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Montag, 4. Oktober 2021

Egnate Ninoschwili: Ein Gogol aus Georgien

Egnate Ninoschwili: Der edle Ritter unseres Landes. Erzählungen, ausgewählt von Dato Barbakadse, mit einem Nachwort von Bela Tsipuria, übersetzt von Maja Lisowski. Pop Verlag Ludwigsburg, Kaukasische Bibliothek Bd. 28, 229 S., 19,90 €
 

Der "edle Ritter" der Titelgeschichte war ein Schläger, Vergewaltiger, Unterdrücker und Säufer. Der Landgraf Tariel darf als Vertreter jenes Hochadels gelten, der die armen unfreien Bauern noch im 19. Jahrhundert unterdrückte und sich oft an deren Frauen und Mädchen verging. In dieser Erzählung verguckt er sich am Bahnhof in die schöne Frau des kleinen Dorffschullehrers Spiridon, der mit seiner Frau deren Mutter zu Ostern besuchen will. Als die Schöne ihn jedoch abweist, versucht er mit Zechkumpanen, sie zu entführen. Da der Zug sich verspätet und die Reisenden im Gasthof übernachten müssen, hält er das für eine gute Gelegenheit. Als auch dies scheitert, weil der Wirt den Grafen kennt das Paar vor ihm warnt, und kommt es am Morgen auf dem Weg zum Bahnhof zu einem gewalttätigen Überfall. Der schmächtige Lehrer verteidigt seine Frau und wird übel zugerichtet, während seine Frau fast vor Angst stirbt. Nach diesem Überfall ist für die beiden nichts mehr wie vorher.

Mit realistischer Sprache, Ironie und erstaunlichem psychologischen Gespür erzählt der Autor hier von einer so genannten posttraumatischen Belastungsstörung (die Psychologen sollten besser von "Überlastungsstörung" sprechen). Die Frau wird depressiv, kümmert nur noch vor sich hin und erkrankt am Ende. Nach ihrem frühen Tod verliert auch Spiridon die Lebensfreude, kann nicht mehr arbeiten und ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Als er eines Tages zufällig auf den Bahnhof seinem Peiniger wieder begegnet, hat er einen Revolver in der Tassche. Er stellt Tariel zur Rede: "Warum haben Sie unser Leben zerstört?" Als Tariel auf diese Frage wieder mit der bekannten Verachtung reagiert und einfach weiter gehen will, erschießt ihn Spiridon und lässt sich festnehmen. Vor Gericht leugnet er nicht und schildert sachlich, was vorgefallen ist. Er wird zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt und stirbt auf dem Weg dorthin.

Spiridon könnte eine von Gogols tragischen Figuren aus dem sozialkritischen Roman "Die toten Seelen" sein. Wie ein moderner Gerichtsreporter beschreibt Ninoschwili nicht nur äußerlich, was dem kleinen Dorfschullehrer widerfahren ist; was sich in der Seele eines Opfers abspielt, das zum Täter wird, das sein Trauma immer wieder und wieder durchlebt, ist ihm mindestens ebenso wichtig. Diese Erzählweise ist von großer suggestiver Kraft. An Nikolai Gogol erinnert auch, dass Ninoschwili auf dem Land zur Welt kam, in Konflikt mit er Obrigkeit geriet und keinen privilegierten ein Leben lang unter Armut zu leiden hatte: Ein Pope, den er kritisiert hatte, sorgte für den Verlust seines Studienplatzes.

Egnate Ninoschwili (1859 - 1894) war das einzige Kind eines leibeigenen Bauern. Mit Hilfe von Freunden konnte er mit Hilfe von Freunden trotzdem Examen machen, musste sich aber immer wieder zu Hungerlöhnen verdingen und erkrankte schließlich an Tuberkulose. In nur sieben Jahren entstanden seine wichtigsten Erzählungen, deren Protagonisten sämtlich aus dem realen Leben kamen. Eines seiner großen Themen waren die soziale Lage in Georgien und die Nachwehen der Leibeigenschaft, die erst gegen Ende des 19. Jahrunderts abgeschafft wurde. Typisch für seine Zeit sind der dramatische Einsatz von Naturbeschreibungen (Selbstmorde gehen mit Regen oder oder Gewittern einher). Der See von Paliastomi existiert wirklich, aber in der gleichnamigen Erzählung wird zum diabolischen Gehilfen einer Natur, die ich mit dem Steuereintreiber verbündet, der die Fischer buchstäblich erdrückt. "Die Verwüstung" ist die Folge einer missglückten Kuppelei, die einen Jungbauern durch seine Ehe mit der ungeliebten Frau ruiniert. Was wie Hexerei und Fluchgeschichte wirkt, ist eigentlich das Ergebnis eines Clan-Denkens, das bis heute den Vorderen Orient vergiftet und die Korruption auf dem Balkan erklärt, vorausgesetzt, die Betroffenen zeigen ein Einsehen.

Der Herausgeber Dato Berbakadse lebt in Tbilissi, die Übersetzungen besorgte die georgische Germanistin und Maja Lisowski, die an der FU Berlin arbeitet. Die Professorin Bela Tsipuria lehrt an der Universität Tbilissi und steuerte ein kenntnisreiches Nachwort zur Wirkungsgeschichte Ninoschwilis und seine Rolle in der Literaturgeschichte Georgiens bei.