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Dienstag, 24. September 2019


Links Matthias Jeschke, rechts seine Frau und Kollegin Tanja
Am 22. September Nachmittags las am hellichten Sonntag Nachmittag das Autorenpaar Tanja und Mathias Jeschke in der Galerie Schacher "Raum für Kunst" diverse "Familiengeschichten" und Gedichte zum Thema - in einer Ausstellung mit dem gleichen Titel, bestückt von Vater, Mutter und einer aktuell siebenjährigen Tochter: Nina Urgessa, Zoe Urgessa und Tesfaye Urgessa. Außerdem im Bild: zwei Büsten von Annette Meincke-Nagy. Deren Meinung zu meinem Kurzbeitrag auf Facebook zu dem Szenenbild: Menschen auf allen Ebenen, toll!👍🏻  Vielen Dank, Frau Meincke-Nagy! Es bietet sich ja sehr direkt an, über Menschen mit Menschenbildern inmitten von Menschenbildern an den Wänden eines Kunstraums nachzudenken. Doch darüber will ich nicht vergessen, die Lesung selbst zu würdigen. Mathias Jeschke schreibt Kinderbücher und Lyrik (aktuell "Ich bin der Wal deiner Träume" mit Tuschezeichnungen in Sepia von Anja Seedler aus dem Limbus Verlag Innsbruck) und las dazu durchaus nicht nur für Kinder witzige Gedichte zum Thema "Familie".
Tanja Jeschke stammt wie ihr Mann aus Norddeutschland und kam über Literaturkritik und Essays zum Schreiben. Sie veröffentlichte Erzählungen und 2003 den Erzählband "Fette Beute Wort". 2011 erschien ihr erster Roman, und nun las sie aus dem Manuskript eines zweiten, der die Erlebnisse einer jüdischen Familie schildert, die 1938 nach Dänemark auswanderte. Das war ebenso eloquent wie kurzweilig. Die Blumen in der Mitte durfte Tanja Jeschke übrigens mitnehmen, denn sie hatte Geburtstag und kurzerhand ihre drei Töchter mitgebracht, die den Büchertisch betreuten.

Auftakt der interkulturellen Woche in Stuttgart

Mezzosopreanistin Cornelia Lanz

Am 22. September war Kulturtag intensiv angesagt: Am Vormittag Gottesdienst zur Eröffnung der interkulturellen Woche in der Evangelischen Stadtkirche Feuerbach mit der Mezzosopranistin Cornelia Lanz und der Salamaleque Dance Company "Dancers Across Boarders" über Gebete von Flüchtlingen in Seenot. Das Motto des Gottesdienstes lautete "In Seenot", und dazu sang Lanz "Someone to watch over me" von George Gershwin, die traurige Vanitas-Elegie "Flow my tears" von John Dowland (1596), ein düsteres Lied über Einsamkeit und Nacht. Es folgten im Wechsel mit Lesungen, einem Kurzfilm und einer kurzen Predigt von Asylpfarrer Joachim Schlecht Arien aus der Händel-Oper "Oreste" und der Mozart-Oper "Idomeneo", die sich beide um Schiffbruch drehen, sowie einige englische Volkslieder.
Ungewöhnlich im Kirchenraum und dennoch absolut passend durch den tiefen Ernst von Inszenierung und Darbietung waren zwei Tanz-Aufführungen der internationalen, multikulturellen Salamaleque Dance Compady / Dancers across Boarders. Wenn schon König David im Alten Testament vor dem Altar tanzte, um seiner Freude Ausdruck zu geben, warum nicht auch Tanz aus Trauer um die Toten des Mittelmeeres? Etliche saßen im Kirchenraum, die Verwandte oder Freunde während der Flucht übers Meer verloren haben. Über die aktuelle Situation der Flüchtlinge und Versuche der Politik, einer neuen und humaneren Europäischen Flüchtlingspolitik auf den Weg zu helfen, ging es nach dem Gottesdienst in einer Podiumsdiskussion, die Michael Zeiss leitete. Der ehemalige Chefredakteur des SWR-Fernsehens hatte neben Fachleuten auch Flüchtlingshelfer und einen Flüchtling dazu eingeladen, der eindrucksvoll von drei gescheiterten Versuchen erzählte, im Schlauchboot von der Türkei aus Griechenland zu erreichen.
Ist Stuttgart ein "sicherer Hafen"? Die Frage wird derzeit überall diskutiert. Von einem grünen OB ohne Ratsmehrheit regiert, hat sich die Landeshauptstadt bisher noch nicht der Initiative "Sicherer Hafen" verschiedener deutscher Städte angeschlossen, obwohl hier eine vorbildliche Flüchtlingearbeit stattfindet und die Integrationsrate hoch ist. Doch die Akzeptanz von Fremden lässt nach, vor allem wenn sie eine dunkle Hautfarbe haben. Da haben die Kirchen, Medien und Verbände eine wichtige Vermittlungsaufgabe, um manche überschießende Gefühlsreaktion zu versachlichen.


