses Feld. Die Freude über die Bewegung im Bauch ist ein erster Eindruck auf die Zeit mit dem Kind. Das Warten darauf auch. ...Ich schreibe mit, um bei mir zu bleiben." Das könne sie vergessen, wird ihr mehrfach gesagt. Vorsicht, vermintes Gelände: "Als würde der herausragende Bauch dazu einladen, mir zu nahe zu treten." Vaduz, wo Ospelt lebt, ist von den hohen Bergen des oberen Rheintals umgeben. Da sieht sie "Die Schneedecke fließt langsam die Hügel hinab."

Die Rubrik "Flora" gliedert sich einfach in die vier Jahreszeiten. Im Frühling kommt das Kind. "Ich sitze am Fenster und warte, bis E. neben mir aufwacht. Sie ist fünf Tage alt. ... Einzelne Knospern streckten ihre Köpfe aus der Erde, als wir das Hause kamen. Außerdem blühen auf der Wiese Primeln und Kokusse. ... Fortwährend dieses Öffnen und Schließen der Augen. Fortwähred diese Wachsein und Schlafsein." Was ist das, "Schlafsein"? Egal, es ist Ospelt. Sie beobachtet, dass der Blick des Kindes sich zunächst hauptsächlich nach innen richtet. Nach fünf Wochen kann das Kind lächeln und "sehr laut schreien."

Familien-Stilleben mit Hund und Humor: "Wir liegen wie Ölsardinen zu dritt im Bett, der Hund neben dem Bett. N. und ich blass um die Nase, E. rosig, der Hund schnarchend."  Die Hebamme bestärkt sie darin, zu schreiben und zu lesen. Schwangerschaft und Geburt waren kräftezehrend. "Ich stille, wickle, lese und notiere. Mache ich mehr, holt mich der Schüttelfrost ein. N. wickelt, kocht, putzt und geht seiner Erwerbsarbeit nach."

Sieben Wochen nach der Geburt beobachtet sie den innigen Blick der Tochter, die kleine Fettpolster an den Händen bekommt, gurrt und summt. Sie bemerkt fehlende Schreibtischzeit und braucht "kleine Freizeiten: unter der Dusche, in einem Brief, im Kunstmuseum. Mein Aufatmen darin." Sie bekommt ein schlechtes Gewissen davon, eine Enttäuschung, eine Pflicht nicht zu erfüllen, die Selbstaufgabe heißen müsste. "Ich widerspreche diesen Gefühlen vehement, trotzdem suchen sie mich heim."

Wenn Waldsäume im Sommer beginnen, sich abzuzeichnen, heißt das bei Ospelt: "Dunkelheit fließt vom Berg." Sie beobachtet und liest bestätigend von der "Ich-Schmelze in der frühen Elternschaft." Stellt fest, dass sie ein wenig mollig und lethargisch geworden ist. Die erste Beikost fürs Kind, die erste Lesung der Mutter sind notiert. Und: "Es fällt mir schwer, mir in dieser formlosen Zeit eine Form zu geben." Wenn die Tochter schläft, schreibt die Mutter. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Zettel, Ideen und Bücher. Nach fünf Monaten wäre die Elternzeit vorbei, und sie stellt fest: "Immer wieder überrascht es mich, wie müde und vergesslich ich bin. Noch immer".

Zehn Tage Urlaub in Zürich, in der leeren Wohnung der Schwester von N., genießt sie als "schöne, innige Zeit. Zu zweit mit E." Die bewegt sich, brabbelt und kräht fröhlich, führt mit der Stoffmaus lange Zwiegespräche. Neu ist nun: "Ich muss nicht mehr immer alleine sein, um zu mir zu kommen, sondern kann mit E. bei mir sein. Das ist eine neue Erfahrung, die wohltut." Noch eine Ospelt-Vokabel ist die für Schreibtischzeit: "Hirnzimmer", ein Rückzugsort, den man immer bei sich hat. Die Folge ist eine erneute Lesung, diesmal mit der ganzen "Familie". Das Wort löst bei Autorin und Partner Heiterkeit aus. Ein Lehnwort aus der volkstümlichen Zoologie wird vereinnahmt: "Natternhemden" nennt man die abgestreifte alte Haut von Schlangen nach der Häutung. "Als meine Großmutter älter wurde, alt wurde, wirkten ihre Blusen Jahr für Jahr größer und größer. Diese Blusen, ihre Natternhemden, trage nun ich. Sie sind meine Stillkleidung." - Ein ungewöhnlicher, eigenwilliger, eigener Sprachgebrauch.

