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Donnerstag, 23. November 2023

Das SWR Symphonieorchester Stuttgart feiert Wagner und Bruckner

Das Abonnementkonzert des SWR-Symphonieorchesters Stuttgart am 16./17. November war zwei großen Komponisten gewidmet, für die der großartige Dirigent Marek Janowski als Spezialist gilt: Richard Wagner und Anton Bruckner. Janowski (84), ein kleiner, meist ernst und stets konzentriert wirkender Mann, wurde ihn Warschau geboren und wuchs in Wuppertal bei seiner Mutter auf, wo er Klavier- und Geigenunterricht erhielt. Studiert hat er in Köln bei Wolfgang Sawallisch, und nach Stationen als Korrepetitor und Konzertmeister in Aachen, Köln, Düsseldorf und Hamburg wurde er Generalmusikdirektor in Freiburg. 1976 mit dem Deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet, setzte er seine Karriere in Dortmund, Köln und Berlin sowie als begehrter Gastdirigent fort. seine Gesamteinspielung von Wagners Zyklus "Der Ring des Nibelungen" mit der Staatskapelle Dresden (2004) ist wegweisend. Das Konzert begann mit Wagners Siegfried-Idyll, dem einzigen Instumentalstück des Großmeisters teutonischer Schwulst-Lyrik und Mammut-Opern. Eine prima Einstimmung, die die auch Nicht-Wagnerianer ansprechen konnte, gefühlvoll gespielt und mit sparsamer Gestik dirigiert. 

Dann sang die bekannte deutsch-italienische Wagner-Sopranistin Anja Kampe die "Wesendonk-Lieder": ein Star ohne Star-Allüren, in jeder Lage extrem sicher bei Intonation, Textverständlichkeit und Interpretation, trotz einer leichter Erkältung, für deren mögliche Folgen sie sich vorab entschuldigen ließ. Geboren 1968 in Zella-Mehlis in der damaligen DDR, heiratete sie nach der Wende einen Italiener und begann ihre Karriere in Turin. Die "Wesendonk"-Lieder schienen für die dramatische Sopranistin mit dem charmanten Lächlen nur eine leichte Übung der Stimmbänder zu sei, so unangestrengt war ihr Vortrag. Ein Genuss, der leider nach 20 Minuten schon wieder vorüber war.

Nach der Pause dann gab es die Sinfonie Nr. 3 d-Moll von Anton Bruckners (in der endgültigen Fassung von 1889): Das war einfach wunderbar, groß und nuanciert, feinfühlig und wuchtig. Ein Schmankerl hatte das Programmheft noch zu bieten: Ein Scherenschnitt-Porträt von Wagner und Bruckner, eine Karikatur von Otto Böhler (1847 - 1913). Bruckner kannte Wagner und verehrte ihn geradezu katzbuckelnd. Er hat Wagner seine 3. Sinfonie (die mehrfach umgearbeitet wurde) gewidmet. Auf dem sorgfältig kalligraphierten Titelblatt ist zu lesen "dem unerreichbaren, weltberühmten und erhabenen Meister der Dicht- und Tonkunst in tiefer Ehrfurcht". Das Publikum erlebte ein Orchester und einen Dirigenten, die sich trotz knapper Probenzeit blind verstanden. Lang anhaltender Beifall war die Belohnung.

Mittwoch, 1. November 2023

Ein Suhrkamp-Thriller thrillt nicht wirklich

Na ja, Jonathan Moore hat einen sexy Krimi geschrieben, und wenn einem wirklich langweilig ist, mag man ihn lesen: "Poison Artist" (350 S., 16,95 €) hat viel mit Gift und wenig mit Kunst zu tun. Es werden ziemliche Mengen Absinth getrunken und es entpuppt sich eine geheinnisvolle Schöne aus den Bars von San Francisco als Giftmischerin - oder doch nicht? Das Zitat von Stephen King (der ein echt guter Autor ist) auf dem Cover ist wohl kaum mehr als ein PR-Gag. Serienmorde sind zur Zeit Mode, doch nach der dritten "Wachsleiche" konnte ich zeitweise das Gähnen kaum unterdrücken. Der Leser erfährt viel über die Arbeit eines forensischen Toxikologen und wenig über die Motive bzw. die Vorgehensweise des Killers/der Killerin. Absonderliche Rituale beim Trinken, für die man ein Spezialbesteck braucht, wirken maniriert. Es gibt unerklärte Rückblenden und die Vermutung, die schöne Emmeline könnte der Geist einer histoischen Figur sein, die in einem merkwürdigen Spukhaus (wieso untersucht das niemand?!) als Porträt an der Wand hängt, aber keine Aufklärung. Was war das für ein merkwürdiger, anscheinend nicht sexueller Missbrauch in der Geschichte dieser Frau, die mit ihrem Vater und als sein mörderisches Instrument (wie das nun?) viele Jahre lang in Papas Auto gelebt und ihr Leben in einer Haftanstalt ausgehaucht hat? Hat sich der Toxikologe am giftigen Absinth um den Verstand gesoffen? Bis auf einige künstlich erzeugte Wachsleichen gibt es kaum Handfestes, kaum einen Plot. Furcht erregen geht anders, vor allem an Halloween.
 

 

 

Samstag, 21. Oktober 2023

Welcher Zeichner will Kinderbuch draus machen?

Ich bin promovierter Katzenretter (eigentlich Kater-Retter, wie mir jetzt auffällt): Schon als Junge habe ich in Salzburg den Nachbarkater Murrli von der Kastanie gerettet, indem ich ihn ins Hemd steckte, weil ich beide Hände für den Abstieg brauchte. Zum Dank hat er mir in Panik hübsch den Bauch zerkratzt. Viele Jahre später kletterte unser schwarzer Siam-Mischling Fiesco alias Bubu aus dem Badezimmerfenster aufs Dach und traute sich nicht zurück. Ich also im 5. Stock todesmutig aus dem Wohnzimmerfenster übers Schneegitter zu Bubu und den Ausreißer übers Kippfenster zurück  ins Bad bugsiert. Gottlob saß er darunter auf dem Gitter und kam nur nicht wieder hoch, weil seine Krallen an dem Dachschindeln abrutschten. Für die Rettungsdecke, die wir zuerst probierten, war er zu doof. Zwei Jahre später inspizierte er gerade die hohe Eiche im Garten und war ganz weit oben, als ein Gewitter aufzog. Ich weiß nicht, was ihm mehr Angst machte, die Höhe oder das Donnergrollen. Gottlob hatte der Nachbar eine lange Leiter, damit konnte ich Bubu (alias Fiesco zu Genua, der Schwarze Othello war schon anderweitig besetzt) sicher bergen. Heute kann ich leider nicht mehr so kraxeln.

Attila lebt in den hohen Bergen von Rauris im Naturpark Hohe Tauern, aber manchmal liebt er es noch einmal höher, weil es ihn irgendwie irgendwo juckt. Dann nimmt er den Apfelbaum meiner Freundin Susanne im Sturm. Doch bald bereut er seinen Drang und maunzt ziemlich jämmerlich. Aber nur manchmal. Meistens schaut er nur angeberisch nach unten, weil große Kater eben keine Angst zeigen, außer sie vergessen es mal. Dann bleibt Frauchen das Herz stehen. Glaubt mir, wenn die Kühe ihre Köpfe schütteln, hat sich Attila ganz schön hoch hinauf gewagt. Erfahrene Katzenretter haben für solche Fälle immer zweierlei bereit: ein Sprungtuch und eine Katzenpsychologin, die dem armen Kater klar machen kann, dass ein mutiger Sprung in dieses ausgebreitete Tuch keine Feigheit ist und seinen Stolz nicht verletzt. Es kann sein, dass die ganze Familie zusammenhelfen muss, damit das Tuch oder die Decke richtig verlockend ausgebeitet wird und nicht auf den Boden kracht, wenn der zarte Attila mit seinen 6 wohlgenährten Kilo Kampfgewicht plötzlich darin landet.

Welchen Illustrator hat Lust und Luft, aus diesen Geschichten ein Kinderbuch zu machen?

