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Donnerstag, 30. September 2010

Polizei riegelt Stuttgart-21-Gelände ab - Reizgas gegen friedliche Demonstranten

Wer Wind sät, wird Sturm ernten

Stuttgart (dpa, 30. September 2010, 12.10 Uhr) - "Der Konflikt um das Milliarden-Bahnprojekt Stuttgart 21 spitzt sich weiter zu. Mit einem Großaufgebot hat die Polizei damit begonnen, einen Teil des Schlossgartens abzusperren. Dort sollen die ersten von insgesamt 300 teilweise uralten Bäumen für den Umbau des Hauptbahnhofes gefällt werden. Auch der Landtag wurde abgeriegelt. Parkschützer kündigten massive Proteste und Widerstandsaktionen an."

Eigene Anmerkungen:

Ich habe einen Traum, und darin haben Hunderttausende schweigender Menschen einen waffenstarrenden Kordon aus Bereitschaftspolizei und Wasserwerfern umringt. Die Stadt ist schwarz von Menschen. Die Arbeit ruht. Die Bewohner Stuttgarts wollen sich ihren Lebensraum und die Zukunft ihrer Kinder nicht kaputt machen lassen. Und sie weigern sich nicht nur, der Maschinerie der Verdummung nachzugeben, sondern auch, zur Verteidigung ihrer Rechte und ihres Vermögens Gewalt anzuwenden. Sie halten sich an Mahatma Gandhis Wort "Wenn die Staatsmacht den Boden des Rechts verlässt, ist Widerstand staatsbürgerliche Pflicht". Wer Gewalt anwendet, weil er nicht überzeugen kann, hat in einer Demokratie das Recht verloren, das Volk zu repräsentieren.

Die Leute, die jetzt Gewalt gegen das Volk predigen, werden spätestens nach der Landtagswahl im März 2011 dafür zur Rechenschaft gezogen. "Wir sind das Volk!", rufen die Menschen auf den Straßen nicht von ungefähr: wie in der DDR hat sich eine Clique die Macht geteilt und versucht, das ganze Land untereinander zu verteilen. Aber es ist unser Land - und kein Selbstbedienungsladen.
 
Bisher hatte sich keine Firma gefunden, die bereit war, auf die Ausschreibung der Deutschen Bahn AG für die Baumfäll-Aktion einzugehen. Denn laut Ausschreibung müssen Bewerber darüber strengstes Stillschweigen bewahren und für alle Sicherheitsmaßnahmen und Absperrungen selbst aufkommen - ein Irrsinn angesichts Zehntausender aufgebrachter Bürger. Selbst die Polizei hate angekündigt, auf den Einsatz von Wasserwerfern verzichten zu wollen. Was von der Ankündigung des Polizeipräsidenten zu halten war, zeigte der Einsatz von CS-Reizgas in der Ladung von Wssserwerfern, mit denen eine Schülerdemonstration auseinandergertrieben wurde. - Ein Offenbarungseid der Politik und ein Kniefall vor Privatisierungsmanagern wie Bahnchef Grube. Die Geschichte wird diesem Vorgang die Bezeichnung geben, die er verdient: verbrecherisch.
 
Das Großaufgebot aus Baden-Württtemberg wird verstärkt durch Bereitschaftspolizei aus Nordrhein-Westfalen, Reinland-Pfalz (SPD-regiert), Hessen und Bayern. So demonstriert Innenminister Heribert Recht (Baden-Württemberg) eine unangemessen aggressive Staatsmacht zur Einschüchterung friedlicher Demonstranten. - Bahn und Landesregierung halten anscheinend Feuer an die Lunte und wollen gewalttätige Zwischenfälle provozieren. Aufrufe der Parkschützer im Internet fordern dazu auf, sich nicht darauf einzulassen und notfalls massenhaft und persönlich deeskalierend einzuschalten.

Donnerstag, 23. September 2010

Spießbürger

In der "Stuttgarter Zeitung" vom 21. September schreibt die Kolumnistin Sibylle Krause-Burger im Zusammenhang mit der Diskussion um das Buch von Thilo Sarrazin, viele Leute in diesem Land hätten Angst vor einem Heimatverlust: "Nicht etwa in dem engen Sinne der möglichen Zerstörung des kleinen Gärtchens vor dem kleinen Häuschen, in einem kleinen Spießerleben".

