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Donnerstag, 30. Januar 2020

Solidarität der Einzelgänger? - Ende eines Biotops

Kleine Wutrede aus gegebenem Anlass


Mein lieber Kollege, Du hast Dich neulich mal bedi mirf ausgeheult, und ich verstehe Deine Frustration nur zu gut: Da fragt eine Kultureinrichtung oder eine Bücherei an (nicht identisch, leider), ob Du  vielleicht als ehrenamtlicher Vorstand des Schriftstellerverbandes Kolleginnen und Kollegen für eine Lesung vermitteln könntest, die natürlich bezahlt werden soll. Und dann wird einfach kurzfristig abgesagt, weil die Finanzierung leider doch nicht zustande gekommen ist! Schuld daran tragen nicht Du oder andere Funktionäre, die verzweifelt zu funktionieren versuchen, sondern zum einen die faulen, desinteressierten, vollgefressenen Kretins und "Entscheider" eines Kulturbetriebs, der alles umsonst bieten will (soll?) und zum anderen die ebenfalls meist faulen, eher desintessierten, von Amazon & Co. geprägten Konsumenten der Internetgeneration "alles umsonst", die Freiheit unbelehrbar mit Raubzügen bei Urhebern verwechseln. 
Nein, ich sage inzwischen illusionslos: Es fehlt nicht an Literaturförderung. Der kulturelle Mangel müsste nicht sein, die "Kulturvermittler" sollten aber aufhören, neben ihren Gehältern auch ihre Honorar-Etats zu verknuspern oder an ihresgleichen zu verfüttern. In einem der reichsten Länder der Erde fehlt es auch nicht an Geld, aber es geht andere Wege als die der Gerechtigkeit. Es fließt in Prominenz, weil sich dadurch alle Gestühle gut füllen lassen mit Promi-geilen Snobs und Möchtegerninteressierten. Die gehen lieber in Lesungen, weil sie dann lesen lassen können und glauben, schon mit weniger Zeitaufwand mitreden zu können. Mit solchen Leuten geht auch kein Veranstalter Risiken ein, weil dieses Publikum brav seine Tickets zahlt und "Förderung" leider nicht an klar definierte Kriterien der Förderungswürdigkeit oder gar Förderungsbedürftigkeit gebunden ist. Niveau stört da meistens bloß. Wieso sich die Mühe machen, gute AutorInnen mit dem Publikum zusammenzubringen, das sie brauchen, wenn´s so leicht geht, einfach mit dem Mainstream zu schwimmen? 
Ein paar blinde Hühner finden da immerhin auch mal ein Körnchen. Wem das reicht, der sollte sich nicht "Kulturpolitiker" oder "Veranstalter" nennen dürfen. Leider gibt es auch bei Künstlern wenig Anstand und Altruismus bei denen, die nicht auf jeden Schein angewiesen sind, zugunsten der Hungerleider bzw. Hochkultur-Produzenten, die sich auch noch anhören müssen, die Leute mögen´s halt lieber flach: Wenn ich schon eingeladen werde, warum das Honorar bei Veranstaltungen, bei denen ich eigentlich nichts zu suchen habe, nicht auch noch mitnehmen? Es gibt immer welche, die das ermöglichen, und sei es als (aus Honorartöpfen!) bezahlte "Literaturvermuttler" oder Moderatorinnen. Die nutzen gern Inhaber von "Pöstchen" als Vorkoster aus, wollen aber für deren Empfehlungen meistens keine Kohle locker machen, wenn nicht genug Prominenz auf der Liste steht. Das Motto "Ausstieg aus der Kohle" war mal eindeutig anders gemeint, hat aber etliche Zyniker erst auf Ideen gebracht...
Wir sind aber auch zu einem guten Teil selbst schuld an der Honorar-Misere. Da gab es beim Verband Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) mal einen Beschluss, für Lesungen ein Mindesthonorar von 300,- Euro zu fordern. Denn jeder weiß inzwischen, dass kaum jemand mit Büchern etwas verdient, mit Lesungen und "Moderationen" aber schon eher. Nur haben sich die VS-MitgliederInnen von Anfang an nicht daran gehalten, "weil wir sonst ja überhaupt keine Lesungen bekommen" (so eine Kollegin von den Karlsruher Literaturfrauen vor über 20 Jahren). Das Ende vom Lied  ist, wie vorhergesagt, dass jede(r) macht was er oder sie will. Das sind ideale Voraussetzungen für Honorar-Dumping, das auch kräftig stattfindet. Der Irrsinn lässt sich noch steigern, lieber Kollege, wenn VS-Vorstandsmitglieder dazu auffordern, "aus ideellen Gründen" für eine gute Sache ganz ohne Honorar aus fremden Texten zu lesen. Und wir machen das, wir wollen ja vorkommen, irgendwie dazugehören, präsent sein. Zu dieser Lesung will ein umtriebiger oder schlitzohriger Bürgermeister Presse auffahren. Ob die Presse kommt und ob sie sich dann auch für die lesenden Autoren und ihre Werke interessiert? - Ja, wir sind mitschuldig an dem schamlosen Missbrauch von Urheberleistungen, der Mode geworden ist. Ich höre uns nämlich publicity- oder geldgeil sabbern. 
Oder sind wir selbst schuld, wenn wir einfach nicht prominent sind (warum denn wohl)? Ich habe mit drei Büchern ausprobiert, wie es ist, als Selbstverleger ein Buch zu produzieren und zu vermarkten. Und wie sieht es mit den "Self-Publishing-Plattformen" aus, die uns das Blaue vom Himmel versprechen, also 60-90 Prozent des Gesamtumsatzes? Generell wundere ich mich, ich, der den Tycoon Amazon meiden und eine deutschsprachige Alternative nutzen wollte, dass Amazon dies durch Knebelverträge mit allen anderen Online-Buchhändlern quasi unterbinden kann. Wo bleibt da unser Kartellamt? 
Tatsache ist jedenfalls, dass Amazon alles verkauft, was andere auch verkaufen - nur billiger, weil die Firma höhere Provisionen nimmt. Angeblich, weil sie jedes Buch häufiger verkauft. Ob das stimmt, weiß kein Mensch. Und ich als Autor werde da gar nicht gefragt. Wer seine Zustimmung verweigert, findet halt auch als Self-Publisher keine Plattform. Gelandet bin ich vom Regen in der Traufe, d.h. von Amazon bei einer Tochter der Georg-von-Holtzbrinck-Gruppe namens epubli. Der Ruf dieser Verlagsgruppe ist kaum besser als der von Amazon. E-Books habe ich als Vorstufe zu meinen Taschenbüchern auch gemacht. Die Plattform dafür heißt in meinem Fall neobooks und mehrere Verlage sind daran beteiligt, auch epubli, Hanser und Droemer-Knaur.
Ich will mich jetzt nicht mit den Mühen unzulänglicher Erfahrung als Buchhersteller und mangelhafter Online-Tools aufhalten. Aber die nackte Bilanz ist: Weder neobooks noch epubli tun ohne Bezahlung etwas für den Verkauf. Auch die Preise kann man nur sehr begrenzt mitbestimmen. Alle Werbung (und die ist mühsam) muss der Autor selbst machen. Die Abrechnungen sind ernüchternd. Für Dezember 2019 rechnet neobooks ein verkauftes E-Book für 3,40 € ab: 1,20 Nettoverkaufserlös (wieso, sind da schon Steuern abgezogen, und wenn ja, welche? Das wird nirgendwo erklärt) abzüglich 30 Prozent Provision sind das 84 Cent, zuzüglich 19 Prozent Umsatzsteuer, das sind 16 Cent (dabei dachte ich, das wären bei Büchern 7 Prozent), macht eine Überweisung von genau einem Euro. Für den gleichen Zeitraum rechnet epubli vier über Amazon verkaufte Print-Taschenbücher ab: Verkaufserlös 48,56 €, Erlösanteil epubli (inklusive Druck und Versand) 44,08 €, Erlösanteile für den Selbstverleger: 4,48 Euro! Das sind keine zehn Prozent, und nicht 70 oder 60 wie bei epubli versprochen. Dafür macht der Autor die ganze Arbeit: ein Gewinnmodell für alle Beteiligten, die Urheber jedoch an letzter Stelle. Katchingle und ähnliche "Bezahlmodelle" im Cent-Bereich sind eine Verballhornung des Wortes "Honorar", was eigentlich "Ehrensold" heißt. Wir fühlen uns dadurch nicht geehrt.