Sonntag, 24. September 2023

"Tritt in die Fresse"

So verroht ist also inzwischen die Sprache etablierter Feuilletons, wenn der blanke Hass regiert. Teodor Currentzis, der Chefdirigent des Stuttgarter SWR Symphonieorchesters, ist ein genialer Star, ein umjubelter und beliebter Musiker der Extraklasse. Der Grieche hat aber auch einen russischen Pass und ist politisch umstritten. Vor allem seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine wirft ihm eine kleine, aber lautstarke Gruppe vor, sich nicht ausreichend deutlich gegen Vladimir Putin zu positionieren und öffentlich von dessen Krieg zu distanzieren. Besonders respektlos und aggressiv agiert dabei Moritz Eggert, Präsident des Verbandes deutscher Komponistinnen und Komponisten. Der Mann polarisiert und polemisiert, wo er nur kann. Und zu seinem Sprachrohr hat sich die Stuttgarter Journalistin Susanne Benda gemacht, die für die "Stuttgarter Zeitung" und die "Südeutsche Zeitung" schreibt (die beide dem gleichen Verlegerkonsortium gehören). Hier ist ein spezieller, besonders infamer Populismus  zu beobachten, der immer öfter in die unterste Schublade sprachlicher Verrohung greift. Die Blaupausen dafür liefert der feine Herr Moritz Eggert. Doch niemand zwingt dazu, dessen Entgleisungen auch genüsslich zu übernehmen. Außer, die Herren Verleger wollen das so. Man kann ja über Currentzis denken, wie man will. Und einen Krieg zu verurteilen kann doch nicht schlecht sein, oder? Aber so zu reden wie Moritz Eggert, ist undiskutabel und sollte es bleiben: "Zu diesem Krieg zu schweigen, ist ein Tritt in die Fresse von Schostakowitsch, Herr Currentzis!"

"Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten" (Hanns Joachim Friedrichs). Gegen diesen Ehrenkodex ihrer Zunft verstößt Susanne Benda von der "Stuttgarter Zeitung" mit unschöner Regelmäßigkeit, wenn es um den Chefdirigenten des SWR Symphonieorchesters Stuttgart geht. Der zieht es nämlich vor, sich der Kunst zu widmen und nicht dem russophoben Geschrei von Leuten, die die um jeden Preis eine eindeutige Positionierung gegen Vladimir Putin und seinen Krieg fordern - bis hin zur Nötigung und ohne Rücksicht auf die Folgen, die sie ja nicht selbst tragen müssen. Wobei es stets Sache der selbst ernannten Moralwächter bleibt, wie viel Positionierung denn nun genug ist und welche nicht. Es ist meiner Meinung nach besonders perfide, die pöbelnde Wortwahl der untersten Schublade von Eggert als Zitat zu übernehmen, ohne sich zumindest verbal davon zu distanzieren. Ich finde, das erfüllt alle Merkmale einer politisch motivierten Hexenjagd. Denn weder schweigt Currentzis zu diesem Krieg, noch tritt er Schostakowitsch "in die Fresse". Er verehrt ihn vielmehr, das zeigen viele Konzerte der letzten Jahre mehr als deutlich. Der Gossenjargon führender Kulturvertreter gegenüber einem überragenden Künstler, der sich einfach der geforderten Unterwerfung unter bestimmte Formen des Kotau verweigert, bringt solche Leute zur Weißglut. Mit Schaum vor dem Mund lobt Frau Benda den Dirigenten Currentzis in den höchsten Tönen, um dann festzustellen: Die Schere zwischen Politik und Kunst schließt sich bei Currentzis so wenig wie bei Schostakowitsch. Auch wenn sie das gerne anders hätte, sie wird es aushalten müssen. Auch wenn es, mit Verlaub, eine Schande ist, wenn sie so ein wunderbares Konzert zum Podium für ihre Schmutzkampagne herabwürdigt.

Eine großartige Uraufführung erlebte das Publikum nämlich am 22. und 23. September beim ersten Abonnementkonzert des Stuttgarter SWR Symphonieorchesters zum Auftakt neuen Saison in der Liederhalle: "Gospodi Vozvah", eine Psalmodie für Viola und Orchester, großartig und intensiv gespielt von dem französischen Bratschisten Antoine Tamestit. Als Chefdirigent Teodor Currentzis und der Solist den serbischen Komponisten Marko Nikodijevic beim Schlussapplaus auf die Bühne holten, stand er da ein bisschen schüchtern und verloren, sichtlich war ihm so viel Lob und Aufmerksamkeit  fremd. Zur Zeit kenne ich keine ergreifendere Trauernusik auf den Zustand der geschundenen slawischen Seele im Krieg. 

Ganz anders nach der Pause die Sinfonie Nr. 13 B-Moll von Dmitrij Schostrakowitsch (Babi Jar). Die Komposition ist eine Klage über den größten Massenmord an Juden außerhalb der Vernichtungslager. Am 29. und 30. September 1941 erschossen in einer Schlucht bei Kiew deutsche Soldaten und ihre ukrainischen Helfer über 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Jewgeni Jewtuschenko beklagte in dem Gedichtzyklus "Babi Jar", dass wegen des latenten Antisemitismus in Russland niemand bereit war, dort auch nur eine Gedenktafel zu errichten. Noch Nikita Chruschtschow wollte diesen Massenmord totschweigen. Die Vertonung der Jewtuschenko-Gedichte durch Dmitrij Schostakowitsch und ihre Uraufführung waren daher auch 1962 noch riskant. Die Texte sangen ein hervorragend einstudierter Estnischer Nationaler Männerchor und als Solist der herausragende russische Bass Alexander Vinogradov. Ein ergreifender dramatischer Abend. Das Publikum bedankte sich mit Bravorufen, stehenden Ovationen und lang anhaltendem, begeistertem Applaus.


Freitag, 8. September 2023

Lyrik-Ausstellung im Poesiereservat Schriftstellerhaus Stuttgart

 
Lyrik auf engstem Raum im fast 400 Jahre alten Fachwerk: Seit 1984. In diesem Jahr leitete Johannes Poethen (1928 - 2001), Gründer des Vereins Stuttgarter Schriftstellerhaus, das erste Lyrikseminar der Bertelsmannstiftung in dieser damals neuen Begegnungsstätte für Autorinnen und Autoren. Das Konzept: Alle lesen reihum neue Gedichte vor und kritisieren sie - in der Sache streng, in der Form stets wertschätzend und freundlich. Die Gruppe traf sich weiter zum "Gedicht-Putzen" nach Poethens Verfahren: Wer gelesen hat, hält den Mund, bis alle anderen etwas dazu gesagt haben. 7 der 12 Teilnehmerinnen und Teilnehmer schreiben immer noch. In der Pandemie war kein Treffen möglich, und so kam Wolfgang Brenneisen 2020 auf die Idee einer Porträt-Serie. Je ein Text aus der "Gründerzeit" und aus den letzten Jahren lassen die Bilder sprechen.

Ich erinnere mich noch gut an das 1. Lyrikseminar der Bertelsmannstiftung im "Häusle", wie wir das kleine Fachwerkhaus seit der Eröffnung liebevoll nennen. Dass hier schon wahrlich Großes entstanden ist, mag der Hinweis verdeutlichen, dass viele der damals jungen Leute bis heute schreiben, teils Preise erhalten haben und sehr erfolgreich publizieren. So auch 7 der 12, die damals mit ihren Manuskripten nervös um einen großen Tisch mit Poethen saßen, der Grauen Eminenz. Posthum führt er also eine Art virtuellen Vorsitz auch in der Ausstellung.

Der erste Lockdown nahm auch uns die physische Basis für gemeinsames Gedichteputzen. Der Lyriker und Grafiker Wolfgang Brenneisen hatte die Idee, unsere Köpfe nach Fotografien als Briefmarkenserie zu gestalten - frei nach und inspiriert von Andy Warhol. Er schickte mir Proben, ich gab sie weiter an Manfred Bartsch, Sybille von Bremen, Carmen Kotarski, Irma Rommel und Eva Christina Zeller. Alle steuerten etwas bei. Doch es dauerte. Und es dauert immer noch. Damit endlich einmal ein Ergebnis zu sehen ist, entstand eine Schwarz-Weiß-Broschüre als erster "Zwischenschritt" auf dem Weg zur Ausstellung mit einer Lesung (am 7. Oktober ab 17 Uhr).
 
Die Ausstellung am "Tatort Schriftstellerhaus Stuttgart" sollte uns aus der Isolation holen und aktiv in einem kreativen Projekt verbinden, aber auch ein trotziges, buntes Zeichen der Lebensfreude setzen: Wir sind noch da! Die Auswahl sollte klein und streng konzentriert bleiben auf noch aktive Teilnehmer der Poethen-Runde von 1984. Zu jedem Porträt mit Kurzbiographie kommen zwei Textblätter: ein Gedicht aus den 80er Jahren und ein aktuelles. Poethen selbst ist auch hier die Ausnahme, weil er nicht mehr unter uns ist. Der ausgewählte Auszug des Zyklus "ach erde du alte" aus dem gleichnamigen Gedichtband von 1981 ist mehr als 40 Jahre alt, aber von bestürzender Aktualität und großer poetischer Wucht. Wir danken dem Verlag Klett-Cotta für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks. Mehr zu zitieren verbietet sich hier. Die Gäste der lyrischen Feier zum 40. Geburtstag des Schriftstellerhauses sollten ja schließlich am 19. September ab 16.30 Uhr noch etwas zum Schauen und Lesen vorfinden. Eine Lesung der Gruppe gab es am 7. Oktober. https://blog.lerchenflug.de/eine-starke-gruppe/
 

















 

 

Freitag, 4. August 2023

Feindliche Übernahme: skurrile Erzählung von Michael Krüger

Michael Krüger: "Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah". Erzählung. Suhrkamp Verlag, 220 Seiten, 22 €
 

"Da ich zu denen gehöre, die lieber beobachten als reden, fahre oder fliege ich am liebsten allein, um andere beim Reden zu bebachten." So charakterisiert sich der Ich-Erzähler ziemlich zu Anfang, um gleich ins Räsonnieren und Kommentieren zu fallen, weil sich der Abflug verzögert (wie üblich an einem Freitag Abend, meint der Vielflieger). Er ist extra lang festgehalten "an einem Nicht-Ort, den man normalerweise betritt, um schnell wegzufliegen". Die vorherrschende Tonart ist also Sarkasmus.

