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Sonntag, 24. September 2023

"Tritt in die Fresse"

So verroht ist also inzwischen die Sprache etablierter Feuilletons, wenn der blanke Hass regiert. Teodor Currentzis, der Chefdirigent des Stuttgarter SWR Symphonieorchesters, ist ein genialer Star, ein umjubelter und beliebter Musiker der Extraklasse. Der Grieche hat aber auch einen russischen Pass und ist politisch umstritten. Vor allem seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine wirft ihm eine kleine, aber lautstarke Gruppe vor, sich nicht ausreichend deutlich gegen Vladimir Putin zu positionieren und öffentlich von dessen Krieg zu distanzieren. Besonders respektlos und aggressiv agiert dabei Moritz Eggert, Präsident des Verbandes deutscher Komponistinnen und Komponisten. Der Mann polarisiert und polemisiert, wo er nur kann. Und zu seinem Sprachrohr hat sich die Stuttgarter Journalistin Susanne Benda gemacht, die für die "Stuttgarter Zeitung" und die "Südeutsche Zeitung" schreibt (die beide dem gleichen Verlegerkonsortium gehören). Hier ist ein spezieller, besonders infamer Populismus  zu beobachten, der immer öfter in die unterste Schublade sprachlicher Verrohung greift. Die Blaupausen dafür liefert der feine Herr Moritz Eggert. Doch niemand zwingt dazu, dessen Entgleisungen auch genüsslich zu übernehmen. Außer, die Herren Verleger wollen das so. Man kann ja über Currentzis denken, wie man will. Und einen Krieg zu verurteilen kann doch nicht schlecht sein, oder? Aber so zu reden wie Moritz Eggert, ist undiskutabel und sollte es bleiben: "Zu diesem Krieg zu schweigen, ist ein Tritt in die Fresse von Schostakowitsch, Herr Currentzis!"

"Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten" (Hanns Joachim Friedrichs). Gegen diesen Ehrenkodex ihrer Zunft verstößt Susanne Benda von der "Stuttgarter Zeitung" mit unschöner Regelmäßigkeit, wenn es um den Chefdirigenten des SWR Symphonieorchesters Stuttgart geht. Der zieht es nämlich vor, sich der Kunst zu widmen und nicht dem russophoben Geschrei von Leuten, die die um jeden Preis eine eindeutige Positionierung gegen Vladimir Putin und seinen Krieg fordern - bis hin zur Nötigung und ohne Rücksicht auf die Folgen, die sie ja nicht selbst tragen müssen. Wobei es stets Sache der selbst ernannten Moralwächter bleibt, wie viel Positionierung denn nun genug ist und welche nicht. Es ist meiner Meinung nach besonders perfide, die pöbelnde Wortwahl der untersten Schublade von Eggert als Zitat zu übernehmen, ohne sich zumindest verbal davon zu distanzieren. Ich finde, das erfüllt alle Merkmale einer politisch motivierten Hexenjagd. Denn weder schweigt Currentzis zu diesem Krieg, noch tritt er Schostakowitsch "in die Fresse". Er verehrt ihn vielmehr, das zeigen viele Konzerte der letzten Jahre mehr als deutlich. Der Gossenjargon führender Kulturvertreter gegenüber einem überragenden Künstler, der sich einfach der geforderten Unterwerfung unter bestimmte Formen des Kotau verweigert, bringt solche Leute zur Weißglut. Mit Schaum vor dem Mund lobt Frau Benda den Dirigenten Currentzis in den höchsten Tönen, um dann festzustellen: Die Schere zwischen Politik und Kunst schließt sich bei Currentzis so wenig wie bei Schostakowitsch. Auch wenn sie das gerne anders hätte, sie wird es aushalten müssen. Auch wenn es, mit Verlaub, eine Schande ist, wenn sie so ein wunderbares Konzert zum Podium für ihre Schmutzkampagne herabwürdigt.

Eine großartige Uraufführung erlebte das Publikum nämlich am 22. und 23. September beim ersten Abonnementkonzert des Stuttgarter SWR Symphonieorchesters zum Auftakt neuen Saison in der Liederhalle: "Gospodi Vozvah", eine Psalmodie für Viola und Orchester, großartig und intensiv gespielt von dem französischen Bratschisten Antoine Tamestit. Als Chefdirigent Teodor Currentzis und der Solist den serbischen Komponisten Marko Nikodijevic beim Schlussapplaus auf die Bühne holten, stand er da ein bisschen schüchtern und verloren, sichtlich war ihm so viel Lob und Aufmerksamkeit  fremd. Zur Zeit kenne ich keine ergreifendere Trauernusik auf den Zustand der geschundenen slawischen Seele im Krieg. 