Ende der Märchenstunde"Solidarität und Arbeitsteilung"

"Es war einmal in einer fernen Zeit", so fangen viele Märchen an. Auch das Märchen Heinrich Bölls von der "Solidarität der Einzelgänger", das zur Gründung des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS) gegründet wurde, ist so eine historische Utopie. Man kann im biologischen Experiment beobachten, was passiert, wenn man zu viele Ratten mit zu wenig Futter und Wasser in einen zu kleinen Käfig sperrt: Sie fallen übereinander her. Die Folgen sind Kannibalismus und Bandenkriege. Die Auseinandersetzung um Qualzucht bei Geflügel, Schweinen und Rindern bei Deutschlands Bauern für Discountertheken und Grillwahn trägt auch schon diese Züge. Es war einmal Konsens, dass ein Biotop "Literatur" aus Autoren, Lesern, Verlegern, Kritikern und Buchhändlern existiert, wo einer den anderen zum Leben braucht und wo man folglich etwas füreinander tut. Das Bewusstsein folgt aber leider dem Sein, also dem Fressen. Die Einsicht in eine Symbiose folgt hier deren Niedergang. Das Biotop "Literatur" mit den Symbionten, die aufeinander angewiesen sind, zerfällt, wenn jeder nur noch sich selbst der Nächste ist.
"Isch over", würde unser Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble sagen. Das ist aber nicht einfach nur die Schuld der allzu vielen Autoren und der allzu vielen (überflüssigen) Bücher im Käfig. Verzeihung: auf dem Markt. Es ist vielleicht noch nicht jedem offenkundig, aber faktisch ist das Biotop am Ende, die Symbiose längst von allen Seiten aufgekündigt. Ich bin weit entfernt von der Illusion, ich wüßte ein Rezept dagegen, was Amazon angerichtet hat, um mal mit einem Ende anzufangen. Dabei weiß und schätze auch ich, dass Amazon ein prima Laden ist. Der Kalender, den eine faule Buchhändlerin nicht bestellen will, wird binnen 24 Stunden geliefert, die Preise sind sensationell. Leider geht das alles auf Kosten der Urheber und der schlecht bezahlten Angestellten. Auch die Spur existenzieller Verwüstung in den betroffenen Fachbranchen Verlage, Buchhandel, Kritik und Vertrieb ist inzwischen riesengroß. 
Da lebt eine ganze Medienindustrie von der digitalen Enteignung oder Marginalisierung der AutorInnen. Schauspieler, Toningenieure, "Literaturvermittler" (?), Hörbuchlabels, Agenturen und Redakteure zum Beispiel. Jeder Schauspieler, der etwas auf sich hält, vermarktet sich inzwischen mit "Hörbüchern", die so heißen, weil sie ein Buch vorlesen, oft auch szenisch gestalten, nur mit ihrer Stimme. Sie veranstalten kaum je bewusst einen Raubzug durch fremde Reviere und lesen meist aus Büchern, deren Autoren seit mehr als 70 Jahren tot sind. Sie handeln also korrekt im Sinne des Urheberrechts. Aber auch sie knabbern am Etat für literarische Lesungen, der dann entsprechend weniger lebende Autoren "bedienen" kann. Dass gut verdienende Schauspieler wie Walter Sittler oder die Münsteraner Tatort-Größen Axel Prahl und Jan Josef Liefers das nötig hätten, wird niemand im Ernst behaupten. Kann bitte mal jemand laut und deutlich sagen, dass so etwas in die Theater gehört? Da müssen wir als Schriftstellerverband und muss auch der PEN-Club öffentlich eine klare Position beziehen und mit den betroffenden Verbänden verhandeln! So geht es jedenfalls nicht weiter. Alles, was Urheberrecht ist. Jeder soll alles machen; deshalb geschieht nichts mehr richtig, fundiert und frei von Hintergedanken.

