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Donnerstag, 28. März 2019

Das ungarische Trauma: Martin von Arndts Roman SOJUS


Im Bild: Martin von Arndt stellt am 27. März mit SWR-Moderatorin Silke Arning in der Stadtbiliothek Stuttgart seinen neuen Roman "SOJUS" vor (Verlag Ars Vivendi). Besonders spannend finde ich die historischen Hintergründe, in die auch seine Familie 1956 in Budapest beim Aufstand gegen die UdSSR verwickelt war. Die politischen Ausläufer dieser Ereignisse reichen bis heute: Viktor Orban und seine rechtslastige Jobbik-Partei erreichen so enorme Zustimmungswerte, weil viele Ungarn es 1956 als traumatisch erlebten, nicht nur von den sozialistischen "Brüdern", sondern auch vom freien Westen durch Untätigkeit "verraten" zu werden. Ähnliches wiederholte sich durch die Korruption der früher regierenden Sozialisten und die brutale Austeritätspolitik mit ihren sozialen Folgen, zu der das Land nach dem Beitritt zur EU von Brüssel gezwungen wurde. Das hat aus Rettern in den Augen der Leute Feinde gemacht. Dumm gelaufen. So war ja auch das Entstehen von PEGIDA und AfD nur möglich, weil die "Treuhand" Millionen von Existenzen vernichtet und der Westen untätig zugeschaut hat. Dass die Ungarn ebenso wie die neuen Bundesländer ihre Freiheit ja auch dem Westen verdanken und keineswegs irgendwelchen Neonazis, wird dabei übersehen. SOJUS ist nun der Abschluss einer nie geplanten Trilogie. 
Denn der erste Roman um den Kommissar Andreas Eckert, der im Ersten Weltkrieg Krieg traumatisiert wurde, hieß nach der antiken griechischen Rachegöttin "Nemesis" und führte ihn auf die Spur einer Organisation, die im Berlin der Weimarer Republik Drahtzieher des Völkermordes an den Armeniern aus dem Jahr 1915 tötete. Er kommt dahinter, dass Deutschland diese Verbrecher deckt, weil deutsche Offiziere selbst maßgeblich an dem Völkermord der verbündeten Türkei beteiligt waren, und verliebt sich in eine junge Armenierin. Der zweite Band "Rattenlinien" führte Eckart nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Spur von Nazigrößen, die mit Hilfe des US-Militärgeheimdienstes über die Alpen und Italien in die USA flüchten, wobei der Vatikan durch die Beschaffung "legaler" Papiere behilflich ist. Schon in diesen beiden Romanen entwickelt von Arndts Hauptfigur eine solide Abneigung gegen Geheimdienste. 
In "SOJUS" nun findet diese Abneigung ihren Höhepunkt - und dennoch lässt er sich wieder auf einen Agenten ein, den schon seit der Nazi-Jagd kennt. Denn er hört zum ersten Mal, dass er einen Sohn hat, und will den natürlich kennen lernen. SOJUS ist der Deckname dieses Sohnes, der 1956 in Ungarn als halber Armenier und Agent Provocateur für den KGB arbeitet. Die "Frucht der Liebe", von der er nichts wusste, stellt den inzwischen alten Mann Andreas Eckardt auf eine doppelte Loyalitätsprobe: Erstens trifft er als überzeugter Demokrat auf einen Sohn, der in der KGB-Schule zum Zyniker geworden ist und den Vater verachtet, also gar nicht gerettet werden will. Zweitens aber bemerkt Eckardt, dass der inzwischen freiberuflich arbeitende Agent, dem er helfen soll, das Lügen und Manipulieren nicht lassen kann. Dieser Cowboy hat gar nicht die Absicht, SOJUS aus Ungarn in den freien Westen zu holen, weil er ihn als Informanten für den britischen MI6 verheizen will. Das ist für ihn einträglicher. Das Ganze wird gewalttätig und psychologisch interessant in einer historisch wieder mal gut recherchierten Umgebung. Ob die Spannung am Ende nachlässt?

Montag, 25. März 2019

Internationales Friedenskonzert in Stuttgart: "Touch!"