Mit diesem Sarkasmus führt der Ich-Erzähler innere Monologe, die bei seiner Cousine anfangen, mit der er eine Künstleragentur in Paris betreibt. Es geht weiter mit deren Sekretär Raul, der ihn zum Flughafen gefahren hat, an dem er aber sonst kein gutes Haar lässt, die Karawane der Anzugträger mit Rollkoffer und Laptop-Tasche, Gruppen exotisch gewandeter Afrikaner und anderer Passagiere. Mittendrin im Gewimmel fällt ihm ein älterer Mann auf, ein komischer Vogel mit dem Aussehen einer überfressenen Vogelscheuche, der offensichtlich die Orientierung verloren hatte: "Er machte drei Schritte, hielt inne, ging wieder zurück, kramte aus seiner Manteltasche das Ticket hervor, hielt es sich vor die offenbar kurzsichtigen Augen und steckte es wieder zurück. Mein Blick blieb an ihm hängen, weil er der Einzige war, der nicht so aussah wie die anderen." - Sie ahnen es schon, werter Leser: Der Typ ignoriert die aufgetakelte Damenwelt ringsum und steuert zielgenau den Ich-Erzähler an, der in einem hilflosen Akt der Selbstverteidigung automatisch seine zerfledderte Tasche auf den linken und seinen Mantel auf den rechten Nebensitz fallen lässt, damit dieser Mensch vorübergehen möge. "Warum weiß man instinktiv, neben wem man auf keinen Fall sitzen will?" 

Zu spät. Der Namenlose sagt (und fragt nicht etwa) "Ist hier noch frei, ...und hatte schon meinen Mantel in der Hand, den er, ohne eine Antwort abzuwarten, einfach auf den nächsten Sitz warf." Es folgt zwar keine pflichtbewusste Minimal-Konversation, aber  eine eingehende Beobachtung des besitzergfreifenden Orson-Wells-Verschnitts nebst psychologischer Begutachtung. Wer oder was könnte das sein? Ein Schriftsteller? Ein Schauspieler? Ein Philosoph? Jeder scheint ihn zu kennen, aber niemand weiß, wie er heißt. Und wer ihn noch nicht kennt, will unbedingt seine Bekanntschaft machen. Im Flughafen hat er sich aufgedrängt, und dann im Hotel, das sie beziehen mussten, weil der Flug wegen einer technischen Panne erst am nächsten Morgen gehen würde, seine Minibar leergetrunken, ohne bezahlen zu können. Der Ich-Erzähler, statt den Quälgeist loszuwerden und der Polizei zu überlassen, begleicht die Rechnung von weit über achtzig Euro, ohne die Zumutung zurückzuweisen, er sei der Sohn des angegammelten Verschnitts aus Marlon Brando und Orson Wells, der angeblich seine Brieftasche mit allen Dokumenten und Scheckkarten verloren hat. Er übernahm Verantwortung für einen maximal verantwortungslosen Schmarotzer und hemmungslosen Proleten im Herrenmenschen-Gestus - ein folgenschweres Eigentor.

Es gibt diverse Märchen über die Bestrafung der Gutherzigkeit mitleidiger Menschen durch einen Dibbuk oder Dschinn. Am besten gefällt mir eine Variante in den Erzählungen von Sindbad dem Seefahrer aus der Sammlung "1000 und eine Nacht". Da kommt Sindbad als Schiffbrüchiger auf eine scheinbar unbewohnte Insel und trifft am Ufer eines Flusses auf einen Zwerg, der ihn um Hilfe beim Überqueren des Gewässers bittet, da er nicht schwimmen könne. Hilfsbereit nimmt er ihn auf seine Schultern - und kommt nur knapp mit dem Leben davon, weil der hinterhältige kleine Kerl mit jedem Schritt schwerer wird und seine Beine mit unmenschlicher Kraft um den Hals seines Helfers schlingt.

In München logiert der Typ in der Wohnung des Erzählers, in dessen Agentur besetzt er ungefragt den Schreibtisch Chefs und bereitet als "Produzent" einen großen Film vor, fängt an Strippen zu ziehen und Hebel in Bewegung zu setzen, hält Hof in Restaurants, deren Rechnungen er nicht bezahlt, schreibt gnädig unleserliche Autogramme in hingehaltene Bücher und bringt allein durch seine Anwesenheit als Großvater des Chaos alles durcheinander. Am Ende, als man ihm gerade auf die Schliche kommen könnte, gibt er den Löffel ab und geht mit dem Spitznamen "Jona" in die ewigen Jagdgründe ein - unter Hinterlassung angemessener Nachrufe auf eine unersetzliche Künstlerpersönlichkeit. Die Beerdigung ist eine gesellschaftliche Sensation, der Leichenschmaus reißt ein letztes ordentliches Loch in den Kontostand des Erzählers und wird ein rauschendes Fest.

Die Moral von der Geschicht ist möglicherweise, dass viele von uns insgeheim auf die Ankunft einer Figur warten, die sie aus dem Tritt bringt. Und voilá: Michael Krügers aberwitzige "Chronik der laufenden Ereignisse" zeigt, dass unsere Alltagsgewissheiten und Sicherheiten höchst unsicher sind sowie dass entsprechende Erwartungen geradezu zwangsläufig nach Täuschung und Enttäuschung schreien. Michael Krüger (Jahrgang 1943) war langjähriger Lektor des Carl Hanser Verlags, vielen Lesern ist er besser bekannt als Lyriker und Erzähler.


Montag, 19. Juni 2023

Das SWR Symphonieorchester: einmal Strawinsky und zurück

Am 15./16. Juni gab das Abo-Konzert des SWR Symphonieorhesters ein reines Strawinsky-Programm mit dem bekannten Gastdirigenten Ingo Metzmacher. Das ist in dieser Form nicht alltäglich: "Sinfonien für Blasinstrumente" (1947) zum Auftakt und nach dem elfminütigen Lehrstück über Zwölftonmusik folgte die Ballettmusik "Agon" (Wettkampf, 1954 - 1957), wo in 26 Minuten eine kontrapunktisch komprimierte Musik reiner Klangfarben und Körperfiguren zu hören war, die stark von der Zwölftönigkeit beeinflusst ist. Da sind 16 einzelne, unzusammenhängende Sätze ohne Bühnenbild oder Szenerie, sie lassen viel Freiheit für Choreographen. Es gibt in der Rhythmik leise Anklänge an ein französische Tanzlehrbuch aus dem 17. Jahrhundert, dass ihn inspiriert hat. Auch melodische Ideen, die er meist bis zur Unkenntlichkeit "übermalte", schimmern durch: Sarabande, Gaillarde und Branle aber sind nur für Fachleute noch identifierbar. Typisch: Nirgendwo kommt das ganze Orchester gemeinsam zum Einsatz, stets sind nur einzelne Instrumentengruppen aktiv. Spätestens hier war klar: Mit den Erfolgsmustern es Frühwerkes mit "Feuervogel" (1910), "Petruschka" (1911/46) oder "Le Sacre du printemps" (1913) hat das alles nichts mehr zu tun.
Das man es hier mit einem wenig bekannten Strawinsky zu tun hatte, war auch nach der Pause deutlich. Mit den rund 6 Minuten kurzen Variationen "Aldous Huxley in memoriam" schuf Strawinsky 1963/64 sein erstes vollständig nach seriellen Prinzipien konstruiertes Stück. Er hat es dem Science-Fiction-Autor Aldous Huxley gewidmet, der im November 1963 starb. Der Autor des Bestsellers "Schöne neue Welt" lebte wie Strawinsky in Los Angeles, und die beiden waren sei 20 Jahren befreundet. Auf den Spuren von Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart schrieb Strawsinsky 1938/39 die "Symphonie in C". In dieser Zeit starben seine Frau Jekaterina und seine Tochter Ludmilla an Tuberkulose, und Strawinsky empfand die Arbeit an dieser Symphonie geradezu als Erholung. Anfangs war Strawinsky durchaus ein Anhänger der Wiener Klassik. Doch in diesem Konzert bildet die Hommage an Wien im Salto rückwärts einen versöhnlichen Schluss nach dem radikalen Stilbruch des Komponisten.

Das Konzert war keine leichte Kost und eher eine akademische Übung, die Liederhalle daher ungewöhnlich schwach besucht und der Applaus lediglich höflich bis freundlich.

