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Freitag, 21. September 2007

Blendende Unterhaltung, fundierte Bildung

Steffen Jacobs: “Der Lyrik-TÜV. Ein Jahrhundert deutscher Dichtung wird geprüft“

Dass von jedem großen Dichter nach allem Schaffen und Wirken abzüglich unvermeidlicher Verirrungen gerade mal sieben (acht? Sechsdreiviertel?) haltbare, die Zeiten überdauernde Gedichte übrigblieben: Eine rhetorisch geschickt eingefädelte und entsprechend einprägsame Behauptung ist das, aber ich glaube kein Wort davon. Allein aus Benns vergleichsweise schmalem lyrischen Werk würden mir geschätzte vierzig Gedichte einfallen, die ich für einzigartig und unwiederholbar halte.

Steffen Jacobs, geboren 1968 in Düsseldorf und selbst ein von der FAZ gelobter Lyriker, hat einen fatalen Mangel bei der Wahrnehmung von Lyrik entdeckt: [Das Werk vieler Dichter ist zugunsten zeitgenössischer Leser oft bis zur Unkenntlichkeit zerpflückt worden.] Auswahl- und Sammelbände liegen im Trend, weshalb Lyriker meist nur noch mit Bruchteilen ihres Werkes identifiziert werden – leider nur mit den plakativsten und nicht immer den besten. Also bricht der Autor eine Lanze für das Gesamtwerk. Sein Buch „Der Lyrik-TÜV“ ist dem eigenen Anspruch entsprechend auch kein literarischer Schnellimbiss, sondern mit 350 Seiten ziemlich dick.
Und trotzdem macht er Appetit auf mehr. Das liegt an der ebenso sachkundigen wie unterhaltsamen Art, mit der Jacobs berühmte Poeten unter die Lupe nimmt. Wilhelm Busch, Gottfried Benn, Hans Magnus Enzensberger und weitere Eckpfeiler der Dichtkunst leuchten da in einem neuen, weil differenzierten Licht.
Mehr Licht zum Beispiel fällt auf Wilhelm Busch, der nur als reimender Witzbold bekannt ist. Jacobs zeigt aber auch die sprachliche Präzision, die gedankliche Schärfe und die Beobachtungsgabe eines ernsten Gesellschaftskritikers aus der Zeit der Prügelstrafen. Er demonstriert, wie vom „Eispeter“ über „Max und Moritz“, „Pater Filuzius“ und „Die fromme Helene“ bis hin zu „Plisch und Plum“ eine biografisch induzierte Wut das Werk durchzieht. Busch macht schwarzen Humor literarisch und pädagogisch fruchtbar. Speziell in dem Gedichtband „Zu guter Letzt“ aus dem Jahr 1904 aber bestätigt Wilhelm Busch seine nachdenklichen und gesellschaftskritischen Qualitäten. Ohne Selbstmitleid macht er Gefühle wie Melancholie nur intensiver, wenn er sie in lakonischer Verknappung dämpft.


Wer einsam ist, der hat es gut,
Weil keiner da, der ihm was thut.
Ihn stört in seinem Lustrevier
Kein Thier, kein Mensch und kein Klavier.
Und niemand giebt ihm weise Lehren,
Die gut gemeint und bös zu hören.
Der Welt entronnen geht er still
In Filzpantoffeln, wann er will.
Sogar im Schlafrock wandelt er
Bequem den ganzen Tag umher.
Er kennt kein weibliches Verbot,
Drum raucht und dampft er wie ein Schlot.
Geschützt vor fremden Späherblicken,
Kann er sich selbst die Hose flicken.
Liebt er Musik, so darf er flöten,
Um angenehm die Zeit zu tödten,
Und laut und kräftig darf er prusten,
Und ohne Rücksicht darf er husten,
Und allgemach vergisst man seiner.
Nur allerhöchstens fragt mal einer:
Was, lebt er noch? Ei schwerenoth,
Ich dachte längst, er wäre todt.
Kurz, abgesehn vom Steuererzahlen,
Läßt sich das Glück nicht schöner malen.
Worauf denn auch der Satz beruht:
Wer einsam ist, der hat es gut.