"Nach und nach wachsen E. und ich aus unserem Kokon heraus," heißt es im Herbst. "Freiräume schimmern auf. ... Wir beginnen damit, dass E. regelmäßig mehrere Stunden am Stück bei ihren Großeltern verbringt." Anschließend riecht E. nach ihrer Großmutter. Frauen haben doch sehr feine Nasen. Ist es Schulung durch Parfüm? Der "Bergfreund" verändert sein Gesicht, hat nun rote Wangen und eine grüne Stirn. Die Mutter dünstet "Apfelstücke für E., die sie mit den Händen essen kann. Die Amseln picken das Gehäuse auf." Als das Kind zahnt, weint es nachts vor Schmerzen. Und dann wieder so ein poetischer Ausdruck: "N. und ich sind so müde, dass die Zeit schürfend vergeht."

Ospelt malt ihre Sprache in Bildern, die physisch werden. Damit sie ihren Schreibraum betreten kann, muss "ein babyfreies Fenster sich öffnen. Das ist neu. Die Tür im Brustkorb grenzt an meinen Schreibraum, abends schimmert Licht durch den Türspalt." Zugleich werden ganz handfeste Fragen gestellt und diskutiert: "Habe keine Antworten darauf, was richtig ist: wann wieder erwerbsarbeiten, wie viel. ... In jedem Fall ist die Burteilung falsch, der hauptsächlich Mütter ausgesetzt sind: die Maßregelung von Frauen mit Kind, die nicht erwerbsarbeiten. Die Maßregelung von Frauen mit Kind, die erwerbsarbeiten." Falsch sicher auch, dass Wahl und Spielfraum eine Frage von Privilegien sind oder die Erschöpfung vieler Mütter strukturell bedingt ist.

"Wäre das anders, wenn Fürsorgearbeit vergütet würde, anerkannt würde? Wenn Literatur und andere Künste, politisches, ökologisches und soziales Engagement anderkannt und angemessen vergütet würden?" - Schwierige Fragen. Der deutsche Schriftstellerverband VS hat genau aus solchen Gründen ein Mindesthonorar für Lesungen von 500 € beschlossen, mit der Folge, dass die Mitglieder kaum noch zu Lesungen eingeladen werden, weil kleine Veranstalter wie Buchhandlungen, Stadtbüchereien oder Vereine und Kirchengemeinden (also die große Mehrzahl der Veranstalter) sich dieses Mindesthonorar nicht leisten können.

Der Gang der Mutter verändert sich. Der Winter überzuckert die Berge. "Eine Amsel sitzt auf dem alten Apfelbaum und plustert sich. Ich hänge Apfelgehäuse zu den schneewangigen, am Baum übrig gebliebenen Äpfeln." Das erste Weihnachten zu viert sieht N., E., die Mutter und den Hund. Der Radius von Mutter und Tochter vergrößert sich. Das Kind sitzt auf dem Schoß und greift nach Büchern, Lesezeichen, Stiften und Briefen. "Wenn E. schläft, wird die Luft sanft. Samten."

Wie selbstverständlich ist die klaglose Arbeitsteilung junger Eltern, die Ospelt "Schichtienst" nennt: Das Kind zigfach in den Schlaf wiegen, eine Hälfte der Nacht er, die andere sie? "Hin und wieder wache ich nun vor E. auf und kann in Ruhe aufstehen, einen Kaffee trinken. Diese geschenkten Zeiten leuchten."

