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Sonntag, 26. Juni 2022

Kein Boykott: Ein Russisch-ukrainisches Konzert des SWR-Symphonieorchesters Stuttgart

Dima Slobodeniouk (mit Bart) und Vadym Kholodenko
Der russische Dirigent Dima Slobodeniouk wurde in Moskau geboren und erhielt seine musikalische Ausbildung auch in Finnland. Seit 213 ist er Chefdirigent des Orquestra Sinfónica de Galicia, seit 2016 auch Erster Dirigent des Lahti Symphony Orhestra und künstlerischer Leiter des Sibelius Festivals. Als Gastdirigent ein begehrter Mann, weil er zwei musikalische Traditionen aus Ost und West vereint. Sein Konzert mit dem ukrainischen Pianisten Vadym Kholodenko, in dieser Saison Artist in Residence beim SWR Symphonie Orchester in Stuttgart, am 23. und 24. Juni war wohltuend normal. 

Das Abonnementkonzert war lange geplant. Doch nun fiel es in eine Zeit der Absagen und Boykotte wegen des brutalen kriegerischen Überfalls von Wladimir Putin auf die Ukraine und in der Folge wütender Versuche nationalistischer Politiker in Kiew, Einfluss auf die Kultur zu nehmen: Programme und Veranstaltungen, bei denen russische und ukrainische Künstler zusammen auftreten, wurden reihenweise zur Zielscheibe einer Art von Zensur, die auch Komponisten und Autoren einsschließt, die schon lange tot sind. Der SWR und sein Orchester widersetzen sich dieser Auffassung, nach der manche Buchhändler russische Klassiker wie Dostojewski und Tschechow aus dem Programm nahmen und Konzertveranstalter massenhaft Engagements russischer Interpreten aufkündigten. Kunst darf niemals Geisel der Politik sein. Was vor dem Krieg selbstverständlich war, muss es bleiben. 

Folglich wurde das Programm nicht geändert. Es begann mit der "Rhapsodie über ein Thema von Paganini" von Sergej Rachmaninow (1873 - 1943). Die Virtuosität dieser Komposition lässt schon der Titel ahnen, denn Paganini war der "Teufelsgeiger" und Rachmaninow wollte ihn vermutlich noch übertreffen. Der technisch brilliante und einfühlsame Solist (geboren 1986 in Kiew) interpretierte dieses furiose Werk mit seinen schnellen Läufen in hinreißender Sicherheit und scheinbarer Leichtigkeit. Schon wie er mit dem Orchester in musikalischen Dialog trat, war ein Ohrenschmaus.

Nach der Pause dirigierte Dima Slobodaniuk eine Auswahl aus den Ballettsuiten Nr. 1 und 2 zu "Cinderella" von Sergej Prokofjkew (1891 - 1953). Das Märchen "Aschenputtel" ist bei uns durch die Brüder Grimm bekannt, doch schon im 9. Jahrhundert nach Christus tauchte die erste Variante der Geschichte in China auf. Prokofjew befreit seine Märchenfigur von allzu märchenhaften Zügen und macht ein junges Mädchen aus Fleisch und Blut daraus. Unter dem russischen Namen "Soluschka" kam die sowjetische Version 1950 zu Walt Disney und inspirierte ihn zu seinem berühmten Zeichentrickfilm "Cinderella". Das Orchester agierte mit gewohnter Souveränität und ließ vergessen, dass die Welt der Klassischen Musik schon immer international, bunt, groß und vielseitig miteinander verwoben war. Es wirkte aber alles wie gerade eben völlig neu entdeckt. Der Applaus war anhaltend und dankbar.

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