 

Sonntag, 18. Juni 2023

Aus meinem Bücherregal: Jerusalem in Großaufnahme

Ein Freund hat es mir anlässlich einer gemeinsamen Lesung im April geschenkt, und da war es noch kalt und nass. Der Autor Wolfgang Büscher (geboren 951, wie ich) ist Journalist und war mir unbekannt, weil er für die "Welt" schreibt. Doch als Freund von Reiseliteratur hätte der Mann mir schon früher auffsllen können: 1998 erschien sein Buch "Drei Stunden Null", 2003 "Berlin - Moskau", 2006 "Deutschland, eine Reise" und 2011 "Hartland". Der vorliegende Band ist Ende 2014 bei Rowohlt Berlin erschienen. Nicht mehr taufrisch also, aber zeitlos schön, gut und wichtig: Das Buch ist ein präziser, nicht unkritischer, aber immer liebevoller Blick ins Herz der Hauptstadt der drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Ich konnte mir Anfang des Jahres 2020 selbst den großen Wunsch erfüllen, diese Stadt zu sehen und zu erleben. Ich habe ein Tagebuch darüber geschrieben und in der Kulturzeitschrift BAWÜLON beim Pop Verlag Ludwigsburg in Fortsetzungen veröffentlichen dürfen. Ich war nur drei Tage in Jerusalem und Büscher ganze drei Monate. Da konnte er dem Rätsel Jerusalem wesentlich näher kommen als bei einem noch so intensiven Kurzbesuch. Trotzdem erkannte ich vieles, fand mich in Beobachtungen wieder und konnte manches lernen. Dankenswerter Weise enthält Büschers Buch einen kleinen Plan der Altstadt (leider keine Fotos, das hätte die Produktion wohl zu teuer gemacht).

Nur zwei Dinge fehlen: Büscher beschreibt keinen Besuch in einer Synagoge, während für mich eines der intensivsten Erlebnisse genau das war: ein gemeinsames Konzert meiner Degerlocher Kantorei mit dem Jeruslem Oratorio Choir in einer Reformsynagoge. Wir waren aufgewühlt von einem langen Besuch in der Gedenkstätte Yad Vashem und wurden mit großer Herzlichkeit und "Locus iste" von Anton Bruckner empfangen. Dann sangen wir gemeinsam Auszüge aus der "Schöpfung" von Joseph Haydn. Und weil dieses Zusammentreffen der Orte, Menschen und Ereignisse mich so berührt hat, wäre ich auch neugierig gewesen auf Büschers persönliche Eindrücke von Yad Vashem. Das ist aber keine Kritik, nur sehr persönlich. Wir hatten trotz der knappen Zeit wunderbare Gespräche mit wunderbaren Menschen, an die ich mich gern erinnere. Büschers Buch hält diese Erinnerungen wach, denn auch er suchte das Gespräch mit den so unterschiedlichen Menschen in dieser zerrissenen Stadt. 

"Ein Frühling in Jerusalem" ist eine ausführliche Begegnung mit dem geheimnisvollen, leidvoll erlebten Sehnsuchtsort so vieler Pilger auf der Suche nach Frieden, der seit 3000 Jahren selbst keinen Frieden findet.

 

Sonntag, 21. Mai 2023

Zehn Jahre Hans-Christoph Rademann, Bachakademie Stuttgart

Hans-Christoph Rademann (Foto: Holger Schneider)    

So kennt man ihn: hoch konzentriert, kompetent und sensibel. Als Hans-Christoph Rademann vor zehn Jahren als Nachfolger von Helmuth Rilling die künstlerische Leitung der Internationalen Bachakademie Stuttgart übernahm, fürchteten manche, die Fußstapfen des "Alten" seien vielleicht zu groß für den Neuen. Weit gefehlt! Als der Mann aus Schwarzenberg im Erzgebirge seine Pläne für die Saison 2023/24  vorstellte, zeigte sich einmal mehr, dass er sich noch nie mit halben Sachen zufrieden gegeben hat und auch nie geben wird. Unter dem Motto »VISION.BACH« wird die Gaechinger Cantorey, das Ensemble der Bachakademie, sämtliche Kantaten Johann Sebastian Bachs aus dessen erstem Jahr als Leipziger Thomaskantor aufführen und als CD-Einspielung produzieren. Dreihundert Jahre nach ihrer Komposition werden diese Werke nun aus einem Guss präsentiert: ein "Knaller", neudeutsch gesagt. 

 

Hans-Christoph Rademann: Zehn Jahre Leitung der Internationalen Bachakademie

Im Sommer 2013 übernahm Hans-Christoph Rademann die Leitung der Internationalen Bachakademie von Helmuth Rilling. Und jetzt stehen alle Schlange, um zu gratulieren: Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, der Stuttgarter Kulturbürgermeister Fabian Mayer und der Vorstand der Stiftung Internationale Bachakademie Stuttgart würdigen eine bemerkenswerte Entwicklung, spektakuläre und bewegende Konzerte. Mit Herz und Hirn, Können und diplomatischem Geschick hat sich Rademann engagiert. Zugewandt und überzeugend hat er es auch in schwierigen Zeiten geschafft, neues Publikum, vor allem junge Leute, für Alte Musik zu gewinnen und auch die Herzen von Sponsoren zu öffnen.

Rademann hat die Gaechinger Cantorey als Originalklangensemble aus Chor und Orchester neu gegründet und damit den Grundstein für eine eindrucksvolle musikalische Erfolgsgeschichte gelegt. Er bundet ein hoch motiviertes und qualifiziertes Team nicht nur bei den musikalischen Produktionen ein, sondern auch bei der Kulturvermittlung. Hatte Rilling schon die pädagogisch wertvollen Gespächskonzerte erfunden, so setzte Rademann von Anfang an diesen Weg konsequent fort durch Vermittlungsformate wie BachBewegt!Tanz! und BachBewegt!Singen!

Seit ihrer Neugründung 2016 hat sich die Gaechinger Cantorey die internationale Verbreitung eines »Stuttgarter Bachstils« auf die Fahne geschrieben. Dabei hat sie unter Hans-Christoph Rademanns Leitung exemplarische Einspielungen des "Messias", der Bachschen Passionen und des Weihnachtsoratoriums, der h-Moll-Messe, der "Schöpfung" sowie weitere Aufnahmen vorgelegt. Neben den Abonnementkonzerten in Stuttgart und Ludwigsburg gibt sie regelmäßig nationale wie internationale Gastspiele, etwa beim Bachfest Leipzig, in der Hamburger Elbphilharmonie oder dem Pariser Théâtre des Champs-Élysées sowie bei zahlreichen Konzertreisen. 

Das Junge Stuttgarter Bach Ensemble, kurz JSB Ensemble, besteht aus angehenden Profimusikerinnen aus aller Welt und kommt jährlich während der Bachwoche Stuttgart zu Meisterklassen und Konzerten zusammen. Rademann ist anerkannter Experte für die Musik von J. S. Bach und Heinrich Schütz, Leiter des von ihm gegründeten Dresdner Kammerchors und hatte zuvor Positionen bei der Singakademie Dresden, dem NDR-Chor und dem RIAS Kammerchor Berlin inne. Er ist Professor für Chordirigieren an der Musikhochschule Carl Maria von Weber in Dresden und Intendant des Musikfests Erzgebirge.

 

Dreihundert Jahre Thomaskantor: Gesamtaufführung de Leipziger Kantaten 1723/24

Der Höhepunkt der Saison 2023/24 wird die vollständige Aufführung des ersten Kantatenjahrgangs sein, den Bach 1723/24 als frisch berufener Thomaskantor für die Sonn- und Feiertage seines ersten Dienstjahres in Leipzig schuf. Von 14. Mai 2023 bis 31. Mai 2024 führt die Gaechinger Cantorey unter Leitung von Hans-Christoph Rademann in 23 Konzerten die mehr als sechzig Kantaten auf. Hans-Christoph Rademann erläutert das Großprojekt mit den Worten: »Weil die Kantaten Grundfragen der menschlichen Existenz berühren, sind sie heute genauso bedeutsam wie vor dreihundert Jahren. Bei Fragen nach einem guten Leben oder dem gemeinsamen Bewältigen von Problemen liegt die gesellschaftliche Relevanz auf der Hand. Das Anliegen unserer musikalischen Interpretation ist es, den Text zu verlebendigen. Zudem laden wir in jedes Konzert Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ein, damit sie für uns die aktuellen Bezüge aufschließen. Und wir gehen aus dem Konzertsaal auch hinaus zu den Leuten. Wir musizieren in der Liederhalle, im Forum am Schlosspark wie im Umland, in den wunderschönen Kirchen von Herrenberg, Tübingen oder Schorndorf zum Beispiel.« 

Ausschnitte aus dem Programm werden beim Bachfest Leipzig, bei den Silbermann-Tagen sowie den Thüringer Bachwochen zu hören sein. Die Solopartien übernehmen führende Interpretinnen und Interpreten der Alten Musik wie Miriam Feuersinger, Dorothee Mields, Marie Henriette Reinhold, Alex Potter, Patrick Grahl, Daniel Johannsen, Benedikt Kristjánsson, Tobias Berndt und Matthias Winckhler. Einspielungen aller Konzerte erscheinen ab Herbst im Label hänssler CLASSIC.