Zur Entspannung beginnt Ospelt, Miniaturgeschichten über eine pensionierte Frau Mörschil zu schreiben, die einen festen Tagesablauf hat und mit ihrem Papagei namens "Na und" den Abend allein vor dem Fernseher verbringt. Manchmal spaziert sie morgens mit E. los, um einen sehr starken Kaffee trinken zu gehen und Menschen zu sehen. Das Kind ist jetzt bald ein Jahr alt, und langsam wird der Alltag einfacher. "Weil N. und ich uns gewöhnt haben, an den sich stets  verändernden Rhythmus, an Kontrollverlust, an verringerte Bewegungsfreiheit. ... Weil wir ein hilfsbereites Umfeld haben. Weil wir nachts zunehmend besser schlafen. Weil die Liebe mitwächst."

Was am Ende bleibt, ist eine gesteigerte Achtsamkeit, ein noch genaueres, meditatives Hinschauen auf die Wege der alltäglichen Routine. "Schnee fällt zwischen die Zeilen". 

 

 

 

Mittwoch, 24. April 2024

Zu schön, um wahr zu sein: ein erotischer Thriller von Sara Gran

Sara Gran: "Das Buch der kostbarsten Substanz". Roman, Suhrkamp, 361 S., 17 €, aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch.

Das ist ein Buch für Autorinnen und Autoren, Buchhändler, Antiquare, Bücherfreunde, Sammler bibliophiler Kostbarkeiten und erotischer Druckwerke jenseits aller Schmuddelecken. Es hat mich schon auf der ersten Seite angefixt durch seine Atmosphäre. Lily, eine vom Glück verlassene Schriftstellerin, verdient das Geld für den Lebensunterhalt mehr schlecht als recht für sich, ihren komatösen Mann und dessen Pfleger mit einer Scheune voller Raritäten: "Meine Spezialität waren interessante Bücher, die möglichst viel einbrachten. Zum Beispiel besonders schöne Exemlare mit ausgefallener Bindung und ungewöhnlichen Illustrationen. Auch für obskure Themen, unbekannte Religionen oder fast vergessene histoische Begebenheiten hatte ich sehr viel übrig. Und ich liebte Bücher über Kunst. Oder Gegenkultur". 

Sie treibt sich viel auf regionalen Buchmärkten und Messen herum, um ihre Vorräte aufzufüllen. Bei einer solchen Gelegenheit kommt ein befreundeter Kollege auf sie zu und fragt nach einem exterem seltenen Werk, für das ihm jemand eine sehr hohe Provision angeboten hat: ein okkultes Handbuch über Sexualmagie aus dem Jahr 1620. Es hat fünf "Siegel", die unbegrenzte Macht und unerhörte sexuelle Wonnen versprechen, aber auch dunkle Kräfte freisetzen wenn man sie mit kostbaren menschlichen Substanzen bestreicht: Schweiß, Sperma, Vaginalhonig und weibliches Ejakulat sowie am Ende Blut eines Mordopfers. Die Suche nach dem Buch steht unter tödlichen Vorzeichen: Schon der Tippgeber wird ermordet, wenig später weitere. Andere Exemplare des handgeschriebenen Buches sind mit ihren Besitzern verbrannt, und angeblich ist nur noch eines von wenigen vollständig. 

Mit ihrem Freund begibt sich Lily auf eine abenteuerlichre Reise zu Buchbesitzern und Informanten um die halbe Welt. Nach bizarren Abenteuern und sexuellen Neuerfahrungen finden sie das "Buch der kostbarsten Substanz" tatsächlich und stellen fest, dass sich die Siegel weder kopieren noch fotografieren lassen. Vier Siegel kann Lily lösen, für das letzte wäre das Blut eines geliebten Menschen nötig. Doch schon die vier ersten machen etwas Unheimliches mit ihrer Seele. Sie kommt zu viel Geld, Ihr geliebter Mann wird gesund und der literarische Erfolg kehrt zurück. Aber nichts wird mehr so, wie er einmal war. Ein Sieg fühlt sich anders an.