Hoppla: Wieso ist eigentlich das Wort "Spießer" immer negativ besetzt? Spießbürger waren im Mittelalter die hoch geehrten Mitglieder jener Milizen und Bürgerwehren, die Städte unabhängig machten von Adel und Ritterstand oder gar Söldnern. Erst die Spießbürger machten eine freie Reichsstadt möglich oder Sicherheit, die in unruhigen Zeiten weiter oben sowieso niemand garantieren konnte oder wollte. Wehrhafte Demokraten sollte man so nicht nennen? Eigentlich müsste "Spießbürger" ein Ehrentitel sein.

Wider die Brandstifter

















Hier tobt in der knappen Freizeit der Bürgerprotest gegen Stuttgart 21: ein wunderbares Erwachen der schwäbischen Gemütlichkeit ("bloß in nix reinkommen") zum Aufstand des Establishments (erinnert mich irgendwie an Max Frisch "Graf Öderland"), wunderbar erklärt dies ganzseitig dien Süddeutsche Zeitung vom 20. September, aber billiger und mit Bildern dieserBlog.

Die Leute nehmen zu zig-Tausenden öffentlich übel, dass man ihren sachkundigen Protest als Verachtung der Demokratie diffamiert. Sie wollen bloß einfach nicht hinnehmen, dass man ihre Stadt für 20 Jahre unbewohnbar macht, unkalkulierbare Risiken zwecks Spekulantentum eingeht und Milliarden für einen Blödsinn verschwendet, den keiner braucht, während sonst überall das Geld fürs Nötigste fehlt.

Die Befürworter sind ahnungslos oder ausgerechnet die Leute, die demokratische Prozesse seit Jahrzehnten gewohnheitsmäßig manipulieren und jetzt davon phantasieren, der Protest beschädige die repräsentative Demokratie. Wir sind auf einem guten Weg, diese "Repräsentanten" loszuwerden. Die Protestierer sind in dieser Auseinandersetzung einfach die besseren Demokraten und Patrioten. Das spüren die unsensiblen Befürworter und reagieren wie die Angstbeißer der untergehenden Adenauer-Ära.

Hörfunk-Autoren 2010

Dies ist keine Polemik
…sondern eine sachliche Beschreibung der Arbeitsbedingungen bei SWR2

Seit ca. 30 Jahren arbeite ich für den SWR, und schon sehr lange bei SWR2. Bereits wenige Jahre nach der „Wende“ von 1989 machte ich die Erfahrung, dass ich als Autor allein von meiner Arbeit nicht leben kann, und bemühte mich erfolgreich um eine Teilzeitarbeit im redaktionellen Dienst, die mir aber noch Zeit zum Schreiben ließ. Und nach einigen schwierigen Jahren hatte ich einen Modus gefunden, irgendwie als Wochenend-Pendler diese berufliche Zweiteilung zu bewältigen. Die Basis: erst 8 Tage im Monat, dann 2 Tage die Woche Redaktionsdienst zu einem annehmbaren Tagessatz. Der Rest war frei fürs Schreiben.

Vor zwei Jahren erlitt meine Frau den zweiten schweren Hörsturz und erhielt kurz darauf die Diagnose „Menier-Synrom“ – etwa vergleichbar der Bedrohung durch permanent wiederkehrende Anfälle von schwerem Drehschwindel und Übelkeit. Außerdem ist sie seitdem auf dem rechten Ohr taub. Sechs Wochen danach bekam ihr Sohn mit 46 Jahren einen schweren Schlaganfall, verlor seine kleine Firma und wurde zum Pflegefall Stufe 1, um den man sich auch dann immer wieder kümmern muss, wenn seine Lebensgefährtin heroisch zu ihm hält.

In dieser Situation war ich monatelang außerstande, auch nur eine Rezension zu schreiben. Was aber nach wie vor funktionierte, waren Redaktionsdienste. Mit Termindruck, Routine und kurzen Moderationen war ich keineswegs überfordert. Also bat ich meine Vorgesetzten um die Möglichkeit, drei statt wie bisher zwei Tage in der Woche redaktionell zu arbeiten – und hatte mitten in der Finanzkrise das große Glück, auf Verständnis, Solidarität und praktische Hilfsbereitschaft zu stoßen. Ich will daher auf keinen Fall undankbar sein, denn SWR2 gibt mir die Möglichkeit, meiner Familie in schwierigen Zeiten mehr Sicherheit und Stabilität zu bieten als bisher. Unter diesen Voraussetzungen erholte sich auch meine Fähigkeit zum kreativen Schreiben wieder. Sie zu nutzen, ist aber nicht leichter geworden.