Ein paar Schatten fallen dagegen schon auf [den eingangs geehrten] Gottfried Benn. Dessen maßlose Eitelkeit führte ja unter anderem zu des Dichters peinlicher Kurzallianz mit den Nazis. Und seine menschliche Rücksichtslosigkeit vor allem gegen Frauen war dem Künstler manchmal doch sehr im Weg beim kreativen Schaffen.
Auch auf Rilke fällt so ein Schatten. Diesmal der des Flüchtigen, Schludrigen, vor allem im Frühwerk, während der TÜV-Prüfer das Spätwerk lobt. Typisch, wie Jacobs die Selbstbesoffenenheit des großen Ergriffenheitsproklamators Rilke als die eines großen „Unvollendeten“ charakterisiert:


Hören wir doch einmal genau hin:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Übergroße Bescheidenheit kann man dem lyrischen Ich aller Selbsteinsicht zum Trotz kaum zusprechen: „Ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm / oder ein großer Gesang.“ Warum Falke und nicht, sagen wir, eine Amsel? Warum ein großer Gesang und kein, na, frisches Lied? Und dann sehen Sie mal, wie er mit Gott umspringt: „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm“. Selbst als gesalbter Atheist kann man guten Glaubens sagen: So geht das nicht. Da wird das immerhin respektgebietende Kulturprinzip des Monotheismus auf ein Stück alter Bausubstanz heruntergedichtet, um die man ohne weiteres im lyrischen Kreisverkehr herumflitzen kann.

Vollends düster wird es, um im Bild von Licht und Schatten zu bleiben, bei Stefan George und Durs Grünbein. Denen bescheinigt der Prüfmeister, den Hohen Ton großer Dichtung durch leeres Geschwafel und bildungsbürgerlich-elitäre Selbstbeweihräucherung in Verruf gebracht zu haben. George und Grünbein liegen zwar 100 Jahre auseinander, doch im Urteil des Lyrik-TÜVs sind sie enge Verwandte: handwerklich perfekt, aber alles andere als originell.

Vom Jugendstil-Dandytum bis zum völkisch-germanischen Rassismus schnappte George auf, was die Zeit im Sonderangebot hatte, und hat es dabei verblüffenderweise noch geschafft, von den Zeitgenossen als ein der Zeit und Gegenwartswelt Entrückter wahrgenommen zu werden.

Jetzt muss noch einmal Lyrik zitiert werden, nämlich Durs Grünbeins Gedicht „Alzheimer Engel“:


Alzheimer: heißt so das Ende der Schrecken?
Kranker Engel, du weißt, was geschieht
Ist Geschichte, - danach. Laß sie stecken,
Deinen Bann, deinen Fluch. Wer dich sieht,

Lebt im Glück der Vertreibung. Das Böse
Gibt sich politisch. Es hat kein Gesicht.
Arbeitslos stehst du, taub im Getöse
Des Zeitvertreibs vor dem Jüngsten Gericht.

Das wirkt auf den ersten Blick bedeutend, entpuppt sich aber auf den zweiten als unernste Effekthascherei mit ernsten Themen. Originell sind hier nur die Reime, meint Jacobs:



Wer sich nicht blenden lässt, denkt vielleicht eher an einen prahlenden Youngster als an einen reifen Lyriker. Unser Dichter freilich ist nicht zwanzig, sondern siebenunddreißig Jahre alt, Büchner-Preisträger, Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung und hochgefeiert als das herausragende lyrische Talent seiner Generation. Dürfen wir von ihm nicht mehr erwarten als ein paar schmissig in Versform gebrachte Feuilletonphrasen? Wir dürfen.

So kluge, scharfsinnige und witzige Analysen ohne Katzbuckelei vor großen Namen liest man selten.

Steffen Jacobs:

“Der Lyrik-TÜV. Ein Jahrhundert deutscher Dichtung wird geprüft“. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 350 Seiten, 30 €.