Der Roman von Sara Gran ist eine grandios erfundene Recherche mit glaubhaften Elementen der Kriminal- und Erotikliteratur, voll von historischem Wissen über Okkultismus, bevölkert von Büchermenschen aller Art, reichen Sammlern ohne Gespür für Kunst und allerhand schrägen Figuren. Ein Buch über Liebe und Freundschaft, Sex und Magie - und über Gier. Ein Notizbuch aus der Erbmasse des ermordeten Tippgebers führt sie zu den ersten Informanten, und dann ergibt eins das andere, bis zu einem ziemlich blutigen Finale.
 

 

Donnerstag, 7. März 2024

Hybride Monstrositäten: Nicolas Novas "Bestiarium des Anthropozäns"

Nicolas Nova & Disnovation.org: "Ein Bestiarium des Athropozäns" mit zahlreichen Illustrationen, aus dem Englischen übersetzt von Dieter Fuchs, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023, 248 Seiten, 28 €

Es ist nicht nur der zur Jagd auf Drohnen abgerichtete Adler, es es sind viele Beispiele für hybride Mineralien, Tiere, Pflanzen, Pilze und "Gebrauchsgegenstände", die der Autor und Wissenschaftler Nicolas Nova mit dem Künstlerinnenkollektiv DISNOVA.org für den speziellen Fußabdruck der Menschheit zusammengetragen und in diesem Buch beschrieben hat. Das Anthropozän ist laut WIKIPEDIA das "Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist". In der Tat leben wir etwa seit dem Beginn des Industriezeitalters in einer hybriden Welt, in der Organisches und Synthetisches vielfach eine Einheit bilden. Der Einfluss des Menschen auf die Biosphäre ist allgegenwärtig, ja global, und geologisch nachweisbar. Herbert Simon schrieb 1990 in "Die Wissenschaften des Künstlichen": Ein Wald kann eine Naturerscheinung sein - ein Bauernhof ist sicherlich keine. Gerade die Spezies, von denen der Mensch in puncto Ernährung abhängt, sein Getreide und sein Vieh, sind Artefakte seiner Erfindungskraft. Ein gepflügtes Feld ist nicht in größerem Maße Teil der Natur als eine asphaltierte Straße - aber auch nicht in geringerem". Es gibt nur bisher kaum ein Bewusstsein davon.

Aus den zahllosen Beispielen für die "Fußabdrücke", mit denen der Mensch spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg die Welt prägt, versucht das "Bestiarium" eine vorsichtige Klassifizierung in vier Naturreiche: Zum Naturreich der Mineralien gehören etwa künstliche Riffe, neuerdings Häuser aus dem 3-D-Drucker, Betonbauwerke wie die Küstentetrapoden, die als Wellenbrecher dienen, oder die berühmten "Drachenzähne", die von Hitlers Westwall bis zur Ukraine Panzer aufhalten sollen. Künstliche Berge und Seen gehören ebenso dazu wie Hühnerknochen von Fleischhähnchen aus der Massentierhaltung, die sich von ihren natürlichen Verwandten derart unterscheiden, dass sie als Epochenmerkmal taugen.

Einige der spaktakulärsten Hybridformen in dieser Sammlung sind Bergwerks-Kanarienvögel und verschiedene andere Sensortiere. Vögel oder Einsiedlerkrebse gehörn dazu, die ihre Nester aus Plastik bauen, Spinnenseide, Mikroplastik in den Mägen verendeter Meerestiere sowie Spionagetiere mit Kameras und dergleichen. So tragen Albatrosse und verschiedene Zugvögel Satellitensender zur umfangreichen Sammlung wissenschaftlicher Daten über Vogelzug, Ernährungsverhalten, die Haltbarkeit von Partnerschaften etc. Geschützte Wölfe, Luchse, Elefanten und Nashörner, aber auch Raubtiere in Reservaten und Naturschutzgebieten geben auf diese Weise Auskunft über ihre Wanderungen und Reviergrößen. Das Wissen über die Natur und die Verträglichkeit von Tier und Mensch ist dank solcher Hilfsmittel schier unendlich gewachsen. Der bereits erwähnte Drohnen fangende Adler oder diverse Spürhunde gehören ebenfalls hierher. Für erfolgereiche Minen-Spürhunde, die ein Bein verloren hatten, wurden sogar schon Prothesen angefertigt. Aber auch "Rollator"-Wägelchen für gelähmte bzw. amputierte Hunde und Katzen sind relativ bekannt.