Amazon und der Internet-Buchhandel machen den Verlagen das Leben schwer, das weiß jeder. Aber was nicht jeder bedenkt: Online-Plattformen wie "Lovelybooks" haben Amazons Prinzip der "Leser-Rezensionen" übernommen. Die kosten nichts und zählen genau so verkaufsfördernd wie echte Kritiken, die professionell geschrieben und fundiert begründet sind. Die Qualität solcher "Kritiken" ist daher auch dem Buchhandel und den Verlagen egal, denn wes zählt, sind allein Klicks, die Statistik der Seitenaufrufe. Deshalb sind auch echte Kritiken nicht mehr wert als sinnfreie Werbetexte und Gefälligkeitsurteile.
Längst gehen nicht nur Musiker mit dem Sinkflug der Auflagen bei CDs so um, dass sie eben mehr Konzerte geben (was eben bestimmte Musikertypen begünstigt). Sie leben gut davon, denn ein Ticket kostet sogar bei Provinzbands das Mehrfache einer CD. Das macht ein Krimi-Autor wie Sebastian Fitzek und der Comedien XY inzwischen auch. Wer Stadthallen füllen kann und als Entertainer etwas taugt, lebt gut und kann über Kritiker, Buchhändlerprozente und Auflagenkalkulation nur müde lächeln. Nur ist das eben ein Literatursegment, um das man sich ohnehin keine Sorgen machen muss. 
Es gibt jedoch auch Autoren, die sind einfach nur gut und sonst nichts, vielleicht schüchtern oder halt keine Marktschreiertypen. Die sollen verhungern oder aufhören, zuckt der Analyst und Darwinist die Achseln. Wenn die Schöngeister keine Aufmerksamkeit mehr bekommen, weil die Literaturkritik in Trümmern liegt, stirbt ein wesentlicher Teil der Literatur - vielleicht der Wichtigste. Ich würde mir dringend wünschen, dass wir AutorInnen erst einmal mit einer Stimme sprechen - z.B. auch mit den Buchhändlervereinigungen. 
Doch schon bei "meinem" Buchhändler um die Ecke" stoße ich erstens auf eine Kette namens Osianer (das war mal ein Familienbetrieb) und zweitens auch bei der Website auf keine persönlich zuständigen Ansprechpartner. Nachdem ich mein Buch samt Visitenkarte persönlich vorbeigebracht habe (was Aufgabe meines Verlegers wäre, der sich aber keine Vertreter leisten kann), passiert erst mal ein Vierteljahr nichts. Dann schreibe ich eine Email an die anonyme Verlagsleitung, die üblicherweise einen Einkäufer hat, der dann irgendwann Bescheid gibt, ob mein Buch ins Programm aufgenommen wird und ob bzw. wie ich mein Ansichtsexemplar zurückbekomme. Jetzt kenne ich also schon drei solcher Buchhändler mit Namen. Muss man sich als Buchhändler gegenüber den Autoren solche entwürdigenden Systeme der Geringschätzung ausdenken, um mit Nicht-Prominenten möglichst gar nicht erst behelligt zu werden? Respekt wäre zum Beispiel für den Anfang ganz schön und ginge ganz sicher anders. Vielfalt und regionale Kultur außer Krimi und Koch - und Wanderbuch wäre auch ganz schön.

Wir verlernen selbständiges kritische Denken und Fachwissen

Wenn der Naturwissenschaftler und TV-Journalist Ranga Yogeshwar beklagt, dass die Menschen die Fähigkeit verlören, selbständig zu denken, hat das genau mit diesem Defizit zu tun. Gute Literatur ist oft subversiv, unbequem, verstörend oder zumindest anstrengend. Schon mal jemanden getroffen, der "Ulysses" von James Joyce für leichte Kost hält? Ein gutes Buch verlangt uns einiges ab und ist eben nicht bloß Unterhaltung. Mit der allzu oberflächlichen Präsentation und "Verkaufe" von Inhalten verliert man auf Dauer natürlich auch die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen Bullshit und Bedeutung, Unwert und Wert von "Content". Expertise wird folglich entwertet und kaum noch nachgefragt. Ein akademisches Studium plus Volontariat wird in eine unredliche, fachlich völlig falsche Konkurrenz zu Lieschen Müllers oder Donald Trumps "alternativen Fakten" gezwungen. Wer ein guter Leser sein will, stößt jedoch nicht zwingend auf gute Bücher, denn die bekommen längst zu wenig Aufmerksamkeit. "Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil, "Ulysses", "Zettels Traum" von Arno Schmidt, würden, fürchte ich, heute nicht mehr verlegt. Ein Lyriker, der seine anspruchsvolle Arbeit ernst nimmt, macht sich inzwischen so lächerlich wie Don Quijote de la Mancha, der "Ritter von der traurigen Gestalt".
Deshalb übernehmen inzwischen sämtliche Online-Buchhandlungen Amazons kostenloses, gemeingefährliches Sternchen-Bewertungssystem und diese unsäglich dümmlichen "Leser-Rezensionen" von Leuten, die im Zweifel schon beinahe einen Preis verdient haben, wenn sie wirklich lesen. Wer fragt da noch nach Expertise? Die deutsche Literaturkritik ist kaputt (oder flachdeutsch: am Arsch!). Bestenfalls gehen Kritiker zu einer Lesung und schreiben cdann, als ob sie das ganze Buch gelesen hätten. Denn es ist fast niemand mehr bereit, dafür zu zahlen. Buchverlage schalten keine Anzeigen mehr in der Tagespresse, weil die Online-Klincks mehr bringen und weniger kosten. Ohne Rezensionen aber auch keine Aufmerksamkeit für Bücher, die nicht schon vor ihrem Erscheinen mit viel Geld gepusht werden, oder am besten gleich mit einem Preis. In diese gut geölte Maschine fließt mehr Geld, als ein Kleinverlag oder gar ein Selfpublisher in seinem Leben zu sehen bekommt. Schon mit Marcel Reich-Ranicki hat eine Entwicklung begonnen, die mit Dennis Scheck noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat (oder wäre "Tiefpunkt" besser?). 