 

Konzentrische Kreise um den Fixstern Bach: Abonnements, Bachwoche, Gastspiele

Die fünf Abonnementkonzerte finden jeweils samstags im Forum am Schlosspark beziehungsweise sonntags in der Liederhalle statt. Zwei von ihnen stehen mit Weihnachtskantaten (16./17.12.23) und Kantaten um den Feiertag Christi Himmelfahrt (12.5.24, Ludwigsburg) selbst im Zeichen von »VISION.BACH«. In weiteren Abokonzerten erklingen das Oratorium »Samson« des großen Zeitgenossen Georg Friedrich Händel (21./22.10.23), geistliche Chormusik von Jan Dismas Zelenka und Johann David Heinichen aus der benachbarten Barockstadt Dresden (27./28.1.24) sowie Felix Mendelssohn Bartholdys »Paulus« (8.6.24, Stuttgart) als Zeugnis für die Bachrezeption im 19. Jahrhundert. Thema der Bachwoche Stuttgart (3.-10.3.24) ist Bachs Johannes-Passion, die 1724, also ebenfalls vor dreihundert Jahren, uraufgeführt wurde. Kammermusik von J. S. Bach präsentieren Mayumi Hirasaki und Instrumentalisten der Gaechinger Cantorey im traditionellen Konzert zu Bachs Geburtstag (21.3.24). Gastspiele führen die Gaechinger Cantorey unter anderem zu den Silbermanntagen, den Thüringer Bachwochen und dem Bachfest Leipzig.

 

Musikvermittlung für Jung und Alt: »BachBewegt!« und Musikalische Salons

Die »Kaffee-Kantate« steht im Zentrum des Familienkonzerts »BachBewegt!Singen!«, bei dem Stuttgarter Schulkinder gemeinsam mit der Gaechinger Cantorey auf der Bühnen stehen werden (7.7.24). Unter simone.haas@bachakademie.de können Schulen sich bis 30. September 2023 bewerben. 2024 beginnt das neue Projekt »BachBewegt!Tanz!«, das 2025 zur Aufführung kommen wird. Das Format »BachBewegt!Begegnung!« bietet kreative Konzerteinführungen für Schulklassen, der BachClub individuelle Angebote jenseits des Klassenverbands. In den Musikalischen Salons erörtern Experten aus Wissenschaft und Kultur bei einem Glas Wein Hintergründe der Konzertprogramme. Erwartet werden 2023/24 Dr. Andreas Bomba, Dr. Christine Follmann, Prof. Dr. Matthew Gardner und der Rezitator Rudolf Guckelsberger.

Karten, Abonnements und Informationen:

Tel. 0711 / 619 21 61, www.bachakademie.de

Dr. Ute Harbusch, Tel. 0711 / 469 36 13, ute.harbusch@bachakademie.de

 

 

 

Samstag, 22. April 2023

Neue Generation mit Beethoven: Das Glück und das SWR Symphonieorchester

Joshua Weierstein und Pianist Behzod Abduraimov
Ein Abonnmentkonzert - nicht wie jedes andere. Am 20. und 21. April übernahm die junge Generation das Heft mit dem SWR-Symphonieorchester in der Klassik mit dem erst 35 Jahre alten US-Dirigenten Joshua Weilerstein, und präsentierte einen Beethoven, wie man ihn noch nie gehört hatte. Auf dem Program standen das Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur und die Sinfonie Nr. 4 B-Dur. Zum Auftakt jedoch hatte Weilerstein, der als Reservist eingesprungen war,  eine Neuentdeckung mitgebracht: Die Partita für Streicher des Prager Juden Gideon Klein, in einer Bearbeitung des ursprünglichen Trios für Orchester von Vojtech Saudek. Der Komponist wurde zusammen mit seiner Schwester Eliska ins KZ Theresienstadt verschleppt. Er musste dort auf dem Bau arbeiten, unterrichtete heimlich Kinder und war bis zu seiner Ermordung mit 25 Jahren in der Abteilung "Freizeitgestaltung" zuständig für die Instrumentalmusik. 

Dass Zwölftonmusik dermaßen rund und schön klingen kann, dieses zu zeigen war sicher auch ein Verdienst des großartigen Orchesters. Das dreisätzige Streichtrio beginnt mit einem synkopisch federenden Haupttherma, das zwischen  alten Kirchentonarten und freier Atonalität hin und her schwingt. Der langsame Mittelsatz bildet mit melancholischen Variationen über ein mährisches Volkslied einen gefühlsintensiven Mittelpunkt. Einen turbulenten Abschluss voller asymmetrischer schneller Taktwechsel bildet dann das Finale in einem unfassbar optimistischen Tonfall, wenn man bedenkt, dass sein Tod unmittelbar bevorstand. Die Schwester Kleins, die das KZ überlebte, konnte seine Chormusik, eine Klaviersonate und einen Liederzyklus mit dem Streichtrio für die Nachwelt retten.

Mit dem ersten Klavierkonzert hatte Ludwig van Beethoven in Wien als Komponist, aber vor allem als Klaviervirtuose bewiesen, dass er als Nachfolger von Mozart keineswegs in zu große Fußstapfen trat. Die besonderen Schwierigkeiten gerade in der Geschwindigkeit meisterte in Stuttgart der Solist Behzod Abduraimov kraftvoll, sensibel und mit technischer Perfektion. Auch den Namen dieses erst 33 Jahre alten Virtuosen aus Taschkent in Usbekistan sollte man sich merken. Er hat als "Wunderkind" begonnen, gewann mit 19 die London International  Piano Competition und tritt seitdem mit renommierten Orchestern in der ganzen Welt auf. Vor allem im markanten Finalsatz des ersten Klavierkonzertes von Beethoven konnte er seine Stärken voll ausspielen. Zusammen mit Weilerstein zeigte er: Beethoven ist überall auf der Welt zu Hause, und in seiner Musik verstehen sich Musiker aller Herren Länder.

Der Gastdirigent Joshua Weilerstein absolvierte mit enormer Präsenz (und ohne Noten!) den Ritt auf dem Tiger der vierten Beethoven-Symphonie ohne Fehl und Tadel. Die Vierte hatte es mit ihrer Gelöstheit, dem hellen, spielerischen B-Dur schon immer schwer zwischen der Dritten und der Fünften. Für Publikum und Kritik zu Beethovens Zeit schien sie nicht zu einem Weltbild zu passen, das Pathos und programmatischen Tiefgang verlangte. Da ist ein Ohr für Zwischentöne verlangt. Und Weilerstein reißt das erfahrene, brillant aufspielende Orchester auch mittels seiner Cheerleader-Qualitäten souverän mit durch die vielen dialektischen Gegensätze dieses Werkes. Der Lohn war lang anhaltender Applaus mit reichlich Bravos: ein runder, beglückender Konzertabend!
 

 

 

Freitag, 21. April 2023

Kein mildes Alterswerk: "Die Jahreszeiten der Ewigkeit" von Karl-Markus Gauß

Karl-Markus Gauß: "Die Jahreszeiten der Ewigkeit", Szolnay Verlag, 313 S., 25,00 €

Gauß ist als Autor, Redakteur und Zeitzeuge eine Institution. Geboren ist er 1954 in Salzburg. Dem langjährigen Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik beim Otto Müller Verlag verdanke ich außer vielen nützlichen Informationen auch wertvolle Anregungen wie einen Besuch bei den Zimbern in den Bergen über Trient, die noch ein mittelhochdeutsches Bayerisch sprechen. Viele seiner Bücher sind Minderheiten in Europa gewidmet, über die er kenntnisreiche Reiseberichte schrieb. Alle seine Bücher, ganz gleich welchen Inhalts, sind Journale, d.h. Gauß ist ein Flaneur durch die Zeitgeschichte. 

Besonders gefiel mir die "Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer". Mancher hätte das als Corona-Tagebuch im Lockdowns geschrieben, aber er tat es mehre Jahre vor der Pandemie. Es ist eine Reise ins Innere seiner Erinnerungen und seiner Phantasie. Angeregt haben ihn oft unscheinbare Dinge, die aber ihre Geschichte haben, und er hat sie auf oft verblüffende Weise erzählt.

Als Chronist des Alltags schweift Gauß gern ab von der geraden Chronologie. Er berichtet etwa über die Beerdigung seines Freundes Hans Eichhorn, der als Fischer auf dem Attersee und Lyriker gleich zwei Mal zu einer aussterbenden Art gehörte. Todesfälle werden im Alter häufiger und nehmen auch hier viel Raum ein. Sie dienen als Anlass zum Rückblick - in diesem Fall auf das Ende einer Zeitrechnung vor Corona, denn wenige Tage danach kam der erste Lockdown, wo die üblichen Rituale zur Verabschiedung lieber Menschen verboten wurden. Dabei wird der Autor zwangsläuftg oft politisch und findet klare Worte fürs moralisch Verkommene und Grobianische. 