Frappierend auch, was sich im Kapitel über das Naturreich der Pflanzen findet: Würfelförmig gezüchtete Wassermelonen, die sich gut verpacken, transportieren und auf Märkten stapeln lassen, haben manche Tomatenbauern inspiriert. Kunstblumen und Kunstrasen kennt man schon lange, Stacheldraht auch. Aber gerade darum werden solche Dinge oft gar nicht mehr wahrgenommen. Dass Hecken und Plantagenwälder künstlichen Ursprungs sind, ist klar. Doch wie weit sie die Landschaft verändern, schon weniger. 

Eher Exoten finden sich im "Naturreich der Sonstigen" (wie ich finde, ein ziemlich einfallsloser Titel): Aus radioaktiven Pilzen, die in der Region Tschernobyl wachsen, kann man eine Creme herstellen, die Krebspatienten, Arbeiter in Atomkraftwerken oder Astronauten vor Radioaktivität schützt. Antibiotikaresistente Bakterien gäbe es nicht ohne den massenhaften Einsatz von Antibiotika durch Tierzüchter nicht. Das Corona-Virus Sars Cov 2 wäre ohne menschlichen Einfluss nicht entstanden. Legionellen kommen in der Natur vor, besiedeln aber in gefährlichen Konzentrationen nur von Menschen geschaffene Warmwasserleitungen (Duschköpfe), Speicher, Wasserhähne, Kühltürme von Kraftwerken oder Abflussrohre. "Geimpfte" Wolken und Kunstschnee sind Produkte zur Imitation von fehlendem Regen der Schneefall. Genutzt werden sie von Landwirtshaft und der Tourismus-Industrie in Skigebieten.

Ein abschließendes Kapitel ist grundsätzlichen Betrachtungen gewidmet. Da kann man Essays über Klassifizierung lesen, über Künstlichkeit, rekombinante Gemeingüter oder "anthopogene Landschaften". Das liest sich nicht immer einfach - auch schon rein optisch. Eine kleine Schrift in silbergrau auf schwarzem Papier ist anstrengend für die Augen. Vielleicht sollten Viel- und Schnell-Leser dadurch gebremst werden? Jedenfalls sind Pausen nicht dumm. Das "Bestiarium des Anthropozäns" ist ein kluges, lehrreiches Buch für Naturfreunde und Technikbegeisterte gleichermaßen. Es gibt eine Vorstellung davon, wonach zu suchen und was zu finden wäre, wenn in einer fernen Zukunft einmal Ausgrabungen durch Außerirdische  auf der Erde stattfinden sollten.


Sonntag, 21. Januar 2024

Musikalische Farbenspiele: Bach Schönberg und Bruckner beim SWR Symphonikeorchester

Martin Honeck beim Schlussapplaus
 
Manfred Honeck (geboren 1958 im österreichischen Nenzing), ist in Stuttgart kein Unbekannter. Der gelernte Bratschist begann seine Dirigenten-Karriere 1989 als Assistent von Claudio Abbado in Wien, war von 2007 bis 2011 Generalmusikdirektor der Stuttgarter Oper und ist heute Chefdirigent in Pittsburgh. Dieser Mann, der beim Schlussapplaus zwischen den "langen Kerls" mit den Geigen eher klein wirkt, gehört in der klassischen Musik zu den Großen. Am 18. und 19. Januar dirigierte er in der Liederhalle Stuttgart ein großartiges Abonnement-Konzert mit dem SWR Symphonieorchester.

