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Montag, 19. Juni 2023

Das SWR Symphonieorchester: einmal Strawinsky und zurück

Am 15./16. Juni gab das Abo-Konzert des SWR Symphonieorhesters ein reines Strawinsky-Programm mit dem bekannten Gastdirigenten Ingo Metzmacher. Das ist in dieser Form nicht alltäglich: "Sinfonien für Blasinstrumente" (1947) zum Auftakt und nach dem elfminütigen Lehrstück über Zwölftonmusik folgte die Ballettmusik "Agon" (Wettkampf, 1954 - 1957), wo in 26 Minuten eine kontrapunktisch komprimierte Musik reiner Klangfarben und Körperfiguren zu hören war, die stark von der Zwölftönigkeit beeinflusst ist. Da sind 16 einzelne, unzusammenhängende Sätze ohne Bühnenbild oder Szenerie, sie lassen viel Freiheit für Choreographen. Es gibt in der Rhythmik leise Anklänge an ein französische Tanzlehrbuch aus dem 17. Jahrhundert, dass ihn inspiriert hat. Auch melodische Ideen, die er meist bis zur Unkenntlichkeit "übermalte", schimmern durch: Sarabande, Gaillarde und Branle aber sind nur für Fachleute noch identifierbar. Typisch: Nirgendwo kommt das ganze Orchester gemeinsam zum Einsatz, stets sind nur einzelne Instrumentengruppen aktiv. Spätestens hier war klar: Mit den Erfolgsmustern es Frühwerkes mit "Feuervogel" (1910), "Petruschka" (1911/46) oder "Le Sacre du printemps" (1913) hat das alles nichts mehr zu tun.
Das man es hier mit einem wenig bekannten Strawinsky zu tun hatte, war auch nach der Pause deutlich. Mit den rund 6 Minuten kurzen Variationen "Aldous Huxley in memoriam" schuf Strawinsky 1963/64 sein erstes vollständig nach seriellen Prinzipien konstruiertes Stück. Er hat es dem Science-Fiction-Autor Aldous Huxley gewidmet, der im November 1963 starb. Der Autor des Bestsellers "Schöne neue Welt" lebte wie Strawinsky in Los Angeles, und die beiden waren sei 20 Jahren befreundet. Auf den Spuren von Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart schrieb Strawsinsky 1938/39 die "Symphonie in C". In dieser Zeit starben seine Frau Jekaterina und seine Tochter Ludmilla an Tuberkulose, und Strawinsky empfand die Arbeit an dieser Symphonie geradezu als Erholung. Anfangs war Strawinsky durchaus ein Anhänger der Wiener Klassik. Doch in diesem Konzert bildet die Hommage an Wien im Salto rückwärts einen versöhnlichen Schluss nach dem radikalen Stilbruch des Komponisten.

Das Konzert war keine leichte Kost und eher eine akademische Übung, die Liederhalle daher ungewöhnlich schwach besucht und der Applaus lediglich höflich bis freundlich.

 

Sonntag, 18. Juni 2023

Aus meinem Bücherregal: Jerusalem in Großaufnahme

Ein Freund hat es mir anlässlich einer gemeinsamen Lesung im April geschenkt, und da war es noch kalt und nass. Der Autor Wolfgang Büscher (geboren 951, wie ich) ist Journalist und war mir unbekannt, weil er für die "Welt" schreibt. Doch als Freund von Reiseliteratur hätte der Mann mir schon früher auffsllen können: 1998 erschien sein Buch "Drei Stunden Null", 2003 "Berlin - Moskau", 2006 "Deutschland, eine Reise" und 2011 "Hartland". Der vorliegende Band ist Ende 2014 bei Rowohlt Berlin erschienen. Nicht mehr taufrisch also, aber zeitlos schön, gut und wichtig: Das Buch ist ein präziser, nicht unkritischer, aber immer liebevoller Blick ins Herz der Hauptstadt der drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Ich konnte mir Anfang des Jahres 2020 selbst den großen Wunsch erfüllen, diese Stadt zu sehen und zu erleben. Ich habe ein Tagebuch darüber geschrieben und in der Kulturzeitschrift BAWÜLON beim Pop Verlag Ludwigsburg in Fortsetzungen veröffentlichen dürfen. Ich war nur drei Tage in Jerusalem und Büscher ganze drei Monate. Da konnte er dem Rätsel Jerusalem wesentlich näher kommen als bei einem noch so intensiven Kurzbesuch. Trotzdem erkannte ich vieles, fand mich in Beobachtungen wieder und konnte manches lernen. Dankenswerter Weise enthält Büschers Buch einen kleinen Plan der Altstadt (leider keine Fotos, das hätte die Produktion wohl zu teuer gemacht).

Nur zwei Dinge fehlen: Büscher beschreibt keinen Besuch in einer Synagoge, während für mich eines der intensivsten Erlebnisse genau das war: ein gemeinsames Konzert meiner Degerlocher Kantorei mit dem Jeruslem Oratorio Choir in einer Reformsynagoge. Wir waren aufgewühlt von einem langen Besuch in der Gedenkstätte Yad Vashem und wurden mit großer Herzlichkeit und "Locus iste" von Anton Bruckner empfangen. Dann sangen wir gemeinsam Auszüge aus der "Schöpfung" von Joseph Haydn. Und weil dieses Zusammentreffen der Orte, Menschen und Ereignisse mich so berührt hat, wäre ich auch neugierig gewesen auf Büschers persönliche Eindrücke von Yad Vashem. Das ist aber keine Kritik, nur sehr persönlich. Wir hatten trotz der knappen Zeit wunderbare Gespräche mit wunderbaren Menschen, an die ich mich gern erinnere. Büschers Buch hält diese Erinnerungen wach, denn auch er suchte das Gespräch mit den so unterschiedlichen Menschen in dieser zerrissenen Stadt. 

"Ein Frühling in Jerusalem" ist eine ausführliche Begegnung mit dem geheimnisvollen, leidvoll erlebten Sehnsuchtsort so vieler Pilger auf der Suche nach Frieden, der seit 3000 Jahren selbst keinen Frieden findet.