Donnerstag, 20. September 2007

Die Pianistin Yubo Zhou in Baden-Baden



Beethoven und Chopin Chinesisch interpretiert


Selten kann man so etwas hören: Die junge Chinesin Yubo Zhou, die eben in Freiburg ihre Ausbildung als Konzertpianistin abgeschlossen hat, spielt wie ein Mann - aber viele männliche Pianisten würden sich wünschen, zu spielen wie sie. Ein zartes Persönchen ist sie, mit Händen und Fingern, die zerbrechlich wirken und in denen doch eine enorme Kraft steckt. Als Vorbereitung auf internationale Wettbewerbe, zu denen sie im Oktober nach Portugal und Italien reist, war sie der Einladung von Wolfgang Seiter aus Baden-Baden gefolgt, der als Dilettant im besten klassischen Sinn des Wortes, als begeisterter Liebhaber von Malerei und Musik, immer wieder internationale Künstler in seinen Zirkel nach Baden-Baden holt.
Yubo Zhong spielte in einem Nebenzimmer des Kurhaus-Restaurants just am 20. September, dem Tag, an dem die ganze Stadt im Zeichen des SWR New Pop Festivals stand. Gleich nebenan strömten die Fans, feierten lautstark ihre Stars: im Casino und in Zelten auf öffentlichen Plätzen der Innenstadt war der Teufel los. Im Nachbarsaal tagte eine andere Gesellschaft, bei der Reden gehalten wurden, Applaus störte, Neugierige die Seiten wechselten und Türen auf- und zu gingen. Unmögliche Bedingungen also, unfaire Konkurrenz außerdem, aber Yubo Zhou schien das lediglich als Herausforderung zu betrachten. Vor einem kleinen Kreis von vielleicht 40 Zuhörern spielte sie mit einer Leidenschaft, als läge ihe die Carnegie-Hall, die Royal Albert Hall oder doch zumindest das nahe Festspielhaus zu Füßen (dort war aber an diesem Abend alles dunkel. Ach Leute, was habt ihr verpasst!). Was man hören konnte, war unterschiedlich perfekt; manchmal wurde deutlich, dass hier ein Training unter erschwerten Bedingungen stattfand. Die Künstlerin probierte erkennbar gelegentlich etwas aus, ging zugunsten der künstlerischen Interpretation an technische Grenzen - und da läuft auch mal etwas schief. Aber wann kann man das in den großen Konzertsälen je erleben? Und da wird sie spielen. Yubo Zhou hat nicht nur das Talent, sie hat eine unglaubliche Technik und sowohl die physischen als auch die mentalen Voraussetzungen, um an die Weltspitze zu kommen.
"Seit 20 Jahren spiele ich Klavier", sagte sie nach dem Konzert. "Meine Mutter hatte mir verboten, auf der Straße mit den anderen Kindern zu spielen. Also habe ich jeden Tag acht Stunden Klavier gespielt."
Beethovens Klaviersonate A-Dur op. 02 Nr. 2 stand bei ihrem ersten Konzert in Baden-Baden auf dem Programm, das Scherzo E-Dur op. 54 von Chopin, die Prelude aus "Feux d´artifice" von Debussy, die Vertonung der Undine-Sage "Ondine" von Ravel und schließlich die Sonate h-Moll op. 58 von Chopin. Und als hätte sie sich nun warm gespielt und als wäre alles bis dahin nur Vorspiel gewesen, erreichte sie bei Chopin wahre Perfektion. In einem ungewöhnlich harmonischen Gleichklang aus technischer Virtuosität und tiefem Gefühl stimmte jede, auch noch die kleinste Nuance ihres Vortrags.


Auch Kenner im Publikum waren hingerissen. Ich sowieso. Das Besondere war die intimne Atmosphäre dieses Abends - eher einer Lyriklesung oder einer Jam-Session vergleichbar. Mit einer jungen Künstlerin, die wirklich etwas zu bieten hat und die gerade mit jener Ochsentour beginnt, die zwangsläufig am Anfang ihres Traums von der großen Karriere steht. Yubo Zhou stellt sich dem offensichtlich nicht nur am Flügel bestens vorbereitet, sondern auch menschlich sympathisch. Unpretenziös ist sie, gut gelaunt trotz der Zumutungen und Strapazen, eine Pianistin zum Anfassen. Sie erzählt noch von ihrem Werdegang und wie ihr Vater vor Freude weinte, als er sie nach langen Jahren des Studiums in Odessa und Freiburg zum ersten Mal wieder spielen hörte. Sie gab erst vor einigen Monaten die ersten Konzerte in China. Es werden sicher nicht ihre letzten Konzerte gewesen sein. Sie wird ziemlich sicher eine der Großen werden, die man dann so wie hier nicht mehr wird erleben können.