Denn das Umfeld wird von Jahr zu Jahr ungünstiger für Autoren. Damit sind nicht nur steigende Mieten in Löchern für Pendler, steigende Spritkosten, immer schlechtere Bahnverbindungen und die Streichung der Arbeitszimmerpauschale gemeint. Obwohl der öffentlich-rechtliche Rundfunk der ARD und dort wiederum speziell SWR2 im Vergleich mit Privatsendern und den meisten Tageszeitungen noch relativ gut gestellt ist, bleiben 30 Jahre kontinuierlicher Sparzwänge, Deckelungen und restriktiver Personalpolitik nicht folgenlos.

Inzwischen produziere ich z. Beispiel als Alleinredakteur (mit Urlaubsvertretung, aber ohne Assistenz und ohne einen zweiten Menschen, der auch wechselseitig die Sendeplanung übernehmen und mit dem ich Dienste tauschen könnte) pro Woche 7 radiophone „Kulturtipps“: Kolumnen a 3 Minuten mit Infos, Musik und O-Tönen zu kulturellen Veranstaltungsterminen aus dem ganzen Sendegebiet: 5 Werktage in "SWR2 Kulturservice" + Freitag / Samstag die Kulturtipps im "SWR2 Journal am Mittag".

Immer wieder bekomme ich zu hören, wie wichtig meine Arbeit sei. Aber in Wahrheit will meine Arbeit bloß kein anderer machen. Dass ich niemanden zur Seite habe, liegt nur zum Teil daran, dass SWR2 zu arm für eine zweite Teilzeitstelle bei den Kulturtipps ist. Anfangs waren wir zwei, doch mein fest angestellter Kollege fand vor vier Jahren eine weniger stressige und interessantere Arbeit. Ersatz gibt es nicht.

Bezahlt werde ich in der Regel für 3 Tage die Woche. Das Sendegebiet reicht von Konstanz im Westen bis Aalen im Osten und von Ulm im Süden bis Trier im Norden. Da sämtliche relevanten Kulturveranstalter im Blick zu behalten, bedeutet unendlich viel Kommunikation: Allein die ganzen Monatsprogramme und Pressemitteilungen wollen gelesen sein, von Kontakten und Rückfragen per Telefon oder E-Mail ganz abgesehen. Hier wäre Entlastung durch eine Assistenz an einfachsten, aber es gibt kein Geld dafür.

Zwischendurch soll ich möglichst viele Features recherchieren, schreiben
und schneiden (ca. 3 im Jahr), weil die auch im Haus gut ankommen. Aber
schreib mal einer größere Sachen, wenn man nur 1- 1,5 Tage pro Woche dafür freischaufeln kann und dann wieder für eine Woche unterbrechen muss. Es ist eine elende Schinderei mit viel Zeitverlust. Dazu kommen regelmäßig einzelne
Beiträge (Künstlerporträts, Rezensionen, "Zeitwort"-Kalendergeschichten),
die in manchen Monaten jeden Tag ohne Redaktionsdienste ausfüllen. Ja, als Autor bin ich seit Mitte 2009 wieder voll da und „gut im Geschäft“.

Aber was heißt das? Voriges Jahr hatte ich einen Gesamtumsatz von ca.
45.000 EURO, zumeist durch lohnversteuerte Redaktionsdienste. Für die muss ich teuere Pendelfahrten und Übernachtungen in Baden-Baden in Kauf nehmen. Aber ich sehe auch meine Kollegen jede Woche und fühle mich grundsätzlich besser integriert und einem Team zugehörig.

Als Autor hatte ich 8.000 EURO Umsatz (von 45.000), aber davon gingen viele Kosten ab für Reisen zu Recherchen bzw. Tonaufnahmen, Arbeitsmaterial, Fachlektüre, etc: das Übliche halt. Blieb ein Gewinn von ca. 900 EUOR, aber von dem will das Finanzamt 960 Nachzahlung: die Progressionsfalle, sagt achselzuckend der Steuerberater. Obwohl also angeblich die Progression für Durchschnittsverdiener gelindert wurde und jeder mehr netto behalten soll, ist meine Autorentätigkeit finanziell ein Zuschussgeschäft. Ich denke nun darüber nach, wie ich diesen Stress vermindern kann.

Jedes Vierteljahr, wenn die Umfragewerte der Media kommen und uns wieder mehr Hörer bescheinigen, werden wir für unser Engagement und die tollen Sendungen gelobt. Wir Radioleute arbeiten inzwischen auch als Internet-Fotografen, Blogger und Podcaster. Freie Autoren schneiden ihre Beiträge grundsätzlich selbst, weil wir sonst keine Aufträge mehr bekämen und der Sender mehr Tontechniker beschäftigen müsste. Während beim WDR Autoren fürs Schneiden und selbst Produzieren der Beiträge bzw. Sendungen einen Zuschlag von 20 % erhalten, gibt es dafür beim SWR nichts. Kürzlich wurde beschlossen, dass es für die (verlangten) Pressetexte zu SWR2-Wissen-Features kein Honorar mehr gibt.