Der schüchterne Beobachter und Alltagschronist Gauß kommt den Lesern sehr nahe. In vollen  Zügen und Bussen kennt ja jedermann die schlechte Gewohnheit mancher Zeitghenossen, mit Laptop, Rucksack und Esswaren auch den Nebensitz zu blockieren. Ebenso bekannt sind die Kophörer-Autisten, die ihren Silberblick auf ein Smartphone fixieren, um nichts mitzubekommen von dem Elend ringsum. Viele sagen dann schon mal was. Aber Gauß hadert mit einem "charakterlichen Defekt", der ihn zwingt, peinlich jedes Aufsehen zu meiden, bis  das Maß übervoll ist und eine rüpelhafte Explosion folgt. 

Beispiel gefällig? - Eine gehbehinderte alte Dame schleppt in der einen Hand eine Reisetasche, in der anderen hat sie ihren Gehstock, und schwankt auf der Suhe nach einem Sitzplatz durch den Waggon. "Irgendwann ist meine Wut größer als meine Scheu, Aufsehen zu erregen, dann spinge ich auf, herrsche einen Jüngling mit lockigem Haar, der versonnen der sphärischen Musikaus seinem Ohrstöpsel lauscht und angestrengt der Welt rundum nicht achtet, unvermittelt an, dass er sich trotz seiner sozialen Verwahrlosung unverzüglich bequemen solle, den schicken Rucksack wegzunehmen und Platz für die gehbehinderte Dame zu machen. Was dieser, die Augen schreckensgeweitet, die zarte Haut von einer pubertären Röte überzogen, auch unverweilt zu tun pflegt." Wir schmunzeln, nicht zuletzt wegen der altertümlich-umständlich mäandernden Tonlage, die der Erzähler hier anschlägt. Aber auch wegen des Erfolges und des guten Ausgangs. Andere handeln sich wüste Beschimpfungen, einen Stinkefinger oder gar Prügel ein für solches Engagement.

Die Tonlage hier ist Absicht und Stilmittel. Gaus kann auch anders, aphoristisch-direkt: "Sie war seit zwanzig Jahren mit einem Trottel verheiratet, und inzwischen sah man ihr das an.", oder "Der Moment, in dem ich die Achtung vor einer Frau verlieren kann: Wenn ich ihren Mann kennenlerne." Gauß schlägt in seinen Journalen gern Brücken ins Überraschende, vom Großen ins Kleine und umgekehrt. Von der Weltbühne zur Ortsbesichtigung ist es für ihn meist nur ein Absatz. Die Kriegsversehrten, denen er als Kind auf dem Schulweg begegnete, setzt er in Beziehung zur Flüchtlingekrise von 2015, den Tod eines Freundes mit den den digitalen Ingenieuren der Unsterblichkeit.


Sonntag, 12. Februar 2023

Teufelskerl: Martin Grubinger beim SWR Symphonieorchester

Das musikalische Stuttgart stand Kopf: Der Salzburger Weltklasse-Percussionist Martin Grubinger hört mit 40 Jahren auf und machte am 9. und 10. Februar die Stuttgarter Liederhalle zum furiosen Ort seiner Abschiedstournee. Wenn´s am schönsten ist, soll man aufhören. Und so lange die Kraft da ist, die man für solche Auftritte braucht. Auf dem Programm des stets souveränen Gastdirigenten Dima Slobodeniouk (geboren 1975 in Moskau), standen "Inferno" von Daníel Bjarnason und "Der Feuervogel" von Igor Strawsinsky.  Gut hörbar war übrigens die Erfahrung von Slobodeniouk mit Neuer Musik. Der Isländer Bjarnason hat das Konzert "Inferno" für Schlagzeug und Orchester in der Zeit seit 2017 für Grubinger geschrieben und ihm erst nach der Uraufführung im vorigen Herbst auf Grubingers Vorschlag hin den Namen "Inferno" gegeben. Im Anklang an Dantes "Göttliche Komödie" löst er eine Kaskade von Gefühlen aus, bei denen Hölle, Tod und Teufel eine Projektionsfläche bilden für alles, was uns in Angst und Schrecken versetzt. Sie wurde zum Inbegriff für entfesselte Energie und entmenschte Gewalt, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine bei jedem Zuhörer andere innere Bilder auslöst. Es ist ein Kopfkino der Töne, und Grubinger ist genau der Richtige dafür, es zu spielen. Der Ausnahmemusiker machte seit seiner Ausbildung am Salzburger Mozartum eine steile Karriere durch alle großen Konzertsäle der Welt. Und doch (oder gerade deshab?) tritt er nicht auf wie der Star, der er ohne Zweifel ist, sondern wie ein großer Bub, der immer noch voller Kraft und unbändiger Spielfreude steckt. Es ist nicht das erste Konzert für Schlagzeug als Soloinstrument, das eigens für ihn geschrieben wurde und mit dem Grubinger das Schlagwerk in neue Dimensionen geführt hat.

Dass er sich vor Professuren und Ehrungen kaum retten kann, dass Achtjährige ebenso wie 90jährige in dem Konzert waren, das ich erleben durfte, hat nicht nur mit technischer Perfektion und musikalischer Vielseitigkeit zu tun, sondern vor allem mit Witz und dem anrührenden Charme der Bescheidenheit. Er nimmt das Publikum mit auf Grenzerfahrungen. Ganze Gruppen aus Musikschulen und der Musikhochschule Stuttgart sorgten für eine Überfüllung des Saales, die seit Teodor Currentzis konkurrenzlos schien. Die Leute wollen nicht nur seine eruptiven Entladungen an Trommeln und Marimbas hören, sondern eintauchen in magische Klangwelten eines modernen oder zeitlosen Schamanismus. Es geht Grubinger um eine Extase, die Raum und Zeit überschreitet und auch das eigentlich Unhörbare hörbar macht.

Bjarnason, der mit Grubinger befreundet ist, beginnt das "Inferno" mit der grenzgängerischen Idee, dass der Schlagzeuger tanzt und singt, während die Welt zusammenbricht. Ein schneller Satz steigert sich zuneinem frenetischen Crescendo. Der langsame Mittelsatz zeigt akustisch das Bild eines Menschen, der allein in der Welt steht und merkt: Das ist wirklich die Hölle. Dazu spielt das Orchester eine Musik von zerbröckelnder Schönheit. Der Solist versucht vergeblich, mit manischen Ausbrüchen einTeil davon zu werden, aber das will nicht gelingen. Im zweiten Satz geht der Solist zu den Pauken und zwei Schlagzeuger aus dem Orcherster schließen sich ihm an. Doch er zieht sich zurück, sie spielen den Satz ohne ihn zu Ende. Manisch stürzt er sich in den letzten Satz, und da wird´s richtig laut.

Schon die Instrumente sind Teil der Komposition: die baskischen Txalaparta, hölzerne Klangstäbe von der Größe von Eisenbahnschwellen, hölzerne japanische Felltrommeln in allen Größen, Marimbas aus der Karibik, Wood Blocks, Kesselpauken und Weiterentwicklungen des klassischen Jazz-Schlagzeugs, ergänzt um zwei weitere Pedalpauken sowie die Holz-, Metall- und Glasklänge des Orchester-Schlagwerks. Die Zahl der Möglichkeiten, sie zu spielen, ist unendlich. 

Für die Zugabe, ein gut fünfmimütiges furioses Solo, präsentierte und stimmte er liebevoll sein "Lieblingsstück": eine große amerikanische "Marching Drum". Wahnsinn, was der Mann damit anstellte! Nach Grubingers Worten ist das sein Trainings- und Kraftgerät, das er vom Stativ spielte. Man mag sich kaum vorstellen, was bei Umzügen von Militär-Bands und Brass-Bandas die Trommler im mobilen Einsatz bei teils tropischen Temperaturen allein schon körperlich leisten. Diese Zugabe "hat mit Musik nichts mehr zu tun", sagte er. Es war ein pures Stück Spaß.Der Saal tobte.

Mit der Ballettmusik "Der Feuervogel" von Igor Strawinsky ging es nach der Pause weiter. Die Urauffühung machte den jungen Komponisten 1910 schlagartig berühmt. Die Handlung verbindet zwei russische Volksmärchen: Auf der Jagd nach dem Feuervogel gerät der junge Prinz Iwan in den Garten des bösen Zauberers Kaschtschej und entdeckt dort dreizehn Jungfrauen, darunter die Prinzessin Zarewna, in die er sich unsterblich verliebt. Als er den Feuervogel frei lässt, schenkt ihm dieser eine magische Feder, mit der es gelingt, den bösen Zauberer zu besiegen und die Jungfrauen zu befreien.