Samstag, 15. September 2007

Netrebko und Vargas auf dem Stuttgarter Schlossplatz


Opern-Open Air mit Hindernissen

Am 31. August herrschte Ausnahmezustand auf dem Stuttgarter Schlossplatz: Anna Netrebko, derzeit führende Operndiva vom Mariinski-Theater St. Petersburg, und der mexikanische Tenor Ramón Vargas sangen in Begleitung des Orchesters der Deutschen Oper Berlin (Dirigent: Marco Armillato) ein Open-Air-Konzert.
Tourneeveranstalter Michael Van Almsick hatte dazu den ganzen Platz mit Sichtblenden versehen lassen und strenge Kontrollen aufgebaut. Auch die Presse musste sich einem Reglement unterwerfen, das man in dieser Form nur von Rock- und Popkonzerten kennt: Fotografen mussten bis zum Ende der Vorstellung warten und durften dann während der Zugaben unter Aufsicht für eine Minute zum Blitzlichtgewitter an die Bühnenrampe. Das Fernsehen hatte gleich auf eigene Drehs verzichtet. Hörfunkberichterstatter mussten ihre Aufnahmegeräte abgeben und bekamen sie erst für die Zugaben zurück. Statt 90 Sekunden Klassik vom Mischpult abzugreifen, wie es mir angeboten wurde, hielt ich das Mikrophon dann in Richtung Bühne und hatte in 70 Sekunden eine relativ schöne Sequenz aus einem La-Traviata-Duett inklusive Schlussapplaus - bitte sehr. Wer die Arien nicht kennt, verpasst solche Möglichkeiten zwangsläufig.
Diese Behinderungen der Arbeit von Journalisten verdienen nur eine Bezeichnung: Zensur. Ursache dafür ist die hysterische Panik von Veranstaltern, die sinkende CD-Verkaufszahlen nur so bekämpfen zu können glauben. Schwarze Mitschnitte im Internet sind Mode geworden. Aber wer die Presse behindert, bekommt eben auch zu Recht schlechte Schlagzeilen. Dabei hätte es gute wie schlechte nebeneinander gegeben. Es war halt ein Hindernislauf, wie er im Konzertsaal kaum möglich ist.
Anders, als tags darauf die Tageszeitungen schrieben, sang die Netrebko wunderbar und war auch Ramón Vergas keiner, "der seite besten Tage schon gesehen hat". Vor allem in einem überraschenden Duett aus Donizetti´s "Liebestrank" am Anfang oder in dem Abschiedsduett "O soave faniculla" aus Puccini´s "La Bohéme liefen beide zu Hochform auf. Allerdings waren pro Nase gerade mal vier Arien und dann noch zwei Duette ein recht mageres Programm für ein Konzert, bei dem die billigste Karte 130 € kostete. Rechnet man die schwache Beschallung der ersten Halbzeit hinzu und einige knallende Rückkopplungen, die Anna Netrebko das hohe C bei der berühmten und traumhaft gesungenen Arie "Casta diva" aus Bellini´s "Norma" verdarben, waren die 6000 begeisterten Zuhörer am Ende doch ziemlich mies abgespeist. Unfreiwillige Heiterkeit kam auf, als nach der Pause während der Ouvertüre zu Verdi´s "Nabucco" deutlich zu hören war, wie sich Anna Netrebko im Garderobenzelt heben der Bühne einsang. Eine Gruppe von 200-300 Jugendlichen, die es sich auf der Wiese hinter den Absperrungen bequem gemacht hatten, amüsierte sich königlich - und ganz umsonst. Wahrscheinlich hatten sie füpr diesen Abend die beste Entscheidung getroffen.
Im Vergleich zu einem Opernabend oder einem Konzert im Festspielhaus Baden-Baden, Salzburg oder sonstwo war das Ganze technisch eine Katastrophe und preislich fragwürdig. Der Oper hat´s nicht geschadet. Derzeit nütze alles, was die Netrebko tut, der Liebe der Massen zu dieser Musik. Hoffentlich bleibt es so. Und hoffentlich sagt ihr mal jemand, dass es nicht zu ihr, zu ihrer Rolle und ihrem Niveau passt, wenn sie wegen der grölenden Zustimmung von Banausen Franz Lehars "Meine Lippen, die küssen so heiß" als Zugabe singt - in unverständlichem Deutsch und mit aufgesetzten Posen, die ihr wahrscheinlich mehr schaden als die erwähnte grölende Begeisterung Nutzen bringt.