Selbst Zeitungen mit einer "funktionierenden" Online-Ausgabe bestreiten nicht, dass sie damit nur die Hälfte der Umsätze machen. Da aber kein Redakteur und kein Rezensent einen guten Job für die Hälfte macht, arbeiten da eben nur halb so viele, und das geht auf Kosten der Vielfalt. Dieser Aderlass trifft alle, die weder Bestseller schreiben noch prominent sind: lokale und regionale Eigengewächse, Lyriker, Anfänger. Die nimmt einfach niemand mehr wahr außer Mitbewohnern ihrer Nische. Und so beißt sich auch diese Katze in den Schwanz: Der Verlag (wenn es überhaupt noch einen gibt) traut sich nur an Kleinstauflagen, die ohne Rezensionen kaum noch ein Buchhändler ins Regal stellt. Idealisten müssen dann eben verhungern. So zynisch ist kaum ein echter Bücherfreund und interessierter Leser. Es wird jedoch auch für ihn immer zeitraubender und mühsamer, seinen Stoff überhaupt zu finden.

Mindest ebenso disruptiv (verdrängend, störend, unterbrechend) für das Biotop Literatur wie neue Techniken ist übrigens das Verhalten der meisten Teilnehmer an diesem System. Es ist zerstörerisch durch den brutalen Egoismus, den blanken Neoliberalismus, der sich hinter dieser Form von Sozialdarwinismus und Materialismus in einer immerhin kulturellen Branche kaum noch verbirgt. Es ist nicht zuletzt geprägt von Verachtung für Wissen und geistige Leistungen, aber auch von einem erschreckenden Mangel an Bildung und Belesenheit. Die Digitalisierung muss nicht solche Folgen haben. Aber sie kann es, wenn man angesichts der Informationsflut im Internet zu faul oder nicht mehr imstande ist, selbständig zu denken (siehe Yogeshwar).

