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Samstag, 22. April 2023

Neue Generation mit Beethoven: Das Glück und das SWR Symphonieorchester

Joshua Weierstein und Pianist Behzod Abduraimov
Ein Abonnmentkonzert - nicht wie jedes andere. Am 20. und 21. April übernahm die junge Generation das Heft mit dem SWR-Symphonieorchester in der Klassik mit dem erst 35 Jahre alten US-Dirigenten Joshua Weilerstein, und präsentierte einen Beethoven, wie man ihn noch nie gehört hatte. Auf dem Program standen das Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur und die Sinfonie Nr. 4 B-Dur. Zum Auftakt jedoch hatte Weilerstein, der als Reservist eingesprungen war,  eine Neuentdeckung mitgebracht: Die Partita für Streicher des Prager Juden Gideon Klein, in einer Bearbeitung des ursprünglichen Trios für Orchester von Vojtech Saudek. Der Komponist wurde zusammen mit seiner Schwester Eliska ins KZ Theresienstadt verschleppt. Er musste dort auf dem Bau arbeiten, unterrichtete heimlich Kinder und war bis zu seiner Ermordung mit 25 Jahren in der Abteilung "Freizeitgestaltung" zuständig für die Instrumentalmusik. 

Dass Zwölftonmusik dermaßen rund und schön klingen kann, dieses zu zeigen war sicher auch ein Verdienst des großartigen Orchesters. Das dreisätzige Streichtrio beginnt mit einem synkopisch federenden Haupttherma, das zwischen  alten Kirchentonarten und freier Atonalität hin und her schwingt. Der langsame Mittelsatz bildet mit melancholischen Variationen über ein mährisches Volkslied einen gefühlsintensiven Mittelpunkt. Einen turbulenten Abschluss voller asymmetrischer schneller Taktwechsel bildet dann das Finale in einem unfassbar optimistischen Tonfall, wenn man bedenkt, dass sein Tod unmittelbar bevorstand. Die Schwester Kleins, die das KZ überlebte, konnte seine Chormusik, eine Klaviersonate und einen Liederzyklus mit dem Streichtrio für die Nachwelt retten.

Mit dem ersten Klavierkonzert hatte Ludwig van Beethoven in Wien als Komponist, aber vor allem als Klaviervirtuose bewiesen, dass er als Nachfolger von Mozart keineswegs in zu große Fußstapfen trat. Die besonderen Schwierigkeiten gerade in der Geschwindigkeit meisterte in Stuttgart der Solist Behzod Abduraimov kraftvoll, sensibel und mit technischer Perfektion. Auch den Namen dieses erst 33 Jahre alten Virtuosen aus Taschkent in Usbekistan sollte man sich merken. Er hat als "Wunderkind" begonnen, gewann mit 19 die London International  Piano Competition und tritt seitdem mit renommierten Orchestern in der ganzen Welt auf. Vor allem im markanten Finalsatz des ersten Klavierkonzertes von Beethoven konnte er seine Stärken voll ausspielen. Zusammen mit Weilerstein zeigte er: Beethoven ist überall auf der Welt zu Hause, und in seiner Musik verstehen sich Musiker aller Herren Länder.

Der Gastdirigent Joshua Weilerstein absolvierte mit enormer Präsenz (und ohne Noten!) den Ritt auf dem Tiger der vierten Beethoven-Symphonie ohne Fehl und Tadel. Die Vierte hatte es mit ihrer Gelöstheit, dem hellen, spielerischen B-Dur schon immer schwer zwischen der Dritten und der Fünften. Für Publikum und Kritik zu Beethovens Zeit schien sie nicht zu einem Weltbild zu passen, das Pathos und programmatischen Tiefgang verlangte. Da ist ein Ohr für Zwischentöne verlangt. Und Weilerstein reißt das erfahrene, brillant aufspielende Orchester auch mittels seiner Cheerleader-Qualitäten souverän mit durch die vielen dialektischen Gegensätze dieses Werkes. Der Lohn war lang anhaltender Applaus mit reichlich Bravos: ein runder, beglückender Konzertabend!
 