Der Retter trägt Wuschelkopf

Dirigent Michael Sanderling und Cellist Nicolas Altstaedt
Erstes Abonnementkonzert des SWR Symphonieorchesters Stuttgart in der Liederhalle am 20. September: In der Mitte der "Artist in residence" Nicolas Altstaedt, links dahinter der Dirigent Michael Sanderling, gelernter Cellist und zuletzt acht Jahre lang Chefdirigent der Dresdner Philharmonie. Er sprang dankenswerter Weise kurzfristig ein für den erkrankten Teodor Currentzis, der sich sein erstes Konzert im zweiten Amtsjahr als Leiter des SWR Symphonieorchersters wohl auch anders vorgestellt hatte. Um es gleich zu sagen: Es war ein sehr gutes Konzert. Aber trotzdem fehlte etwas - oder besser: jemand. Der Retter trägt Wuschelkopf und Klamotten, die wirken wie eine Kreuzung aus Mönchshabit und dem Outfit eines mittelalterlichen Gauklers / Spielmanns  (waren´s die schwarzen Pluderhosen, die fast schnabelschuhartig aufgebogenen Spitzen seiner halbhohen Wildlederschuhe?) Gleichwohl, der Heidelberger Cellist demonstrierte vom fulminanten Start mit einem Zehn-Minuten Solo (Henri Dutilleux: Trois strophes sur le nom de Sacher) bis zum Ende des zweiten Konzertes für Violoncello G-Dur von Dmitrij Schostakowitsch großen Ernst und eine unglaubliche künstlerische Unbedingtheit.
Egal war der Unernst des Dutilleux-Titels, der sowohl den Fürsten von Sacher-Masoch als auch die Wiener Sachertorte meinen kann und weder das eine noch das andere ist: weder sexuell schräg noch zuckersüß. Der Franzose Henri Dutillreux (1916 - 2013) gilt als avantgardistischer Poet unter den modernen Komponisten und hat hier ein sehr expressionistisches Werk geschaffen. Schon der Einstieg in ein Orchesterkonzert mit einem solchen Solo ist ungewöhnlich. Er zeigte aber auch gleich, wo hier der Hammer hing: am virtuosen Cello. Es mag anmaßend klingen, aber mir kommt es so vor, als habe sich mit dem zweiten Konzert für Violoncello und Orcherster von Dmitrij Schostakowitsch anschließend ein Cellistentraum erfüllt. Schostakowitsch war am Leningrader Konservatorium Lehrer von Mstislav Rostropowitsch, jenem legendären Cellisten, der Generationen von Solisten auf der ganzen Welt geprägt hat. Schostakowitsch war aber auch befreundet mit Michael Sanderlings Vater Kurt, Cellist wie sein Sohn. Und nun diese Paarung: der Cellist Nicolas Altstaedt (geboren 1982) und Michael Sanderling (geboren 1967 in Ostberlin)! Beide kennen ihren Schostakoswitsch in- und auswendig. Und so wird dieses schnörkellose Spätwerk des Russen aus dem Jahr 1967 zu einem Fest der kompetenten Interpretation und des künstlerischen Ausdrucks von Todesahnung und sarkastischem Galgenhumor nach Noten. Besser kann man dieses Werk kaum dirigieren, und besser spielen auch nicht. O-Ton Alstaedt beim SWR: "Schostakowitsch hat mich zutiefst ergriffen".
Doch nach der Pause fehlte das Besondere: "Sommerwind, Idyll für großes Orchester" von Anton Webern (1883 - 1945) ist eines der Frühwerke des Wieners, die zu Lebzeiten nie aufgeführt wurden. Jetzt weiß ich auch, warum: zu schmalzig, zu impressionistisch für meine Ohren. Webern wechselte dann zur Zwölftonmusik Schönbergs, daher ist dieses Stück alles andere als typisch für diuesen Komponisten. Das abschließende Adagio aus der unvollendeten 10. Sinfonie Fis-Dur von Gustav Mahler (1860 - 1911) ist eigentlich ein Werk von großer emotionaler und existenzieller Tragweite. Ganz ähnlich wie das 2. Cellokonzert von Schostakowitsch entstand dieses Fragment unter dem Eindruck einer schweren Herzkrankheit und in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Doch irgendwie war die Luft jetzt raus. Sanderling arbeitete die Partitur minutiös ab, das Orchester funktionierte wie ein virtuoses Uhrwerk. Aber etwas fehlte. Was, hätte vielleicht der erkrankte Chefdirigent Teodor Curretzis gewusst. Und wir hätten vielleicht etwas ganz anderes gehört.
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