Der Tod der Kritik

Auch echte Rezensenten haben´s heute schwer und verkommen leider oft genug zu "Buchbloggern", die nichts oder fast nichts an ihrer Arbeit verdienen. Wer Literaturkritik zur Werbung verkleinert, macht sie überflüssig. Da tritt Show an die Stelle von Information, denn auf die kommt dann es ohnehin nicht mehr an. Reich-Ranicki war ohne Zweifel ein großartiger Unterhalter im Fernsehen. Aber glaubwürdig war er für mich nur zuvor bei der FAZ. Dennis Scheck ist nur noch Entertainer. Nicht, dass er damit nicht auch etwas "promoten" könnte (und kann!), was ihm wichtig ist. Aber was da wem wichtig ist, wird nicht mehr transparent mit Argumenten verhandelt, sondern bestenfalls noch einem "Applausometer" für Enterainer unterworfen. Es muss "live-tauglich" sein. Die Ruhe des Überlegens und dann erst sachlich Begründens fehlt.
Der Buchhandel klagt zu Recht über immer schlechtere Bedingungen. Da spielen aber auch hausgemachte Probleme eine Rolle. Wenn jemand einen Kalender oder ein Taschenbuch kaufen will, und es ist gerade nicht vorrätig, dann lehnen zu viele Buchhändler es längst ab, das Gewünschte zu bestellen. O-Ton: "Lohnt sich nicht". Ach ja? Die erste Folge heißt dann oft "Wegen Reichtums geschlossen", und die zweite: Der Kunde kauft online. Die Katze für den stationären Buchhandel beißt sich in den Schwanz, und die Zahl der Paketlieferfahrzeuge steigt weiter. Leute, wacht endlich auf! Wer hat Euch eigentlich beigebracht, dass Buchhandel funktioniert wie das Schlaraffenland, dessen Bewohner bloß dasitzen und warten, bis ihnen gebratene Tauben oder Hähnchen ins offene Maul fliegen? Die Kehrseite dieser Medaille ist der oberschlaue Kunde, der sich beim Buchhändler beraten lässt und dann doch lieber online kauft, um das Buch nicht heimschleppen oder noch mal vorbeischauen zu müssen. So entsteht kein "Buchhändler meines Vertrauens". Solidarität ist eben keine Einbahnstraße, das müsste sich doch herumgesprochen haben.
Mit Lesungen ist es ähnlich: Autoren wollen dafür in der Regel Geld; alles andere ist im Grunde Mumpitz. Behandeln Buchhändler Autoren und Kunden aber nachhaltig gut, lohnt sich das am Ende des Tages durch steigende Umsätze, Kundenbindung das Erlebnis, AutorInnen life und persönlich kennen zu lernen, und vielleicht sogar Presse. Denn die kommt schon mal, wenn in einer kleinen Kiez- oder Provinzbuchhandlung der Bär steppt - anders als (gähn!) wenn man Journalisten immer nur den selben faden Einheitsbrei serviert. Stadt- und Stadtteilbüchereien können von so einem Verfahren ebenfalls profitieren. Oft werden sie aber durch unsinnige Vorgaben vom Chef oder vom Gemeinderat behindert. Wenn die Stadtbibliothek in einer multikulturellen Stadt mit hohem Anteil von Migranten alle Gruppen angemessen in ihrem Veranstaltungsprogramm abbilden muss, kommen deutsche oder gar lokale Autoren zu kurz bzw. gar nicht vor - ganz zu schweigen von Lyrik. Ähnliches gilt im Prinzip für die Literaturhäuser und andere Veranstalter. Man macht hier Mainstream, den alle anderen auch machen, weil man damit selten falsch liegt. Damit fördert man aber nicht die Literatur bzw. die AutorInnen. Man fördert eine asymmetrische Verarmung der einstigen Vielfalt.