In vielen Redaktionen werden Reisekosten überhaupt nicht übernommen, in anderen seit 20 Jahren auf eine lächerliche Pauschale von 200 EURO gedeckelt. Die Ansprüche an Sendungen und Beiträge steigen ständig, aber ihre Erfüllung darf nichts kosten. Irgendwann muss man dann einfach weniger senden. Und das geschieht seit einigen Jahren durch lange Wiederholungsstrecken und günstige Übernahmen im „ARD Sommerfestival“ von 20-24 Uhr in den Sommerferien. Das Niveau der einzelnen Sendung nimmt dabei tatsächlich nicht ab, nur die Vielzahl der Sendungen und damit die Vielfalt der Stimmen. Die aber ist derzeit anscheinend kein Merkmal von Qualität mehr – auch in der ARD.

Im Sommer 2010 beschloss die Geschäftsleitung, dass alle Programme in den nächsten zehn Jahren 15 Prozent aller Programmkosten einsparen müssen, SWR2 aber 25 Prozent. Kultur gilt wohl immer noch als „privilegiert“. Wir sind nämlich die einzigen im SWR, die noch den gesetzlichen Auftrag zur „Grundversorgung“ erfüllen.

Sonntag, 12. September 2010

Wolfgang Hilbig, ein DDR-Autor schlechthin

Wolfgang Hilbig: Werke, Band II. Erzählungen und Kurzprosa. Mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 768 S., 26,95 EURO.

Beim S. Fischer Verlag ist der zweite Band der Werkausgabe des 2007 verstorbenen Wolfgang Hilbig erschienen: „Erzählungen und Kurzprosa“. Das Buch ist 767 Seiten dick und enthält 52 Texte, 13 davon bisher unveröffentlicht. Nicht aufgenommen wurden die drei langen Erzählungen „Die Weiber“, „Alte Abdeckerei“ und „Die Kunde von den Bäumen“, die für den nächsten Band vorgesehen sind. Und außerdem fehlen Texte, die nach Ansicht der Herausgeber in die Kategorie „Essays“ gehören. Insgesamt sieben Bände sollen es werden, aber zu Recht gelten Hilbigs Erzählungen als sein Hauptwerk: über 30 Jahre hat er kontinuierlich daran gearbeitet.

Denn ein Arbeiter war Wolfgang Hilbig: erst Industriearbeiter und dann Schreibarbeiter in der DDR. Der Unterschied war für ihn riesig und doch auch wieder geringfügig. Er tat sich schwer als so genannter „Arbeiterschriftsteller“ und beschrieb eher, was faul war im angeblichen Paradies der Werktätigen. Aber auch den Kritikern im Westen hat er im Nachlass noch ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Wer sein Buch von vorne bis hinten liest, stößt erst ganz am Ende darauf. In der Erzählung „Die Nacht am Ende der Straße“, der einzigen aus dem Nachlass, die mit dem Jahr 2005 ein jüngeres Entstehungsdatum trägt, heißt es:

Meist waren seine Bücher in den Feuilletons gut besprochen worden, ein paar davon sogar ausnehmend gut; so war es, und es gab nur wenige Ausnahmen von dieser Regel, aber er meinte, er kenne seine Bücher besser als die Feuilletonisten, die allesamt so gut wie dasselbe über ihn schrieben … die bei jedem neuen Buch immer wieder auf seine blutigen Anfänge zurückkamen, so als schrieben die Feuilletonisten nur von den Feuilletonisten ab, die vor ihnen an der Reihe gewesen waren, so als habe er nie irgendwann eine Entwicklung durchgemacht … und wenn er darüber nachdachte, dann musste er ihnen wohl oder übel recht geben. ... Er war an alldem selber schuld.

Wie sperrig dieser Mensch war, wie grüblerisch: fast immer unentschieden schwankend zwischen Vorwürfen und Selbstvorwürfen. Stilistisch bewegte er sich zwischen genialen Einfällen und gewollt quälend ungelenken Sätzen, immer wieder abbrechend und neu ansetzend. Sein letzter Text, „Die Nacht am Ende der Straße“, setzt sich mit einer Schreibblockade auseinander, unter der er seit den Anschlägen vom 11. September 2001 litt.