Den Anfang machte Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge für Orgel BWV 552 in einer Bearbeitung von Arnold Schönberg für großes Orchester und die Sinfonie Nr. 7 E-Dur von Anton Bruckner. Schönbergs Bach-Bearbeitung zeigt nicht nur, wie gut Schönberg auch Wohlklang konnte und die rhythmischen Stärken bei Bach unterstrich. Das 17-Minuten-Stück ist zudem eine eindrucksolle Studie der Instrumentierung, bei der jedes Motiv Bachs durch die verschiedenen Instrumentengruppen wandert und dabei immer neue Klangfarben erzeugt. Die melodisch singende, immer wieder Motive der Volksmusik (etwa Alphörner) aufgreifende siebte Sinfonie Bruckners ist ein Meisterwerk der dynamischen Entwicklung zu monumentalen Crescendi von großer dramatischer Wucht. Hier hört man gut die Herkunft und Nähe des Kirchenorganisten Bruckner zum sakralen Pathos. Er war wie sein evangelischer Kollege Bach triefgläubig und zog gern auch als Symphoniker "alle Register", was mit einem Klangkörper aus über 100 Musikern dramaturgisch gut umsetzbar ist. Das Orchester erwies sich einmal mehr als ebenso routinuert wie souverän - aber durchaus nicht in dickköpfiger Verweigerung des Dirigentenwillens, sondern mit technischer Brillanz, Disziplin und Empathie für die harmoniesüchtige Spätromantik.

Leider saß die "Kritikerin" der Stuttgarter Zeitung auf ihren Ohren und erfand "unpräzise Einsätze", nannte den Paukeneinsatz bei Bach "als Haudrauf-Geräusch interpretiert" und fand bei rund 70 Minuten Bruckner, es "begann schon bald zu langweilen". Man kennt das inzwischen sattsam. Das Blatt hat ein Ideologie-Problem mit dem Öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Konkurrenz und versucht sich immer wieder in stellvertretenden Hinrichtungen von Weltklasse-Dirigenten. Die kesse Dame behauptete, Honeck habe das Orchester "von seinen Vorstellungen einfach nicht überzeugen" oder "seine Absichten nicht vermitteln" können. Das ausgesprochen fachkundige Publikum war jedenfalls anderer Meinung. Es reagierte begeistert, es gab sehr lang anhaltenden Applaus, Bravo-Rufe und Standing Ovations.

 

 

Freitag, 12. Januar 2024

Kampf gegen die Gespenster der Erinnerung

Dieter Schlesak: "Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr". Roman, Pop Verlag Ludwigsburg 2021, 503 Seiten, 29 €
 

"Nichts mehr kann mir passieren, es ist ja schon passiert." Das ist einer der Schlüsselsätze in diesem Roman, der den Erzähler im Schreiben vor dem Verschwinden rettet. Der lebt als "Freigänger" in einer psychiatrischen Anstalt und heißt mit einem abgespaltenen Teil seines Ich, der früher am Leben draußen teilhatte, Michael Terplan. Das Zimmer des Erzählers ist sein Zufluchtsort: leer bis auf das weiß gestrichene Anstaltsbett, Kleiderschrank, Tisch mit dem Laptop und Stuhl. Terplan ist sein wichtigstes Gespenst "aus der Zeit, in der es mich noch gab", das Gespenst seiner Erinnerung. Die anderen sind die Stimmen der Toten, die Terplan als nahe Verwandte und Freunde auf seinem Lebensweg begleitet haben und ihm nun durch den Kopf gehen. "Sie sind da, und wenn sie nicht tot sind, kann auch die Vergangenheit nicht vergangen sein." Die schreibt er auf, jetzt steckt sie in seinem Laptop: Literatur als Selbstvergewisserung, hier wortwörtlich Erinnerungsarbeit. Dabei sucht er das Gespräch mit der Toten und versucht, sich von einem Berg aus der eigenen schmerzlichen Biografie zu befreien, ein quälendes Gewicht von Geschichte, Traditionen, Begrifflichkeiten und ideologischen Verstickungen seines Elternhauses in Krieg und Deutschtümelei unter den Siebenbürger Sachsen.

