ISBN 978-3-518-42564-0.
Der vielfach ausgezeichnete Journalist und Dokumentarfilmer Asiem El Difraui, Jahrgang 1965, war als Sohn eines Ägypters und einer deutschen Mutter schon immer ein Reisender und Mittler zwischen den Kulturen. Er wuchs in der Nähe von Frankfurt am Main auf, studierte in London und Kairo Soziologie, promovierte in Paris und spricht neben Arabisch und Deutsch fließend Englisch und Französisch. Er schrieb und schreibt für ARD, BBC und CNN, gehört zu den führenden Experten zum Thema Dschihadismus, berät die deutsche und französische Regierung. Viele der bekanntesten Theoretiker, Prediger, Attentäter und Drahtzieher des extremradikalen Islamismus hat er persönlich interviewt. Spätestens seit der erneuten Machtergreifung der Taliban in Afghanistan 2021 zeigt sich der ganzen Welt, wie quicklebendig die Hydra des Dschihadismus ist, der wie der mythischen Schlange immer neue Köpfe wachsen, wenn man einen abschlägt. Nur mit Gewalt ist ihr nicht beizukommen.
Difraoui hat die unübersichtliche Szene übersichtlich und spannend beschrieben. Er traf Kampfgefährten von Osama bin Laden in Khartoum und PR-Strategen, die in Berlin-Charlottenburg IS-Propagandavideos produzierten. In Kriegsgebieten wie Bosnien, dem Irak oder Afghanistan, aber auch in Paris quasi vor seiner Haustür hat er persönlich den Terror der Islamisten gegen die Bevölkerung erlebt. Kenntnisreich und anschaulich schildert er, wie der Dschihadismus entstanden ist, wie seine Denkmuster und seine Propaganda sich verändert haben und woraus die Hydra ihre Kraft bezieht. Was macht die todbringende Ideologie des aggressiv-missionarischen Islamismus auch für junge Menschen in Europa so attraktiv? Welchen Anteil daran hat der Westen selbst an ihrem Erfolg? Welchen die Medien? Und wie lässt sich vielleicht die Macht der Hydra brechen?
So, wie es bis jetzt versucht wird, ist der "Krieg gegen den Terror" jedenfalls nicht zu gewinnen - Sogar Leser, Politiker, Wissenschaftler und Journalisten mit Erfahrung auf diesem Gebiet werden von Difraouis Buch immer wieder überrascht sein, der die Entwicklung seit dreißig Jahren beobachtet. Besonders verdienstvoll ist die Identifizierung arabischer Reiz- und Schlüsselwörter, die auch einer Klientel ohne arabische hilft, zu verstehen, wann die Alarm-Signale anspringen sollten. Es sind arabische Fachwörter für Feindbilder der Islamisten (den "Dschihad" kennt inzwischen jeder):
"Kuffar" ist ein verächtliches Wort für Ungläubige, in den Augen der Fanatiker auch Juden, Christen und vor allem Jesiden. "Rafida" sind Abtrünnige und Ketzer, im sunnitischen Islam auch alle Schiiten. "ghulat" sind religiöse Abweichler, die nicht der radikalen Deutungen der Dschihadisten folgen. "Und takfir" meint die Verbannung, den Ausschluss aus der Gemeinde der Rechtgläubigen und Rechtgeleiteten. Hört man als Beamter, Sozialarbeiter oder Helfer bzw. Lehrer so reden in einer Moschee oder unter Flüchtlingen im Deutschkurs, die plötzlich arabisch sprechen, sollte man darauf bestehen, dass deutsch gesprochen wird.
Besonders verdienstvoll ist außerdem, dass der Autor auf Regionen- Rückzugsräume und Entwicklungen hinweist, die bisher weder Politik noch Ermittler oder Presse nachhaltig auf dem Schirm haben: Die Sahelzone etwa und mit dieser weite Teile Afrikas. Man denke nur an die Eroberung und Verwüstung der Kulturstadt Timbuktu, die Schutzgeld-Industrie der Miliz Abu Sayyaf und Konsorten in abgelegenen Feriengebieten verschiedener Inselgruppen Südostasiens. Da sind fast immer Widerstandsbewegungen gegen autoritäre Regime mit Auslöser, die aus religiösen oder rassistischen Gründen ganze Bevölkerungsgruppen diskriminieren und radikalisieren. Das geschah in Tschetschenien, mit den Fulbe und bei Boko Haram in Schwarzfrika, den Tuareg in Mali oder den Sunniten im schiitisch dominierten Irak. Auch Erdogans faschistoid-paranoider Kurdenhass oder der Stellvertreterkrieg zwischen Saudis und iranischen Mullahs im Jemen, das Assad-Regime in Syrien oder die Verfolgung der Muslimbrüder Ägyptens radikalisieren bzw. instrumentalisieren Menschen, die sich aus Hoffnungslosigkeit von der Hydra verführen lassen. Und dann wirft sie sie weg.
Die sozial vernachlässigten Migranten im Ruhrgebiet, in Berlin oder in Frankreich, Belgien und Großbritannien sind kaum weniger gefährlich als die rechtsradikal-nationalistisch aufgehetzten Corona-Demonstranten und Impfgegner in Ostdeutschland. Und immer besteht der Humus für die Prediger des Hasses aus Armut, Perspektivlosigkeit und fehlender Bildung. All diese Wurzeln trocken zu legen ist mühsam und mindestens so teuer wie die Energiewende, die "grüne Transformation" von Verkehr und Industrie oder die Bekämpfung der Pandemie, aber es ist möglich. Es wird nicht schnell gehen und einen langen Atem verlangen, doch es gibt keine Alternative.
Schließlich gilt es, 30 Jahre Fehlentwicklungen zu korrigieren. Der Verdacht ist nicht vom Tisch, dass die Demokratien des Westens nicht unbeteiligt sind an diesen Fehlentwicklungen. Das beginnt mit dem Kolonialismus und endet noch nicht mit der skrupellosen, zynischen Instrumentalisierung von Flüchtlingen und Migranten als "Waffe" durch Autokraten wie Lukaschenko, Putin und Erdogan. Wenn wir erpressbar geworden sind, dann weil wir seit langer Zeit mit gespaltender Zunge reden und weil uns Handelsbeziehungen wichtiger sind als Menschenrechte. Und weil unsere Regierungen seit Jahrzehnten mit zweierlei Maß messen. Erst wenn das aufhört, auch wenn es um alte Freunde wie die USA oder Israel geht oder um die gesetzliche Gleichbehandlung von Christen, Juden und Muslimen in Deutschland, kann die Hydra des tödlichen Dschihadismus wirklich austrocknen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen