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Donnerstag, 18. Mai 2017

Musikalische Dialogübung

Alexandre Tharaud & Jean-Guihen Queyras
Der Pianist Alexandre Tharaud und der Cellist Jean-Guihen Queyras spielten gestern auf Einladung der Ludwigsburger Schlossfestspiele im barocken Ordenssaal. Da traten zwei hochdekorierte Musiker in einen künstlerischen Dialog. Tharaud (geboren 1968) hat eine beachtliche Diskografie aufzuweisen, wurde für seine Einspielungen von Bach und Scarlatti ausgezeichnet und ist Träger des ECHO Klassik Preises. Zu seinen Partnern in der Kammermusik zählen die Klarinettistin Sabine Mayer und der Geiger Daniel Hope. Außerdem ist er als Solist mit renommierten Orchestern unterwegs und leitet das Amadeus-Festival im Schweizerischen Meinier.
Sein Dialogpartner Queyras (geboren 1967) ist Professor an der Musikhochschule Freiburg, findet aber auch Zeit für Konzerte mit Isabelle Faust, Alexander Melnikov und dem Arcanto-Quartett. Als Solist konzentriert er sich auf die Zusammenarbeit mit dem Freiburger Barockorchester und der Akademie für Alte Musik Berlin. Außerdem ist er mit großen Orchersterdirigenten wie Philippe Herreweghe oder Roger Norrington zu hören. Für seine Aufnahme der Solo-Suiten von Johann Sebastian Bach erhielt er mehrere Preise. Neben seinem Spezialgebiet Alte Musik interessiert er sich aber auch sehr für Neue Musik. So hat er z.B. als Solist bei Uraufführungen verschiedener Kompositionen von Gilbert Amy, Ivan Fedele und Peter Eötvös gespielt.
Funkensprühend und kreativ war der musikalische Dialog dieser beiden bei der Sonate d-Moll für Violoncello und Klavier von Dmitri Schostakowitsch und der abschließenden Sonate Nr. 1 e-Moll für Violoncello und Klavier von Johannes Brahms. Etwas stockend und manchmal holpernd, als hätten die beiden zu wenig Zeit für gemeinsames Üben gehabt, lief das Zwiegespräch bei den Bearbeitungen. 
Johann Sebastian Bachs Sonate D-Dur für Viola und Cembalo klang in dieser Fasung trotz aller Virtuosität etwas hölzern und bemüht. Seltsam unentschlossen wirkten die Vier Stücke für Klarinette und Klavier von Alban Berg. Die Übertragung der Klarinettenstimme auf ein Cello gelang nicht immer überzeugend. Dabei bestach vor allem Queiras durch souveränes, wunderbar emotionales Spiel. 
Der Applaus schlug sich jedoch überwiegend auf die Seite der Originale. Als Zugabe gab es "Nacht und Träume" (op. 43 Nr. 2) von Franz Schubert. Da sang das Cello von Qureyras auf den sanften, melancholischen Wellen einer Melodie, der sich anhörte, als streichle Tharaud den Bechstein-Flügel. Dazu passend: "Liebesffreud "für Violine und Piano von Fritz Kreisler.

Sonntag, 7. Mai 2017

Fantasy im Großformat

Tad Williams: "Das Herz der verlorenen Dinge", Hobbit Presse bei Klett-Cotta, Stuttgart, 380 S., 20 €

Bei Sauwetter und Erkältung hält nichts die Seele besser aufrecht als als so ein Buch wie "Das Herz der verlorenen Dinge" von Tad Williams. Der Autor bekennt freimütig, dass sein großes Vorbild "Der Herr der Ringe" war, und so konnte er auch keinen besseren deutschen Verlag finden als die Hobbit Presse bei Clett-Cotta in Stuttgart. Der 60jährige Kalifornier war wohl der erfolgreichste "Schüler" Tolkiens und hat sein Meisterstück mit der vierbändigen Saga von Osten Ard vorgelegt, die in deutscher Übersetzung erstmals 1988 bis 1993 erschien. Auf die Taschenbuchausgabe (mit Ebook-Version) der ersten 4 Bände "Der Drachenbeinthron", "Der Abschiedsstein", "Die Nornenkönigin" und "Der Engelsturm" folgt nun die Rückkehr in die phantastische Welt des Kontinents Osten Ard. "Das Herz der verlorenen Dinge" erzählt die Geschichte uralter und unerbittlicher Kämpfe, Intrigen und Abgründe zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen weiter, nachdem diese einen blutigen Eroberungskrieg verloren haben. Die Krieger von König Simon und Herzog Isgrimnur verfolgen versprengte Trupps vom Elbenvolk der Nornen und belagern deren letzten Rückzugsort in den Bergen des Nordens. Die Menschen wollen den Urhebern der Gemetzel keine Gelegenheit mehr geben, je wieder Krieg zu führen, die Nornen dagegen kämpfen mit dem Rücken zur Wand ums Überleben. 
So weit, so ungut die ewige Geschichte vom Kampf zwischen Gut und Böse - nur dass Gut und Böse auf beiden Seiten zu finden sind, ebenso wie Sympathieträger und Feindbilder, Helden, Feiglinge, Verräter und Rassisten. Diese Tatsache macht aus einem Märchen das Spiegelbild menschlicher Unzulänglichkeiten schlechthin. So komplex und vielschichtig die Völker der Erde, so komplex und vielschichtig hat Williams auch den erfundenen Kontinent Osten Ard und dessen Bewohner beschrieben. Inhaltsangaben will ich hier nicht einfach wiederholen, sie finden sich für Neueinsteiger und alte Fans von Osten Ard im Vorwort und in mehreren Anhängen reichlich.
Besondere Hinweise haben aber der spannende Aufbau, das Ensemble der Charaktere und Völker sowie die unterschiedlichen Ebenen der Handlung verdient. Durchaus reale Vorbilder haben die fiktiven Menschenvölker der "Sterblichen": Erkynländer, die der Autor ähnlich wie klassische Engländer des Mittellters modelliert. Im ersten Band es neuen Zyklus spielen die Rimmensgarder Nordmänner die Hauptrolle, die an Winkinger erinneren. Hinzu kommen das Reitervolk der Hernestyri, die römisch-byzantinisch wirkenden Nabannai, die dunkelhäutigen Wranna aus den tropischen Sümpfen und das Steppenvolk des Thrithing.  Die nicht-menschlichen Quanuc erinnern an die Trolle und Zwerge unserer Märchen und kommen sowohl als Riesen als auch in anderen Gestalten vor. Sie sind mehr oder weniger intelligent und spiegeln das Spektrum exotischer Naturvölker wieder. Die großen Gegenspieler der "Sterblichen" aber sind die "Unsterblichen".
Die Geschwistervölker der Sithi und Nornen sind eigentlich nur extrem langlebig und untereinander zerstritten bis verfeindet. Diese Feenwesen werden viele Jahrtausende alt, und im Großen Ganzen kann man sagen: Die Sithi, mit golfarbener Haut und weißen Haaren, sind eher Verbündete der Sterblichen. Die Nornen (den Namen kennen wir aus der Edda  und aus Wagners Ring des Nibelungen als "Schicksalsschwestern" der Götter) aber hassen die Menschen und wollen sie ausrotten. Nun, diese Gefühle basieren durchaus auf Gegenseitigkeit. Umso spannender, dass Williams nicht nur abwechselnd aus der Perspektive der Nornen und der Menschen erzählt, sondern quasi in neutraler Position eine Chronistin der Sithi über die Ereignisse berichten lässt.
"Das Herz der verlorenen Dinge" ist ein uralter Talisman, ein kostbares Amulett, das von Generation zu Generation unter den Großmeistern des Nornen-Ordens der Bauleute vererbt wird. Es symbilisiert sowohl das verlorene Paradies der Nornen aus der Zeit vor der Trennung von den Sithi als auch eine Vision von einer künftigen, gemeinsamen Zuflucht mit den Sithi. 
Es wäre übertrieben, Nornen und Sithi einfach als schwarze und weiße Magier abzutun; aber sie haben besondere Fähigkeiten, ungewöhnliche Macht durch Kenntnise der Natur und der Psyche. Sie sind so etwas wie Tolkiens Elfen - erweitert um das Spektrum asiatischer Kampfsportler. Ihre Schwäche liegt in einem extrem durchritualisierten Kastenwesen mit sehr starren Traditionen - ein massives Gegengewicht zu jener Kreativität, die sie sonst verkörpern. Elemente einer faszinierenden Hochkultur stehen hier in brutalem Kontrast zu einer lähmenden, grausamen Bürokratie religiösen Zuschnitts. - Na, und dass auch Menschen keine Intrige auslassen, ist ja hinlänglich bekannt.
Für mich ist der faszinierendste Aspekt der Saga, die hier wieder auflebt, die Diskussion von Identität und Anderssein, Krieg und Frieden. "Das Herz der verlorenen Dinge" ist ein philosophisch und psychologisch kluges Buch, geschrieben in einer spannenden, eleganten Sprache, die niemals ermüdet: ein echter Pageturner. 
Ich kenne Tolkien, war aber Neuling in Sachen Tad Williams. Das Ergebnis war Genuss ohne Reue. Es hat sich gelohnt, sich auf diesen Autor einzulassen, auch wenn der Werberummel manchmal lauter ist als das Schlachtegetöse. Schon für August ist der nächste Band geplant, "Die Hexenholzkrone", und im Oktober kommt Tad Williams auf Lesereise nach Dutschland. Der Tanz um dieses goldene Kalb dürfte viel Aufmerksamkeit von anderen Büchern abziehen, die auch etwas davon verdient hätten.