Wo Land und Kommune wie z.B. in Stuttgart viel Immobilienbesitz haben und durch Mieten die Preise für Veranstaltungsräume hochtreiben, kannibalisieren sogar Behörden direkt die städtische und staatliche Kulturförderung - vom Finanzministerium bis zum städtischen Liegenschaftsamt. Ich hatte im Herbst 2019 das Glück, ein kleines Festival zeitgenössischer Dichter zum Thema "200 Jahre West-östlicher Divan" mit öffentlicher Förderung ohne Defizit abschließen zu können. Doch was mich daran wirklich wurmt, ist, dass die teuerste der vielen Rechnungen, die da zu bezahlen waren, die Miete für eine Veranstaltung in einem Kulturhaus war, das der Stadt gehört. Der Verein, der es betreibt, bekam nur Peanuts. Sollten private Mäzene, die auch in diesem Fall erheblich mehr Geld beigesteuert haben als das Kulturamt der Stadt, eines Tages darauf bestehen, dass ihr Geld für Künstler verwendet wird und nicht länger vom Kulturamt zum Liegenschaftsamt fließt, kann die öffentliche Literaturförderung vollends einpacken. Wenn die öffentliche Hand kameralistische Hütchenspiele betreibt oder Stiftungsgelder von gemeinnützigen Projekten absaugt, ist gewaltig der Wurm drin.

Kannibalismus als System

Der Kannibalismus in der "Szene" geht längst weiter. Ein Beispiel ist die Finanzierung und Organisation des KULTURREPORT, einer monatlichen Veranstaltungsvorschau der Stuttgarter Zeitungen mit allen Branchen: Oper, Klassik, Jazz, Crossover, Rock und Pop,Theater, Kleinkunst, Literatur (Lesungen), Vorträge. Weil der Verlag in der Szene kaum noch Anzeigenaufkommen hat, finanziert er gegen: Regelmäßig lese ich am unteren Seitenrand den Nachweis eines Geldflusses von der Kunst zum Medium Zeitung mit dem Logo der Veranstalter, denen Vorberichte gewidmet sind. "Wir danken für freundliche Unterstützung"..., und dann folgen z.B. die Bachakademie, das SWR Symphonieorchester Stuttgart, das Stuttgarter Kammerorchester, die Jazz open, das Theaterhaus und oft auch kleine private Theater, die um jede Förderung kämpfen müssen. 
Die Idee: Kulturträger bezahlen selbst dafür, dass die Zeitung sie wahrnimmt. Wegen dieser immer engeren und gleichzeitig intransparenten Verzahnung von werbenden "Vorberichten" und wertenden "Kritiken" oder Rezensionen nach den jeweiligen Veranstaltungen ist es aus Sicht der Presseverlage auch nicht mehr so wichtig, systematisch und differenziert darüber zu berichten, was wirklich geschehen ist. Es gab ja den häufig (auch mit Fördermitteln) bezahlten Vorbericht. Dass da etwas fehlt, merken und beklagen meist nur die Fachleute, die man tapfer ignoriert.
So kann kein Autor mehr einen Ruf aufbauen, der auf dem sachkundigen Urteil lesender und bei Lesungen hörender, Eindrücke sammelnder, qualifizierter Rezensenten beruht. Wozu auch, wenn anscheinend "Klicks reichen"? So lange niemand merkt, dass wir Schund und sensationell gute Bücher so vor dem Kauf nicht mehr auseinanderhalten können, stimme ich Ranga Yogeshwar zu: Wir verlernen, selbständig zu denken. So geht eine ganze Kulturtechnik zum Teufel.
Inzwischen lerne ich, dass selbst Kollegen kaum noch bereit sind, eine Rezension über meine Neuerscheinung zu schreiben. Auch diejenigen nicht, deren Bekanntheit ich selbst als Rezensent und Autor großer Autorenporträts für den Hörfunk nach Kräften gefördert habe. Sie kämpfen ja selbst und womöglich an anderen Fronten ums Überleben (außer Dennis Scheck, der hat mich einfach vergessen). Die Ratten im Käfig sind wir selbst, aber auch die Kollegen von der Presse, die Buchhändler, die Buchverlage! Von der Solidarität der Einzelgänger keine Spur. Ausnahmen sind Glückssache.
Nach dem alten Strategen-Motto "Divide et impera!" (Teile und herrsche) hat uns alle die große Enteignung des Literaturbetriebs durch im Grunde Betriebsfremde gefressen. Die meisten von uns merken nicht einmal, wie sie an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Es lebe der Algorithmus! Gewinnen kann nur, wer den größten Rechner hat. Wissen und literarische Qualität spielen in diesem System fast keine Rolle mehr. Beides ist ja auch Leuten wie Putin, Friedrich März und anderen Macht- bzw. Geldmenschen nur ein Dorn im Auge. Immer schon, immer wieder. Ich habe kein Rezept dagegen, ich habe nur ein loses Mundwerk.