Gestern im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle: ein Highlight der multikulturellen Musikszene. Nicht dass es beim SWR Symohonieorchester weniger interkulturell zuginge: Der Gastdirigent am Donnerstag und Freitag war ein Spanier, die Erste Geigerin stammt aus Armenien, etliche der Musiker aus Asien. Wie viele Nationen noch unter dem gebürtigen Griechen und Wahl-Russen Teodor Currentzis musizieren, habe ich noch nie gefragt. Die Zahl der Herkunftsländer ist sicher zweistellig. Doch das Friedenskonzert "Touch" spielte diesbezüglich in einer anderen Liga. 
Der Veranstalter ist der türkische Kulturverein Turkuaz e.V. Stuttgart, und der hervorragend vernetzte Verein bringt Künstler aller Stilrichtungen auf die Bühne: Ahmet Gül und sein Turkuaz Ensemble aus Chor und Orchester, das Kammerorchester der PH Ludwigsburg unter der Leitung von Andreas Eckhardt, der Kinderchor "Chorälchen" aus Lichtenwald unter Leitung der Mezzosopranistin Constanze Seitz, der türkische Kinderchor Stuttgart unter der Leitung von Derya Bektas. Helene Schneiderman, die Mezzosopranistin der Staatsoper Stuttgart, interpretiert mit ihrem Pianisten Götz Payer jiddische Lieder. Yaprak Sayer und Göksel Baktagir begeistern das Publikum mit melancholischen türkischen Balladen. Der israelische Gitarrist Alon Wallach spielt mit türkischen Instrumentralisten der Weltklasse an Originalinstrumenten zusammen, als hätte er nie etwas anderes gemacht. 
Moderator Cornelius Hauptmann

Cornelius Hauptmann, ehemaliger Opern- und Konzertsänger und als Vorstandsmitglied der Stuttgarter Hugo Wolf Gesellschaft, der demnächst auch in der Staatsoper dirigiert, moderiert das Ganze humorvoll und sachkundig. Am Exempel der h-Moll-Suite von Johann Sebastian Bach machten das Kammerorchester der PH Ludwigsburg und das Turkuaz Ensemble gleich zu Anfang klar, worum es ging: Nicht um Gelehrsamkeit, nicht um Sieg oder Niederlage geht es, sondern nur darum, zusammen gute Musik zu machen. Das ist erstens möglich und gelingt zweitens prächtig. Beim gemeinsamen Finale mit den Kinderchören, die zu dem Lied "Zünd ein Licht an!" tatsächlich Kerzen in den Händen hielten, wird es schon sehr emotional, ohne je kitschig zu wirken. Dieses Konzert war auch ein Zeichen in Zeiten, wo der türkische Präsident mal wieder andere, eher dissonante Töne anschlägt. Der Beifall will gar nicht mehr aufhören. Arm oder reich spielt da keine Rolle, Herkunft oder Bildungsstand ebenso wenig. Man lebt zusammen, singt zusammen, redet miteinander, feiert zusammen. Geht doch, und das alles sogar ganz ehrenamtlich!

Brahms & Schostakowitsch: Perfekt ausbalanciert


Am vergangenen Freitag in der Stuttgarter Liederhalle: Pablo Heras-Casado als Gastdirigent beim SWR Symphonieorchester macht eine gute Figur. Der Spanier bewältigt die 5. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch mit ihrem Zwiespalt zwischen der Heroisierung des Stalinismus und der Trauer um dessen Opfer perfekt, das Orchester reagiert feinfühlig und stark auf diese Herausforderung. Ein erfolgreicher Ritt auf der Rasierklinge für die hervorragend ausbalancierten Instrumentalisten.

Am Anfang des Abends standen zwei geistliche Chorwerke von Brahms, gesungen vom SWR Vokalensemble: Eine teils eindrucksvoll wuchtige, teils schwebend klare Interpretation der A-Capella-Motette "Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen?" mit hörbaren Anklängen an Vorbilder wie Johann Sebastian Bach. Es folgte das zweite und letzte der großen orchesterbegleiteten Chorwerke des Komponisten. Das war große Vokalkunst. Was Brahms und Schostakowitsch verbindet: die Todesahnung und die Melancholie. Und wie die "Stuttgarter Zeitung" zu Recht bemerkte: Diese Art der Kooperation der Klangkörper könnte man öfter vertragen. Mehr davon wäre gewiss kein Fehler!
Das wäre übrigens auch ein Thema für sich - ein andermal: Der Gastdirigent war ein Spanier, die Erste Geigerin stammt aus Armenien, etliche der Musiker aus Japan. Dann sind, so viel ich weiß, Franzosen, Briten (Brexit, war da was?), Italiener, Schweizer dabei. Wie viele Nationen insgesamt unter der Regie des gebürtigen Griechen und Wahl-Russen Teodor Currentzis zusammen musizieren, habe ich noch nie gefragt. Die Zahl der Herkunftsländer ist sicher zweistellig, doch was man hört, ist eine harmonische Einheit.