Musikalisch verbindet der Komponist eine "verführerische" impressionistische Klangpalette mit einer Aura von Folklore und einer gewissen Exotik in der Melodieführung. Doch das Element des Magischen, in der Figur des bösen Zauberers auch Infernalischen, setzt den thematischen Spannungsbogen des Konzertabends fort. Strawinsky charakterisierte die Menschenwelt und die magische Welt mit harmonischen Leitmotiven: Der Zauberer Kaschtschej, sein magischer Garten, bevölkert von magischen Geschöpfen wie Monstern und Menschenfressern, also alles Übernatürliche und Magische, hat das Kennzeichen dieser "geheimnisvollen", chromatischen Leitharmonien. Im Gegensatz dazu steht die diatonische Musik, die Prinz und Prinzressin charakterisiert. "Aufsteigende übermäßige Quarte und absteigende kleine Sekunde ergeben die Intervallbasis für die Erscheinung des gütigen Feuervogels -Kaschtschej dagegen bekommt gebrochene bösartigeTerzen", schreibt der Komponist.

Höhepunkte dieser klanglichen Gegenwelten sind der Tanz der Jungfrauen in einem lichten, reinen H-Dur und der gezackt springende Höllentanz des Zauberers mit heftigen Fortissimo-Schlägen. Das Ende mit Erlösung kündigt sich an in einem sakralen Lento Maestoso und dem strahlenden C-Dur des finalen Fortissimos. Auch hier boten Dirigent und Orchester ein filigranes Kopfkino, wobei Slobodeniouks Pausen zwischen den einzelnen Motiven im ersten Teil den einen zu kurz und den anderen zu lang erscheinen mochten. Das Orchester war sich jedoch einig, und das Publikum bedankte sich mit lang anhaltendem Applaus.

 

Samstag, 11. Februar 2023

"Literatur Bunt": Peter Frömmig liest in Ludwigsburg

 

Der Marbacher Autor Peter Frömmig las am 02. 02. in der Ludwigsburger Villa Barock aus seinem Erzähl- und Erinnerungsband "Sedimente der Zeit". Der Abend des 2. Februar war gut besucht, und Peter las gut. Das Buch ist ein Rückblick auf die teils abenteuerlichen Stationen eines bewegten Künstler- und Autorenlebens. 

Ich war mit der S-Bahn aus Stuttgart gekommen, obwohl die im ganzen Netz wegen technischer Probleme zur Zeit nur alle 30 Minuten fahren. Wegen der schlechten Luft brauchte ich auf der Hin- und Rückfahrt mein Sauerstoffgerät. Peter hatte wie ich eine längere Krankheit hinter sich. Trotzdem: Es regt sich wieder was in der Kulturszene - nach drei Jahren. Der Veranstalter der Reihe "Literatur Bunt", der Autor und Künstler Norbert Sternmut, war sich 2022 nicht sicher, ob das Publikum wieder kommt, schließlich ist Ludwigsburg in Konkurrenz zum Deutschen Literaturarchiv in der Schillerstadt Marbach und der Landeshauptstadt Stuttgart nicht gerade ein so genannter "Leuchtturm" literarischer Veranstaltungen in der Region. Doch originelle Konzepte und persönliche Atmosphäre lassen sich so leicht nicht unterkriegen. Das beweist aufs Schönste die kreativen Potenziale auf dem Land und in der Provinz.

 

Sonntag, 22. Januar 2023

Musikalische Antwort auf eine schwierige Zeit: Currentzis dirigiert Alban Berg und Dmitrij Schostakowitsch

Teodor Currentzis und Vilde Frang

Am 20. Januar konnte ich mich freuen über ein großariges Konzert des SWR Symphonie Orchesters in der Stuttgarter Liederhalle. Chefdirigent Teodor Currentzis dirigierte das Konzert für Violine und Orchester von Alban Berg (1885 - 1935), "Dem Andenken eines Engels" in zwei Sätzen. Das war Zwölftonmusik von großer Klangschönheit und Ausdruckskraft, gewidmet Manon Gropius, der Tochter des befreundeten Ehepaares Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius. Sie war für Berg wie die Tochter, die er sich immer gewünscht hatte, und starb mit 18 Jahren an den Folgen einer Kinderlähmung. Die vielfach ausgezeichnete norwegische Solistin Vilde Frang (sie spielt eine Guarneri-Geige von 1734) war für dieses Stück so etwas wie eine Idealbesetzung. Mit ihrer technischen Brillianz und einfühlsamen Interpretation konnte sie bei den Zuhörern ein Kopfkino entzünden, das mit Sicherheit noch lange nachhallen wird.

Nach der Pause folgte die Sinfonie Nr. 8 C-Moll von Dmitrij Schostakowitsch (1906 - 1975), der die Musik von Alban Berg kannte. Darin hat der Komponist die Erfahrungen und Verheerungen des Zweiten Weltkrieges in Musik umgesetzt - schwere Kost und ernst, aber ganz große und ethisch gewichtige Kunst. Das Orchester und sein Dirigent in Höchstform. Diese achte Sinfonie ist geprägt vom deutschen Ausrottungskrieg im Osten Europas, der fast 27 Millionen Bürger der Sowjetunion das Leben kostete, darunter gut 15 Millionen Zivilisten. Die vorausgegangene 7. Sinfonie entstand noch unter dem Eindruck der Blockade von Leningrad mit über einer Million toten Zivilisten in 872 Tagen. Danach wäre eine Jubelsinfonie über den teuer erkauften Sieg für Schostakowitsch unenkbar gewesen. Er sah in seiner Achten "eine Antwort auf die Ereignisse" einer "schwierigen Zeit". Schließlich lebte der Gewaltherrscher Stalin noch, den Putin verehrt. Weiter geht auch Currentzis nicht, der lange in Russland gelebt hat und Angehörige, Freunde und Kollegen dort nicht in Gefahr bringen will.

Das Konzert war ein Statement, auch wenn das Programm schon vor Beginn des Krieges gegen die Ukraine zusammengestellt wurde. Es war ein intellektuelles Konzert voller Klangchiffren auf den Tod, mit einer modernen Form des Totentanzes und teils bissig-skurrilen, teils aggressiv-bedrohlichen Momenten, das nach Art einer guten Filmmusik dennoch direkt zur Seele sprach. Nur der Finalsatz bei Schostakowitsch - keine schmetternden Siegesfanfaren - enthält einen nachdenklichen Triumph mit gedämpfter Freude: Fortissimo-Dissonanzen münden in einen Pianissimo-Ausklang, über dem "ersterbend" in der Partitur steht. Wir hatten Freunde dabei, die zuvor noch nie ein klassisches Konzert besucht hatten - und sie waren begeistert!

Donnerstag, 19. Januar 2023

"Alle Armenier heißen Armen": Ein armenischer Kafka erzählt

Sevak Aramazd: "Armen", Roman. Aus dem Armenischen von Levon Sargsyan. Pop Verlag, Kaukasische Bibliothek Band 27, Ludwigsburg, 366 Seiten, 24,50 €.

Sprache und Einfallsreichtum des Verfassers sind geschult an William Shakespeare, Edgar Allan Poe, den Gebrüdern Grimm, Franz Kafka und Alfred Hitchcock. Der Autor Sevak Aramazd oder Sevak Hovhannisyan wurde 1961 in Geghaschen (Armenien) geboren. Er hat Germanistik und Philosophie in Eriwan und Frankfurt am Main studiert und er hat Werke von Goethe, Heine, Rilke, Trakl, Böll und Hesse ins Armenische übersetzt. Irgendwann muss er wohl auch über die Märchennovelle "Die schöne Lau" von Eduard Mörike gestolpert sein, die als Nixe oder Wasserfrau die Donauquelle in Bad Urach bewohnt, die wegen ihres türkis-blaugrünen Wassers  "Blautopf" heißt. Aramazd hat Essays zu Literatur und Philosophie publiziert, Lyrik (2000 "Himmel und Erde", 2018 "Ein großer Sonnenaufgang"). Sein erster Roman "Selbst" erschien 1993; es folgten 2009 "Armen" und 2014 "Der Berg der Sonne". So weit eine Übersicht der Zutaten für eine Literatur, die zugleich Legende und Dokument ist, Parabel und Schauplatz einer Prosa, in der sich Realität und Übersinnliches spiegeln. Sie erzählt vom Schicksal einer Welt, in der es das Schwierigste und Gefährlichste ist, ein Mensch  zu sein. Aber was ist "Armen" nun für ein Buch? - Versuch einer Annäherung.
Wenn es scheinbar die Lebensgeschichte des jungen Armen erzählt, dessen Elternhaus bei einem Erdbeben eingestürzt ist und der auf der Suche nach Arbeit ist, um es wieder aufbauen zu können, geht es nicht einfach um die lineare Geschichte eines Wanderarbeiters, dem allerhand Prüfungen auferlegt sind. Das Buch ist vielmehr eine surreale Endlosschleife vieler schicksalhafter Begegnungen in einem namenlosen Land. Die Erzählstränge beginnen, brechen ab, zerfransen in Träumen und seltsam realistischen Episoden voller Sehnsucht, Begehren, Ängsten, Schuldgefühlen und Abenteuern. Dörfer haben keine Namen, die Stadt Kitak immerhin hat einen Bahnhof, wo aber anscheinend nie ein Zug hält, einen Fluss, ein Krankenhaus, ein Gasthaus und eine Art Verwaltung mit dem Sitz eines Gouverneurs. Autos gibt es, aber wohl nicht viel Verkehr. 