Origineller Thriller aus Mannheim




Claus Probst: Die Jagd. Am falschen Ort. Thriller, S. Fischer Taschenbuch, Frankurt am Main, 344 S. 9,99 € (2017)

Claus Probst (geboren 1959) ist ein seltsamer Mann: einer, der sich mit halb offenem Rollkragenpulli und Mantel fotografieren lässt und dreinschaut, als ob ihm das peinlich wäre (warum tut er es dann?), einer der mit seiner Familie in Mannheim lebt und eine Praxis als Psychotherapeut, Kinder- und Jugendpsychiater führt, aber gleichzeitig Zeit findet, Thriller zu schreiben. Der erste bereits (Vermint, 2010) erzählt voller Spannung vom Wert der Zeit in einem Minenfeld, wo sich Vergangenheit und Gegenwart in der Hoffnung auf eine Sekunde in der nächsten Zukunft treffen. Der zweite (Nummer zwei, 2014) erschien bereits als Fischer Taschenbuch, ebenso der dritte (Spiegelmord, 2015) und der hier besprochene vierte. Wie gut geschrieben er ist, kann womöglich am besten jemand beurteilen, der selbst schreibe, aber Krimis und gar Thriller nur liest.
Ich gebe zu: Das Buch lag lange bei mir rum. Erstens hatte ich wegen einer größeren OP Besseres zu tun, nämlich möglichst gesund werden. Zweitens hatte ich dann Prioritäten abseits des Rezensententums. Ich bin nämlich als Rentner kein Literaturkritiker mehr. Wenn ich trotzdem noch über ein Buch schreibt, muss es gute Gründe dafür geben - vielleicht auch gnadenlos subjektive. Hauptgrund: Ich war beeindruckt von einem schreibenden Psychiater im wirklichen Leben.
Ein weiterer Grund ist die Idee, einen Gejagten zum Jäger zu machen. Das hat was. Der Ich-Erzähler des Romans ist ein junger Mann, der zum Geburtstag ein neues Mountainbike bekommt und auf seiner ersten Ausfahrt damit auf einem Waldweg Zeuge eines brutalen Doppelmordes wird. Ein berüchtigter Mafiaboss erschießt kaltblütig seine schöne junge Frau und deren Geliebten, einen Buchhalter. Der Zeuge, der nur wenige Meter entfernt vom Rad springt, ruft instinktiv "Nicht!" und macht den Mörder auf sich aufmerksam, kann aber in eine Fichtenschonung fliehen. Als der Killer hinter ihm herkriecht, kann der Zeuge die Schonung umgehen, das Auto erreichen und flüchten. Aber der Mafiaboss hat ihn gesehen, was er auch bei seiner Aussage im Polizeirevier erzählt. Er bleibt namenlos, weil er als Zeichner ein Porträt des Mörders erstellen kann, das direkt in den Zeugenschutz führt. Er ist egal, wie er heißt, denn von da an wechselt er die Namen wie Hemden. Es ist ihm auch (fast) egal, wie es weiter geht, denn noch am ersten Tag lässt seine Freundin ihn fallen wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel: Freunde, Familie? - Kannste vergessen.
Der Mörder wird vor Gericht gestellt und verurteilt, aber weil der den einzigen Zeugen umbringen lassen will, bringt ihn die Polizei sofort außer Landes. Die Mafiakiller finden ihn, doch er kann den Spieß umdrehen und wird zum Mörder. Insgesamt zehn Menschen tötet er auf diese Weise. Mal mus auch ein bestochener Polizist mit einem Auftragskiller sterben, mal kommt der instinktsichere Flüchtling seinen Jägern einfach nur zuvor. Mit der Präzision, Disziplin, Kondition und Improvisationsgabe eines ESK-Kämpfers wird dieses absolute Naturtalent als Wild zwar jeden Jäger los. Doch jedes Mal lässt er auch sein gerade neu erworbenes, trotzig verteidigtes Leben zurück und muss neu anfangen, sich Unterstützung suchen, Tarnung aufbauen, ein legales Einkommen beschaffen, eine neue Freundin finden. Quer durch Europa hetzen ihn ihn Mafiakiller, und das Opfer ist inzwischen mörderischer als jeder von denen.
Das Misstrauen gegen jeden und alles lässt diesen Mann komplett abtauchen und den Kontakt zu seinem "Führungsoffizier" bei der Polizei abbrechen. Was macht das mit einem Menschen? Probst hat diese Frage mit einem meisterhaften Psychogramm beantwortet. Und er hat es nach den Regeln stilsicherer Spannungslektüre getan: Kurze Sätze, knappe Dialoge, ständige Cliffhanger, kurze Schnitte, Komik und schwarzer Humor, auch brutale Szenen, aber trotzdem moralisch ernsthaft und nicht einfach bloß reißerisch. Deshalb habe ich es mit Genuss gelesen bis zum überraschenden Finale.