In der für ihn typischen, unauflöslichen Mischung aus Fiktion, Reflexion und Autobiographie fragt er nach dem Unterschied zwischen Schreiben-Müssen, Schreiben-Wollen und Schreiben-Können. Nicht ohne Galgenhumor stellt er fest, dass er seit Jahren nur noch mit seinem Zigarettenkonsum über dem Durchschnitt liege. Und einem interessierten Leser gesteht er nach einer Flasche Wein:

Ich kann dir verraten, dass ich nur stocknüchtern schreiben kann. Ich weiß nicht, wie es angefangen hat, wann oder wie; ich weiß noch nicht mal, ob ich saufe, weil ich nicht schreibe, oder umgekehrt, ob ich nicht schreibe, weil ich angefangen habe zu saufen … das ist, so nennt man das wohl, der ganze Teufelskreis.

Wolfgang Hilbig war der Sohn eines Bergarbeiters, der nicht aus dem Krieg zurückkam. Der Junge wuchs als Schlüsselkind auf und trieb sich viel in den Braunkohle-Tagebaugruben der Umgebung herum: ein schwieriges, einsames Kind, das schüchtern war und doch „ein überwältigendes Verlangen nach Zärtlichkeit“ spürte. Die Landschaften dieser Kindheit durchziehen Hilbigs Prosa nicht nur als Kulisse; sie sind integraler Bestandteil eines Porträts der DDR, eigentlich eine zweite Hauptfigur neben dem Erzähler. Noch als er längst in Edenkoben in der Pfalz lebte, schrieb Hilbig:

Obwohl ich schon seit einigen Jahren hier lebte, schrieb ich immer weiter über die horizontweit sich erstreckenden Mondlandschaften im Süden von Leipzig, immer weiter über die kleine Industriestadt, in der ich geboren worden war, die umgeben war von Tagebauen, aus denen einst, bis in unergründliche Tiefen hinab, die Braunkohle gefördert worden war.

Hilbig arbeitete als Dreher und Hüttenarbeiter in der Leipziger Metallindustrie. Ab 1964 begann er Gedichte und Erzählungen zu schreiben, von denen aber die meisten in der DDR nicht gedruckt werden durften. Eigentlich entsprachen sie dem Ideal des sozialistischen Realismus, zeigten aber auch eine tiefe Verstörung angesichts der Zerstörungen, die Menschen und Natur durch die sozialistische Arbeitswelt erlitten. Erst wenn man diese Erzählungen im Zusammenhang liest, erkennt man darin auch den Kampf gegen den eigenen Schatten, die Suche nach der eigenen Persönlichkeit. Mögliche Einflüsse ergeben sich aus Hinweisen darauf, was der Autor so las:

Bücher, die ich vor zwanzig Jahren verschlungen hatte: Stevenson, Poe, ein paar angloamerikanische Kriminalromane, und Byrons Vampir-Fragment – ohne die Fortsetzung von Polodori –, das ihn wegen der lichtlosen Stimmung, die darin zum Ausdruck kommt, immer wieder staunen ließ. Diese wenigen Seiten hatten ihm, vor vielen Jahren schon, öfters zum Vorbild für eigene Produkte gedient, allerdings hatte diese Vorlage mehr dahin gewirkt, dass er in seinen Entwürfen ebenso fragmentarisch blieb.

Hilbigs Prosa ist bar jeder Erotik oder Lebensfreude, depressiv und grau, wie es sein Leben und die historischen Umstände seines Schreibens waren. Sein beharrliches Insistieren auf dieser Sicht der Dinge machte die Kulturfunktionäre der DDR wütend und viele Leser im Westen ratlos. Nicht zufällig sind Hilbigs Figuren – mal als „Ich“, mal als „Er“ bezeichnet – immer Außenseiter auf der Suche nach Orientierung und Identität. Sie kämpfen gegen die Windmühlenflügel eines übermächtigen Systems oder einer gespaltenen Wahrnehmung. Tief beeindruckt war Hilbig von Kafkas Erzählung „Kinder auf der Landstraße“:

Ich sah plötzlich mich; das erste Mal in meinem Leben fand ich mich beschrieben. Und ich erkannte auf der Stelle, was hier geschah: die Literatur antwortete dem Leben… Dies war meine letzte Erfahrung mit der Sprache, und ich gab es auf, wie das Leben zu schreiben, da ich doch Literatur wollte.

Oft spiegeln sich literarische Kunstfiguren und Doppelgänger so in der Biographie des Autors Wolfgang Hilbig, dass man nicht zwischen Original und Spiegelbild unterscheiden kann. Das macht die Lektüre nicht einfach, wie auch manche Schreibweisen des Autors, oder das Schwanken zwischen Erinnerung, Alptraum, Fiktion und Reflexion. Wer aber durchhält, den belohnen unglaublich dichte Eindrücke und Bilder, die bleiben.

Samstag, 11. September 2010

69 000 gegen Stuttgart 21

Demonstranten gegen Stuttgart 21 vor der CDU-Zentrale

Sehen so Anarchisten und Chaoten aus, vor denen man sich fürchten muss? Die Stuttgarter CDU-Zentrale am Rotebühlplatz war am vergangenen Freitag von einem starken Polizeiaufgebot gesichert (die grünweißen Mannschaftswagen verschwinden hier hinter den Menschenmassen). Die Parteifunktionäre hatten das Haus verrammelt und nahmen nicht einmal einen offenen Brief des Aktionsbündnisses entgegen, in dem sie zu Verhandlungen an einem runden Tisch eingeladen werden.

Es gibt einen Passus in der Landeverfassung von Baden-Württenmberg, der besagt, dass eine Volksbefragung nur möglich ist, wenn man binnen 14 Tagen 1,2 Millionen Unterschriften dafür beibringt: ein Gesetz, das dazu geschaffen wurde, nicht zu funktionieren. Das stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als man begründete Angst davor hatte, dass ein aufgehetzter Mob die demokratische Staatsmacht beschädigt. Heute ist es wohl eher so, dass einige Leute dieses System missbrauchen, um die repräsentative Demokratie zum Selbstbedienungsladen zu machen. Aber auch für gewählte Politiker gilt: Es gibt kein Ermächtigungsgesetz.

Donnerstag, 9. September 2010

Mahnwachen-Lied für Stuttgart 21

Mahnwachen-Lied für den Stuttgarter Hauptbahnhof frei nach Hans Leip 1915

Widmar Puhl, September 2010.  Melodie: Lili Marleen
























1
Unter der Laterne vor dem großen Zaun
Steht ein Polizist, und er selber glaubt es kaum.

Wir wollen uns da wieder sehn,
Bei der Laterne wolln wir stehn
Wie einst Lili Marleen. 
Wie einst Lili Marleen.


2
Wollen unsern Bahnhof, wollen unsre Stadt
Nicht für sollche Herrschaft, die keinen Anstand hat!

Und alle Leute solln es sehn,
Wenn wir bei der Laterne stehn
‌Wie einst Lili Marleen.
Wie einst Lili Marleen.


3
Viele stehn auf Posten, wir blasen Schwabenstreich.
Das kann ein Ticket kosten, und trotzdem komm ich gleich.

Wir sagen uns auf Wiedersehn
Und wollen bei einander stehn
‌Wie einst Lili Marleen.
Wie einst Lili Marleen.


4
Steht schon nicht mehr gerne, unser Polizist,
Unter der Laterne, dann ist es, wie es ist:

Demokratie ist mehr als bloß
Parteienfilz und Gernegroß,
‌Wenn wir zusammenstehn!
Wenn wir zusammenstehn!


5
Jeder von uns kennt sie, diese schöne Stadt,
Doch jeden Abend brennt sie von Schmerz und von Verrat.

Wenn mal die Zäune nicht mehr stehn,
Und Polizisten nach Hause gehen:
Ach Freunde, wär das schön!
Ach Freunde, wär das schön!


Stimmungsdemokratie in Stuttgart?



















Peter Hauck, CDU-Fraktionschef im Stuttgarter Landtatg und Stuttgart-21-Befürworter, hat auf den Rückzug der SPD aus der Ablehnungsfront gegen einen Volksentscheid als Wadenbeißer reagiert und erklärt: "Wir leben nicht in einer Stimmungsdemokratie".

So, tun wir nicht? - Na, der Mann hat Recht, denn ich fürchte, wir leben in gar keiner Demokratie mehr! Wenn die Stimmung am Wahltag so ist wie heute, sind CDU und FDP in Baden-Württemberg jedenfalls weg vom Fenster. Herr Hauck sollte einmal erklären, was denn sonst Wahlen entscheidet, wenn nicht die Stimmung der Wähler. Würden diese Politiker sonst immerfort Umfragewerte studieren, die nichts anderes sind als momentane Stimmungsbilder? Was man unwichtig findet, sollte man auch so behandeln. Dann schlaft mal schön weiter, Ihr Herren von der CDU und der Deutschen Bahn.

Ministerpräsident Stefan Mappus hat mich wesentlich mehr erschreckt mit der konfusen Mischung aus Legalismus und Relativismus, der aus dem Satz spricht: "Selbst wenn wir wollten, könnten wir aus Stuttgart 21 aus juristischen Gründen nicht mehr aussteigen!"

Hallo, geht´s noch? Noch nie was von Notausstieg gehört? In jedem Zug, auch wenn er längst abgefahren ist, hängen Hämmer zum Einschlagen der Fenster für den Fall, dass man anders nicht mehr hinauskommt. Vor jedem Flug werden die Passagiere auf die Notausstiege hingewiesen. Das Leben ist realistisch, aber die Herren von der Bahn und von der Politik klammern sich an Träume von einer eingebildeten Unumkehrbarkeit ihres Projekts. Deshalb fehlt auch jede Einsicht. Es ist eine Frechheit und zeugt von fehlendem Respekt vor dem Souverän dieses Landes (laut Verfassung sind das wir, das Volk), wenn man Gespräche anbietet und gleichzeitig das, worüber zu reden ist, weiter abreißen oder bauen lässt. So sieht ein ehrliches Angebot zu Gesprächen ohne Vorbedingungen eben NICHT aus.

Diese elende Mischung aus ständigen Manipulationsversuchen und Drohungen bringt die Menschen erst recht auf gegen Leute, die das Projekt befürworten. Man muss nicht einmal gegen Stuttgart 21 sein, um gegen die Art und Weise zu sein, wie hier mit Menschen umgegangen wird, die ihr demokratisches Grundrecht auf Protest wahrnehmen. Verkehrsministerin Tanja Gönner hat auf die Frage, was für ein Rechtsstaat das ist, auf den sie sich dauernd beruft und dessen Repräsentanten anscheinend machen können, was sie wollen, als Antwort nur das Gesicht einer beleidigten Oberschülerin.


Ich wüsste z.B. gern, wer die unverhältnismäßigen Polizeieinsätze gegen die Baumbesetzer von Robin Wood und andere Parkschützer in Stuttgart befohlen hat. Meines Erachtens sind solche Aktionen illegal, zumindest aber illegitim. Ganz sicher ist die Grenze des demokratisch Legitimierten und Zulässigen überschritten, wenn die Polizei einen Landtagskandidaten der Piratenpartei festnimmt, der solche Aktionen mit seinem Handy filmen wollte. Peinliche Bilder einfach unterdrücken? Die "lupenreinen Demokraten" Putin und Berlusconi lassen grüßen! Mal sehen, ob die Polizei es im Auftrag dieser "Volksvertreter" auch noch wagt, meinen Presseausweis zu kassieren.

Wenn die Polizei schon jetzt überfordert ist mit den ständigen Einsätzen wegen Stuttgart 21,  dann sollte man ihr alle wirklich überflüssigen Einsätze und den Aufbau von Drohkulissen gegen friedliche Bürger ersparen! Warum z.B. stehen halbe Hundertschaften sich an den Eingängen zum Bahnhof und in der Bahnhofshalle die Beine in den Bauch, obwohl niemand etwas gegen den Betrieb der Bahn unternimmt? Was ist das überhaupt für ein Sicherheitskonzept, das sich nicht defensiv auf die Sicherheit des Bahnbetriebs und der Bauarbeiten beschränkt, sondern aggressiv gegen Leute vorgeht, die ihre Meinung demonstrieren?

Montag, 6. September 2010

Ein offener Brief zu Stuttgart

Bundesverkehrsminister Ramsauer lässt wegen weiter steigender Kosten bei der ICE-Trasse Stuttgart-Ulm, die zum Projekt "Stuttgart 21" mit dem tiefer gelegten neuen Durchgangsbahnhof anstelle des jetzigen Kopfbahnhofes gehört, mit dem Land Baden-Württemberg wegen einer höheren finanziellen Beteiligung verhandeln. Denn die Bahn hat kein Geld und der Minister auch nicht. Deshalb habe ich ihm geschrieben:


Sehr geehrter Herr Minister Ramsauer,

Sie haben diesen Unsinn ja nicht mit verschuldet, aber mit den Neuverhandlungen über die Finanzierung der Bahntrasse Ulm-Wendlingen bereits ein wichtiges Zeichen für Vernunft gesetzt. Deshalb bitte ich Sie: Wirken Sie auf Bahnchef Grube, den Stuttgafrter OB Schuster und Ministerpräsident Mappus ein, damit das wirtschaftlich mehr als riskante und verkehrspolitisch höchst zweifelhafte "Infrastruktur"-Projekt Stuttgart 21 zugunsten einer seriösen Modernisierung des Kopfbahnhofes beendet wird.

Gebetsmühlenartig wiederholen die Befürworter von "Stuttgart 21", das Projekt sei nun einmal durch sämtliche demokratischen Gremien wie Gemeinderat, Landtag und Bundestag beschlossen worden und "unumkehrbar". Als Christ habe ich aber gelernt, das erstens Lügen kurze Beine haben und es zweitens nie zu spät für eine Umkehr und die Abkehr von einem Irrtum ist. Schließlich schadet es unserer repräsentativen Demokratie enorm, wenn das System missbraucht wird, um Abstimmungen herbeizuführen, bevor die dafür erforderlichen Informationen und Fakten auf dem Tisch liegen.

Im Gegenteil: Die Projektbefürworter haben systematisch die Bevölkerung und ihre gewählten Repräsentanten auf allen Ebenen getäuscht, Gutachten unterschlagen, Kosten unseriös schöngerechnet, Risiken verharmlost und warnende Fachleute wie den Architekten Frei Otto diffamiert. Von Wortbrüchen sowie unnötigen Umweltschäden, Lärmbelästigungen, Belastungen im Pendlerverkehr oder gar Denkmalschutz ganz zu schweigen: Das Projekt ist in Zeiten knapper Kassen und drastischer Zwänge zum Abbau der Staatsverschuldung einfach zu teuer.

Wer zahlt, hat das Sagen: In diesem Sinne und als Steuerzahler bitte ich Sie, der Verschwendung von Steuermitteln für ein nutzloses Prestigeprojekt zu beenden.

Mit freundlichen Grüßen,

Widmar Puhl

Autor und Redakteur bei SWR2.

Sonntag, 5. September 2010

Aufstand der Demokraten in Stuttgart

Sorry, liebe Freunde,
ich war beschäftigt.In Stuttgart und Umgebung sind seit Monaten viele kreative Kräfte durch den Widerstand gegen ein Wahnsinnsprojekt gebunden, das sich "Stuttgart 21" nennt. Der historische Hauptbahnhof (über dessen Wert als Baudenkmal sich streiten lässt, der aber Identität stiftet), soll teilweise abgerissen werden, um Platz für einen tiefer gelegten neuen Hauptbahnhof, der quer zum heutigen Schienenverlauf läge.

Kosten, Sicherheit, verkehrstechnischer Nutzen, Denkmalschutz und Naturschutz sind höchst umstritten und alles andere als klar, weil seit 15 Jahren mit falschen Zahlen, unvollständigen Untersuchungen und Reklame Abstimmungen und Gerichtsverfahren manipuliert wurden, um das Projekt durchzusetzen. Seit Monaten kommen immer wieder neue Probleme an den Tag, die von den Befürwortern unter den Teppich gekehrt wurden. Jetzt hat die Bevölkerung das Vertrauen in die Politik verloren: 67 Prozent der Stuttgarter und 51 Prozent der Einwohner Baden-Württembergs lehnen das Projekt nach einer neuen Forsa-Umfrage ab.

Trotzdem versucht die Bahn mit dem Teilabriss des Bahnhofs vollendete Tatsachen zu schaffen, während OB Schuster auf Reisen ist. Damit soll Macht demonstriert werden und unerschüttlerliches Vertrauen in eine Kette von trickreichen Versuchen, einen Bürgerentscheid mit "juristischen" Begründungen zu verhindern und sich auf längst überholte Abstimmungen in demokratischden Gremien zu berufen. Immer mehr Abgeordnete melden sich zu Wort und erklären, dass sie für Stuttgart 21 gestimmt haben, dies mit ihrem heutigen Wissen nicht mehr tun würden.

Die Bevölkerung geht auf die Barrikaden, und langsam zeigen die fast täglichen Proteste Wirkung. Ministerpräsident Stefan Mappus und Bahnchef Rüdiger Grube bieten Gespräche am runden Tisch an - angeblich voraussetzungslos, wollen aber während der Gespräche nicht einmal den Abriss aussetzen, geschweige denn einem vorläufigen Baustopp zustimmen. Solange sie derart unbelehrbar sind, wird der Aufstand der Demokraten in Stuttgart weiter anwachsen.
Familien mit Kindern, Pfarrer, Lehrer, grauhaarige Charakterköpfe oder Bürohengste mit Schlips und Jackett sind wohl kaum der "Mob", den OB Schuster in Stuttgart am Werk sieht. Hier steht die Vernunft auf gegen den politischen Größenwahn, stellen sich mündige Bürger entschlossen gegen eine Handvoll Spekulanten und intriganter Möchtegern-Berlusconis. Die friedlichen Demonstranten sind in diesem Fall die besseren Demokraten und Patrioten. Dem Oberbürgermeister sind die Bürger abhanden gekommen.

Übrigens: Einzelhändler haben beklagt, die Demos würden ihnen die Kundschaft vertreiben; was würden die wohl sagen, wenn die ganze Innenstadt 20 Jahre wegen Europas größter Monsterbaustelle blockiert würde?