Auf der Suche nach Arbeit und einem Platz zum Schlafen kommt Armen an einem Müllberg vorbei, wo Obdachlose, Kranke, Arbeitslose, Trinker, Drogensüchtige und Behinderte nach Verwertbarem suchen. Abends landet er müde, hungrig und durstig in dem Gasthaus. Kurz bevor es schließt, kann er die Bedienung um ein Glas Wasser bitten. Für eine Mahlzeit reicht das bisschen Geld nicht, das er unterwegs für die Reinigung eines Dorfbrunnens bekommen hat. Die Kellnerin, die er zuerst als "Mütterchen!" anpricht, entpuppt sich als geheimnisvolle Schöne, die ihn mit nach Hause nimmt und in eine ebenso wilde wie sinnlose Affäre stürzt. Schon der Titel des Romans und der Name der Hauptfigur ist ein Symbol, dessen Bedeutung der Leser sich selbst erschließen muss. "Du bist wohl Armenier...", sagte die Frau lächelnd. "Und suchst Arbeit..." Armen trank und nickte dabei. "Und du heißt wohl ...Armen... Na, alle Armenier heißen Armen..." lachte sie. Armen lächelte und gab ihr das Glas zurück. "Und kein Platz zum Schlafen..."

Natürlich nimmt sie ihn mit nach Hause, und er trägt ihre Einkäufe. Die Sprache der Begierde, mal plakativ und mal subtil (als ihr Hauskleid in scheinbar absichtsloser Natürlichkeit verrutscht, erhascht er einen Blick auf Schenkel, die zu den "verbotenen Teilen ihres Körpers" gehören). Diese Sprache lässt psychologisch vermuten, dass Armen in einer traditionellen Welt mit orientalischen Rollenbildern von Mann und Frau lebt, die zwar reflektiert, aber nicht wirklich überwunden werden. "Armen spürte, dass in seinem Innern die Begierde aufkam, ein unerwartetes Verlangen ihn packte, und er bekam plötzlich Angst. Wie ein Lasttier beladen folgte er dieser unbekannten Frau, als sei er ihr Sklave. Es gab der ganzen Sache etwas Demütigendes, einen schlichten Betrug. Sie beide wussten wohin und warum sie gingen und es war eine offensichtliche Unverschämtheit, zu schweigen." Die Schöne heißt Sarah, und Armen ist ihr sofort verfallen. Sie erzählt viel, aber alles könnte gelogen sein: Der Mann, der ihr Vater sein könnte, ein Unhold ist und im Gefängnis sitzt. Das künstlerisch begabte Kind, das im Krankenhaus liegt und nicht mehr spricht, seit der Vater im Gefängnis sitzt. Die Episode endet abrupt und gewaltsam, als der Mann plötzlich in der Tür steht und Sarah ihn wüst beschimpft und verprügelt, um ihn anschließend demütig um Verzeihung zu bitten. Nichts ist hier, was es zu sein scheint.

Viele Klischees des Gruselromans werden erst bedient, um alsbald widerlegt zu werden. Die Flussufer sind sumpfig, der Wald undurchsichtig finster, das Mondlicht matt und die Schatten körperlos. Die wenigen Menschen, die ihm begegnen, reden kaum oder wie die Bürokraten in Kafkas "Schloss". Das Gesetz tritt auf in Gestalt zweier mehr als merkwürdiger Polizisten, die ihn unsanft aus dem Schlaf reißen und zum Verhör schleppen. "Es machte ihm Angst, dass die Macht kein Gesicht hatte, sondern unendlich viele Masken, die atmende Menschen waren, wie er selbst, doch über die Schicksale ihresgleichen entscheiden durften. Die Macht konnte seine Extstenz gestatten oder eben auch nicht."

Der Leser fühlt sich wie gefangen in einer Kette unzusammenhängender Alpträume. Schon bald begegnen ihm unheimliche Dinge: Drei Männer versuchen, Armen zu erschlagen, weil er ein Fremder ist und ein Fremder irgendwo in der Gegend den Sohn eines Ortsvorstehers getötet haben soll. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, glaubt aber den Vorwürfen am Ende selbst. Mal ist er himmelhoch jauchzend optimistisch und strotzt vor Kraft, im nächsten Augenblick nagen Zweifel an allem und jedem und selbstzerstörerische Minderwertigkeitsgefühle an diesem seltsamen Antihelden. Armen findet mehrmals Arbeit, wird aber nie bezahlt, sondern jedes Mal um seinen Lohn betrogen. Er begegnet einem Geschichtslehrer, einem Schriftsteller offensichtlicher Nonsens-Bücher, einer Müll-Händlerin und einem Philosophen, der das neue Gesetz, das alle studieren, als "ein Meisterwerk menschlicher Dummheit" bezeichnet, ohne etwas davon zu erklären. Armen begegnet dem Gouverneur einem veilchenblauen Mädchen (was auch immer das ist), einem alten Heiler, einem Lastenträger und einem Waldgeist. Er findet eine Quelle, an der sich alle Bedürftigen, Kranken und Elenden versammeln, ohne Heilung oder Trost zu finden. Wie Armen irren die Menschen zwischen der Sehnsucht nach Liebe und der Bedrohung durch den Tod ziellos durch sinnlose Leiden wie durch ein Fegefeuer, dem niemand ausweichen kann. Er findet sogar die Liebe, muss sie aus unerfindlichen Gründen aber wieder aufgeben. Es gibt wohl Rechtfertigung, jedoch keine Erlösung. Einen heiligen Gral wie Parzival findet Armen nirgends. 


Montag, 2. Januar 2023

Kein schwereloses Silvesterkonzert in der Stuttgarter Liederhalle

 

Solist Sebastian Manz und Dirigent Andrew Manze

Am 31. 12. 2022, Silvesterkonzert meines geliebten SWR Symphonieorchesters in der Stuttgarter Liederhalle: Zum ersten Mal war das Programm eine sauber gespielte Enttäuschung - mit Ausnahme des Solisten Sebastian Manz, der die "Movements for a Clarinet Concerto" von Benjamin Britten in einer Bearbeitung von Colin Matthews ganz großartig spielte. Das Foto zeigt ihn beim Schlussapplaus zusammen mit dem britischen Dirigenten (und Geiger) Andrew Manze. Der Spezialist für historische Aufführungspraxis blieb dann aber leider in seinem Programm zu historisch und vor allem zu britisch. 

Als Einleitung ok: Chacony g-moll, Z 730 von Henry Purcell (1659 - 1695) in einer Bearbeitung für Streicher von Benjamin Britten. Weiter: Serenade to music (Orchesterfassung) von Ralph Vaughan Williams (1872 - 1958). Dann der Höhenflug des Klarinettisten Sebastin Manz spursicher und engagiert durchs irre Tempo des Finales. Nach der Pause noch einmal Henry Purcell, zum Runterkommen sozusagen nach dem Pausen-Sekt: in nomine a 7, Z 747, bearbeitet für Streicher von Andrew Manze. Und dann Variations on an Original Thema for Orchestra op. 36 von Edward Elgar (1857 - 1934). Thema und dann 14 Variationen. Sie klangen aber leider alle fast gleich: Getragen. Und dann irgendwas zwischen "Duck, Pump and Circumstances". Very british, indeed. Nur wusste ich nach spätetens 5 Variationen nicht mehr, welche gerade dran war. Wo "britische Klangvielfalt" angekündigt war, kam teutonische Tuttiwucht. Offenbar wollte der Dirigent das unbedingt so. Nein, die Queen hatte nicht Geburtstag, sie ist gerade erst gestorben und hat sich vermutlich im Grab umgedreht. "Land of Hope and Glory" ohne Gesang wie bei den BBC Proms, wie furchtbar! Wie konnte so etwas in ein Stuttgarter Silvesterkonzert kommen, wo England bei der Fußball-WM in Katar noch nicht mal gegen Deutschland gewonnen hatte? No Glory, No Hope, No Duck.

Um Missverständnissen vozubeugen: An der Qualität der Musik habe ich nichts auszusetzen, aber am Zeitpunkt und an der Zusammenstellung. Die gewohnte "Leichtigkeit" früherer Silvesterkonzerte, ihr spritziger Sex-Appeal fehlte völlig. Kein Walzer oder andere Tänze, kein Musical, keine Operettenstücke. Was es hier zu hören gab, hätte man auch nach einer Beerdigung spielen können. Für das Land von Monty Python war das entschieden zu viel Ernst.