Donnerstag, 2. Januar 2020

Musikalisches Silvester-Feuerwerk


Silvesterkonzert 2019 des SWR Symphonieorchesters in der Stuttgarter Liederhalle: Der junge Posaunensolist Frederic Belli war an diesem Abend der Star des Orchesters, das unter der Leitung des erfahrenen und temperamentvollen Gastdirigenten Tito Munoz aus New York ein musikalisches Feuerwerk abzog: Die leider viel zu wenig bekannte "Rumänische Rhapsodie" Nr. 1 A-Dur von Georg Enescu (1881 - 1955), Polonaise und Walzer aus "Eugen Onegin" von Peter Tschaikowsky, "Danse macabre" für Orchester g-Moll und den "Mephisto-Walzer" Nr. 1 A-Dur von Franz Liszt gab es zum turbulenten Auftakt eines Abends, der von Zigeunermusik und dem "Teufelsgeiger" Paganini inspiriert war. Nach der Pause stand Belli im Mittelpunkt - so jung noch, dass er seine Aufregung vor dem knallvoll besetzten Beethofensaal nicht verbergen konnte. Die Erleichterung war ihm anzusehen, als er sich ironisch grinsend selbst auf die Schulter klopfte, weil das Publikum ihn nach dem unglaublich schweren Konzert für Posaune und Orchester C-Dur von Nino Rota feierte. Dass er auch langsam und gefühlvoll kann, zeigte er anschließend im dritten Satz des Konzertes für Tenorposaune und Orchester von Daniel Schnyder. Unglaublich, welche reinen, zart schmelzenden Töne Belli aus seinem Instrument holte! Das war Neue Musik, die man gern hört. Kein Wunder: Der Mann ist in einem anderen Leben auch erfolgreicher Jazzposaunist, leitet zwei eigene Ensembles und spielt viele Uraufführungen zeitgenössischer Komponisten.
Leonard Bernsteins Ouvertüre zu der Operette "Candide" und "Divertimento for orchestra" waren der perfekte, beschwingte Rahmen für diesen Ausklang. So hörte ein Musikjahr in Stuttgart auf, das voller Überraschungen war. Es war ein Jahr, das dem Orchester durch Chefdirigent Teodor Currentzis als Einheit eine neue Identität gab, gefestigt auf einem künstlerischen Niveau, das sich scheinbar mit nahezu jedem Konzert noch zu steigern vermag. Und das Schönste daran ist: So ein musikalisches Silvesterfeuerwerk geht ganz ohne Feinstaub...