Ganz anders nach der Pause die Sinfonie Nr. 13 B-Moll von Dmitrij Schostrakowitsch (Babi Jar). Die Komposition ist eine Klage über den größten Massenmord an Juden außerhalb der Vernichtungslager. Am 29. und 30. September 1941 erschossen in einer Schlucht bei Kiew deutsche Soldaten und ihre ukrainischen Helfer über 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Jewgeni Jewtuschenko beklagte in dem Gedichtzyklus "Babi Jar", dass wegen des latenten Antisemitismus in Russland niemand bereit war, dort auch nur eine Gedenktafel zu errichten. Noch Nikita Chruschtschow wollte diesen Massenmord totschweigen. Die Vertonung der Jewtuschenko-Gedichte durch Dmitrij Schostakowitsch und ihre Uraufführung waren daher auch 1962 noch riskant. Die Texte sangen ein hervorragend einstudierter Estnischer Nationaler Männerchor und als Solist der herausragende russische Bass Alexander Vinogradov. Ein ergreifender dramatischer Abend. Das Publikum bedankte sich mit Bravorufen, stehenden Ovationen und lang anhaltendem, begeistertem Applaus.


Freitag, 8. September 2023

Lyrik-Ausstellung im Poesiereservat Schriftstellerhaus Stuttgart

 
Lyrik auf engstem Raum im fast 400 Jahre alten Fachwerk: Seit 1984. In diesem Jahr leitete Johannes Poethen (1928 - 2001), Gründer des Vereins Stuttgarter Schriftstellerhaus, das erste Lyrikseminar der Bertelsmannstiftung in dieser damals neuen Begegnungsstätte für Autorinnen und Autoren. Das Konzept: Alle lesen reihum neue Gedichte vor und kritisieren sie - in der Sache streng, in der Form stets wertschätzend und freundlich. Die Gruppe traf sich weiter zum "Gedicht-Putzen" nach Poethens Verfahren: Wer gelesen hat, hält den Mund, bis alle anderen etwas dazu gesagt haben. 7 der 12 Teilnehmerinnen und Teilnehmer schreiben immer noch. In der Pandemie war kein Treffen möglich, und so kam Wolfgang Brenneisen 2020 auf die Idee einer Porträt-Serie. Je ein Text aus der "Gründerzeit" und aus den letzten Jahren lassen die Bilder sprechen.

Ich erinnere mich noch gut an das 1. Lyrikseminar der Bertelsmannstiftung im "Häusle", wie wir das kleine Fachwerkhaus seit der Eröffnung liebevoll nennen. Dass hier schon wahrlich Großes entstanden ist, mag der Hinweis verdeutlichen, dass viele der damals jungen Leute bis heute schreiben, teils Preise erhalten haben und sehr erfolgreich publizieren. So auch 7 der 12, die damals mit ihren Manuskripten nervös um einen großen Tisch mit Poethen saßen, der Grauen Eminenz. Posthum führt er also eine Art virtuellen Vorsitz auch in der Ausstellung.

Der erste Lockdown nahm auch uns die physische Basis für gemeinsames Gedichteputzen. Der Lyriker und Grafiker Wolfgang Brenneisen hatte die Idee, unsere Köpfe nach Fotografien als Briefmarkenserie zu gestalten - frei nach und inspiriert von Andy Warhol. Er schickte mir Proben, ich gab sie weiter an Manfred Bartsch, Sybille von Bremen, Carmen Kotarski, Irma Rommel und Eva Christina Zeller. Alle steuerten etwas bei. Doch es dauerte. Und es dauert immer noch. Damit endlich einmal ein Ergebnis zu sehen ist, entstand eine Schwarz-Weiß-Broschüre als erster "Zwischenschritt" auf dem Weg zur Ausstellung mit einer Lesung (am 7. Oktober ab 17 Uhr).
 
Die Ausstellung am "Tatort Schriftstellerhaus Stuttgart" sollte uns aus der Isolation holen und aktiv in einem kreativen Projekt verbinden, aber auch ein trotziges, buntes Zeichen der Lebensfreude setzen: Wir sind noch da! Die Auswahl sollte klein und streng konzentriert bleiben auf noch aktive Teilnehmer der Poethen-Runde von 1984. Zu jedem Porträt mit Kurzbiographie kommen zwei Textblätter: ein Gedicht aus den 80er Jahren und ein aktuelles. Poethen selbst ist auch hier die Ausnahme, weil er nicht mehr unter uns ist. Der ausgewählte Auszug des Zyklus "ach erde du alte" aus dem gleichnamigen Gedichtband von 1981 ist mehr als 40 Jahre alt, aber von bestürzender Aktualität und großer poetischer Wucht. Wir danken dem Verlag Klett-Cotta für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks. Mehr zu zitieren verbietet sich hier. Die Gäste der lyrischen Feier zum 40. Geburtstag des Schriftstellerhauses sollten ja schließlich am 19. September ab 16.30 Uhr noch etwas zum Schauen und Lesen vorfinden. