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Freitag, 31. August 2018

Weltspitze: Bachs h-Moll-Messe mit dem Amsterdam Baroque Ensemble

Ton Koopman mit seinem Ensemble und Solisten
Einmal mehr hat das Publikum beim Musikfest Stuttgart 2018 Weltspitze erlebt. Am 30. August war Ton Koopman (der lebhafte kleine Mann mit der roten Krawatte) mit seinem Amsterdamer Barockorchester und Chor im großen Saal der Liederhalle zu Gast. Beim zweiten Konzert der Reihe "Sichten auf Bach" konnte man eine fulminante Aufführung der h-Moll-Messe erleben. Und wer sie in dieser Meisterschaft des Vortrags erlebt, kann gut verstehen, warum Johann Sebastian Bach mit diesem Opus magnum, an dem er fast 20 Jahre lang gearbeitet hat, Musikgeschichte geschrieben hat. Es gibt viele große Messen von nahezu allen großen (und vielen kleineren!) Komponisten, aber Bachs h-Moll-Messe ist schon etwas Besonderes: in ihrer filigranen Vielfalt an Melodien ebenso wie in ihrer emotionalen Wucht und - vor allem im zweiten Teil - mit zahlreichen herausfordernden Schwierigkeiten für die Choristen in schier endlosen Koloraturen beim Wechselgesang der Männer- und Frauenstimmen. Und um es gleich zu sagen: Die Gäste aus Amsterdam haben ihre Sicht auf Bach großartig vertreten.
Man spürte, dass Ton Koopman schon fast darum fast nichts zu dirigieren hatte, weil Chor und Orchester die h-Moll-Messe schon tausend Mal geprobt und aufgeführt haben. Die zähe, harte Arbeit hinter den Kulissen, die für ein solches Ergebnis auch bei Weltstars nötig ist, kann man nur ahnen. Was dagegen auf der Bühne geschah, war von atemberaubender Virtuosität und strahlte die scheinbare Leichtigkeit der großen Meister aus. Einer der Bässe im Chor sang z.B. alles auswendig, ganz ohne Noten. Ungewöhnlich auch, dass bei den Altstimmen drei Countertenöre aufs Schönste mit den Frauen sangen.
Die Solisten waren Martha Bosch (ein strahlender, zugleich warmer, ausdrucksstarker Sopran), der kräftige, in Höhen wie Tiefen sichere Countertenor Maarten Engeltjes, der große Tenor Tilman Lichdi, der leider nur beim Gloria und beim Benedictus zum Einsatz kam, sowie ein in den Tiefen manchmal etwas nachlassender, doch schöner, ungewöhnlich weicher Bass. Die Verbindung zum Generalthema des Festivals ("Krieg und Frieden") war das abschließende "Dona nobis pacem" - Herr, gib uns Frieden. Vor dem Hintergrund der Aufregung über einen Mord und die darauf folgenden rechtsextremen Krawalle in Chemnitz erhielt diese Bitte eine traurige Aktualität. Diese musikalisch formulierte Friedenssehnsucht verbindet über alle Konfessionsgrenzen hinaus Menschen in der ganzen Welt und ist eine künstlerisch prägende Kraft bis heute.
Solche Musik, von solchen Künstlerinnen und Künstlern interpretiert, kann die Zuhörer für knapp zwei Stunden die dunkle Seite der menschlichen Seele und der Welt vergessen lassen. Sie hilft, den Glauben an das Gute und Schöne nicht zu verlieren. Dass Bach sich bei diesem weltweit beliebten Meisterwerk mehrfach aus seinen früheren Kompositionen bedient hat, schränkt dessen Wert und Bedeutung nicht ein. Selbstzitate und Eigenplagiate waren zu Bachs Lebzeiten gang und gäbe. Und wer hört schon Bachs Gesamtwerk zeitgleich und parallel? Am Ende des Abends verharrte der Saal lange Sekunden in ehrfürchtiger Stille. Dann brach ein Beifallssturm los. Das Publikum war begeistert, und der lang anhaltende Schlussapplaus begann mit einem lauten "Bravon"-Ruf.


Mittwoch, 29. August 2018

Meisterwerke meisterlich interpretiert: Die Gaechinger Cantorey beim Musikfest Stuttgart

Die Gaechinger Cantorey mit Solisten und Dirigent
Auftakt zur Konzertreihe "Sichten auf Bach" beim Musikfest Stuttgart mit Hans-Christoph Rademann, der Gaechinger Cantorey und herausragenden Solisten: Die Ensembles der Internationalen Bachakademide sind zu einer sehr beachtlichen Einheit von Spezialisten für Barockmusik geworden, die sich am 28. August aus der Stiftskirche auf die große weltliche Bühne im Mozartsaal der Liederhalle gewagt haben. Der Dirigent präsentierte seine Sicht auf Bach beim Thema "Krieg und Frieden" mit Meisterwerken aus Bachs Kantaten, aber auch seine Sänger und Instrumentalisten als Gesamtkunstwerk, dem auch weltberühmte Solisten nur noch ein paar Glanzlichter aufsetzen können. Jede Sängerin, jeder Sänger im 16köpfigen Chor hat Solistenqualität, und Gleiches gilt auch für das Orchester, in dem alle Musiker auf Originalinstrumenten aus dem Barock spielen. Solisten waren Lenneke Ruiten (ein glockenheller Sopran), Anke Vondung (in großartiger Alt, sie ist eine der Besten überhaupt), Nicholas Mulroy (ein lyrischer Tenor, der am besten in kammermusikalischer Besetzung zur Geltung kommt, die es hier gab) und Peter Harvey (ein kraftvoller, präziser Bass ohne Fehl und Tadel, der niemals rutscht oder schwimmt). Und alle, alle boten meisterliche Interpretationen von vier teils recht ungewöhnlichen Kantaten von Johann Sebastian Bach. Unter dem Titel "Kampf dem Satan und Friede auf Erden" stand ein Programm, das geeignet war, all das hervorragend zur Geltung zu bringen.
Kein Zufall: Die sternförmige Anordnung auf der Bühne, in deren Mittelpunkt die phantastische Michaela Hasselt an der kostbaren Rekonstruktion einer Silbermann-Truhenorgel aus der Bach-Zeit stand. Das Continuo mit diesem Instrument hat tatsächlich den ganzen Orchesterklang verändert und übernahm eine eindrucksvolle Führungsrolle im - nein, nicht bloß im Orchester, sondern im Gesamtgeschehen, quasi gleich neben dem Dirigenten. Das ganze Ensemble hat Rademann zudem einer deutlichen Verjüngungskur unterzogen und dabei zugleich offenbar ein exzellentes Händchen für Qualität bewiesen.
Der Anfang war, mit Verlaub, ein Knaller: Das Meisterwerk "Es erhub sich ein Streit" (BWV 19) schrieb der Leipziger Thomaskantor zum Michaelisfest 1726. Und es beginnt ohne instrumentales Vorspiel mit einem Chorsatz, der kriegerisch-tumultarisch, aber auch in vollendeter Kontrolle vom Kampf des Erzengels Michael gegen Satan und dessen Höllensturz erzählt. Das war mit all den Koloraturen im Wechselgesang der Männer- und Frauenstimmen so beglückend präzise und kraftvoll, aber auch so begeisternd verspielt, dass man darüber fast die großartigen Trompeten und Streicher im Tutti hätte vergessen können. Die Rezitative von Bass und Tenor, die Arien von Sopran und Tenor entfalten vor allem in den schweren langsamen Passagen ein herrliches Klangpanorama. Der Schlusschoral "Lass Dein Engel mit mir fahren" folgt dem klassischen Muster der Bach-Kantaten, das im Folgenden durchaus durchbrochen wurde.
Die instrumentale Sinfonia-Einleitung zur Kantate "Gott soll allein mein Herze haben" (BWV 169) ist vor allem ein Prachtstück für die Orgel, das Michaela Hasselt perfekt meisterte. Zum zweiten fällt wie bei der nächsten Kantate auf, dass es zu Beginn keinen Chorsatz gibt, nur einen Choral zum Schluss. Hatte eine Grippewelle Bachs Chorknaben dezimiert? Niemand weiß es. Zum drittten ist diese Kantate wie geschaffen, um in Arioso, Arien und Rezitativen die wunderschöne, glasklare, in Höhen und Tiefen traumwandlerisch sichere Alt-Stimme von Anke Vondung zur Entfaltung zu bringen. Hier zeigten die Streicher, dass sie auch im Tutti leise spielen können, um solche stimmlichen Feinheiten nicht orchestral zu erschlagen.
Wie schon zuvor streckenweise in BWV 169, ist auch die folgende Kantate "Der Friede sei mit Dir (BWV 158) für eine kammermusikalische Orchesterbesetzung geschrieben. Die Begleitung lediglich durch Orgel, Oboe, Solovioline und Basso continuo tat der Wirkung der Stimmen von Lenneke Ruiten und Peter Harvey ungemein gut. Sie sangen ein wunderbares Sehnsuchtslied vom Himmel in der Bass-Arie "Welt ade, ich bin dein müde", zum Duett verschlungen mit dem als Solo-Choral angelegten Sopran. Da hört man gern über die unfreiwillige Komik im Text des Schlusschorals hinweg, wenn es heißt, das Osterlamm sei "in heißer Lieb gebraten". Es ist nämlich ein sehr schöner Choral, und sehr schön gesungen war er auch.
Mit einem festlichen Tutti im virtuosen Chorsatz beginnt die abschließende Kantate "Man singet mit Freuden vom Sieg" (BWV 149). Auch hier brillierte nach dem Chor Peter Harvey als starker, koloraturensicherer Bass, nur (aber wie effektiv!) begleitet von Orgel und Oboe. Alle Solisten zeigten auch hier eine mustergültige Textverständlichkeit. Lenneke Ruiten  glänzte mit ihrer hellen und klaren Stimme bei der Innigen Sopran-Arie "Gottes Engel weichen nie", ebenso wie Tenor Nicholas Mulroy und Anke Vondung in dem Duett "Seid wachsam, ihr heiligen Wächter" in kammermusikalischer Begleitung durch Orgel, Cello und ein phänomenales Fagott. Bach setzte an den Schluss seinen Lieblingschoral "Ach Herr, lass dein lieb Engelein", fügte aber zwischen den letzten Versen Pausen für Orgel-Akzente ein und ergänzte die bisherigen Fassungen um ein überraschendes Tutti im Schlussakkord. Der Applaus war dann mehr als verdient: Standing Ovations und Bravo-Rufe, der Lohn für einen großartigen Abend mit Bach.