 

 

Freitag, 21. April 2023

Kein mildes Alterswerk: "Die Jahreszeiten der Ewigkeit" von Karl-Markus Gauß

Karl-Markus Gauß: "Die Jahreszeiten der Ewigkeit", Szolnay Verlag, 313 S., 25,00 €

Gauß ist als Autor, Redakteur und Zeitzeuge eine Institution. Geboren ist er 1954 in Salzburg. Dem langjährigen Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik beim Otto Müller Verlag verdanke ich außer vielen nützlichen Informationen auch wertvolle Anregungen wie einen Besuch bei den Zimbern in den Bergen über Trient, die noch ein mittelhochdeutsches Bayerisch sprechen. Viele seiner Bücher sind Minderheiten in Europa gewidmet, über die er kenntnisreiche Reiseberichte schrieb. Alle seine Bücher, ganz gleich welchen Inhalts, sind Journale, d.h. Gauß ist ein Flaneur durch die Zeitgeschichte. 

Besonders gefiel mir die "Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer". Mancher hätte das als Corona-Tagebuch im Lockdowns geschrieben, aber er tat es mehre Jahre vor der Pandemie. Es ist eine Reise ins Innere seiner Erinnerungen und seiner Phantasie. Angeregt haben ihn oft unscheinbare Dinge, die aber ihre Geschichte haben, und er hat sie auf oft verblüffende Weise erzählt.

Als Chronist des Alltags schweift Gauß gern ab von der geraden Chronologie. Er berichtet etwa über die Beerdigung seines Freundes Hans Eichhorn, der als Fischer auf dem Attersee und Lyriker gleich zwei Mal zu einer aussterbenden Art gehörte. Todesfälle werden im Alter häufiger und nehmen auch hier viel Raum ein. Sie dienen als Anlass zum Rückblick - in diesem Fall auf das Ende einer Zeitrechnung vor Corona, denn wenige Tage danach kam der erste Lockdown, wo die üblichen Rituale zur Verabschiedung lieber Menschen verboten wurden. Dabei wird der Autor zwangsläuftg oft politisch und findet klare Worte fürs moralisch Verkommene und Grobianische. 

Der schüchterne Beobachter und Alltagschronist Gauß kommt den Lesern sehr nahe. In vollen  Zügen und Bussen kennt ja jedermann die schlechte Gewohnheit mancher Zeitghenossen, mit Laptop, Rucksack und Esswaren auch den Nebensitz zu blockieren. Ebenso bekannt sind die Kophörer-Autisten, die ihren Silberblick auf ein Smartphone fixieren, um nichts mitzubekommen von dem Elend ringsum. Viele sagen dann schon mal was. Aber Gauß hadert mit einem "charakterlichen Defekt", der ihn zwingt, peinlich jedes Aufsehen zu meiden, bis  das Maß übervoll ist und eine rüpelhafte Explosion folgt. 

Beispiel gefällig? - Eine gehbehinderte alte Dame schleppt in der einen Hand eine Reisetasche, in der anderen hat sie ihren Gehstock, und schwankt auf der Suhe nach einem Sitzplatz durch den Waggon. "Irgendwann ist meine Wut größer als meine Scheu, Aufsehen zu erregen, dann spinge ich auf, herrsche einen Jüngling mit lockigem Haar, der versonnen der sphärischen Musikaus seinem Ohrstöpsel lauscht und angestrengt der Welt rundum nicht achtet, unvermittelt an, dass er sich trotz seiner sozialen Verwahrlosung unverzüglich bequemen solle, den schicken Rucksack wegzunehmen und Platz für die gehbehinderte Dame zu machen. Was dieser, die Augen schreckensgeweitet, die zarte Haut von einer pubertären Röte überzogen, auch unverweilt zu tun pflegt." Wir schmunzeln, nicht zuletzt wegen der altertümlich-umständlich mäandernden Tonlage, die der Erzähler hier anschlägt. Aber auch wegen des Erfolges und des guten Ausgangs. Andere handeln sich wüste Beschimpfungen, einen Stinkefinger oder gar Prügel ein für solches Engagement.

Die Tonlage hier ist Absicht und Stilmittel. Gaus kann auch anders, aphoristisch-direkt: "Sie war seit zwanzig Jahren mit einem Trottel verheiratet, und inzwischen sah man ihr das an.", oder "Der Moment, in dem ich die Achtung vor einer Frau verlieren kann: Wenn ich ihren Mann kennenlerne." Gauß schlägt in seinen Journalen gern Brücken ins Überraschende, vom Großen ins Kleine und umgekehrt. Von der Weltbühne zur Ortsbesichtigung ist es für ihn meist nur ein Absatz. Die Kriegsversehrten, denen er als Kind auf dem Schulweg begegnete, setzt er in Beziehung zur Flüchtlingekrise von 2015, den Tod eines Freundes mit den den digitalen Ingenieuren der Unsterblichkeit.