Mehr als einmal ist dem Erzähler sein Leben um die Ohren geflogen, hat er alles verloren bzw. wurde ihm alles genommen - bis hin zur Identität. Die steckt jetzt nur noch und einzig in seinem Laptop, und den nehmen sie ihm auch in der Anstalt nicht weg. Es ist schwer (und zwar mit Absicht), zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Er fürchtet den Tod nicht, weil er die Wiedervereinigung mit all den Toten bedeutet, die er vermisst, sozusagen die einzige Möglichkeit der Heimkehr eines Unbehausten. Er fürchtet jedoch die angekündigten Elektroschocks, die ihn seines Gedächtnisses berauben werden - dagegen schreibt er an. Daher kehren auch autobiographisch geprägte Szenen immer wieder, die seine Leser schon aus den  Romanen "Vaterlandstage" (1986) und "TranssylWAHNien" (2014) kennen.

Dieter Schlesak wurde 1934 in Schäßburg/Rumänien geboren und starb 2019 im italienischen Camaiore. Nach dem Studium der Germanistik in Bukarest arbeitete er als Redakteur bei der deutschsrachigen Zeitschrift Neue Literatur und trat bald als Autor hervor. 1968 erschien sein erster Lyrikband im Bukarester Literaturverlag. 1969 emigrierte er nach Deutschland. Das Ost-West-Trauma und der Kulturschock des Wechsels vom Balkan nach Mitteleuropa beherrschten von da an sein Schreiben und Leben. Zahlreiche Auszeichnungen konnten daran nichts ändern. Um nur die wichtigsten zu erwähnen: 1980 der Andreas-Gryphius-Preis, 1993 der Nikolaus-Lenau-Preis, 2005 die Ehrendoktorwürde der Universität Bukarest.

Der Erzähler ist oft weggetreten, also in Gedanken, "also gar nicht da". Das passiert zwar den meisten, aber die Leute sagen, er sei krank. Seinen Pfleger findet er nett - ein komischer Kauz, ganz wie auch die Irrenärzte. "Ich glaube, die sind verrückter als wir." Er hat einen neuen Freund in der Anstalt namens Ritter Edler - "ein Schweizer, der aber viel in der Welt herumgekommen ist; er ist wegen einer bizarren Liebesgeschichte mit einer Lehrerin hier, er nennt sie die Weltglücksfrau, die ihm den Verstand geraubt hat, nicht aber die Vernunft und ein Wissen, das täglich in seinen lustigen Sätzen explodiert. Er ist der lebensbejahendste und positivste Mensch, den ich je kennengelernt habe. So wirkt er heilend auf mich."

An Besuchstagen kommen Terplans Frau Jann, sein Sohn Michael, sein Bruder Hannes, seine Schwester Carmen, die Nichten und Neffen, Schwäger und guten Freunde, sogar seine Exfrau Maria, Leserinnen und manchmal Kritiker. Von Schwester Erika hat er feuchte Träume, die sie nachsichtig weglächelt. Der Roman ist keine linear erzählte Geschichte, sondern ein ständiges Hin und Her der Erinnerungen. Manchmal ausgelöst durch konkrete Ereignisse wie Gespräche mit freundlichen Rumänen, die sein Elternhaus in Schäßburg bewohnen, als der Exilant nach Jahrzehnten der Abwesenheit erstmals wieder seine alte Heimat besucht, seine Auswanderung, die Grenzübertritte bei späteren Urlauben, die Besuche der heimatlos gewordenen Mutter und Ehefrau, das Heimweh der Alten. Träume. Friedhofsbesuche. Tagebücher. Behördengänge, Familienfeste. 

Mit so einem Buch wird kein Autor je ferig. Deshalb ist es posthum erschienen. Wenn Rückkehr und Heimkehr der Tod sind, dann bedeutet umgekehrt der Tod die höchste Form der Rückkehr - in die Erinnerung mit all ihren Brüchen, Narben und Wahrheiten.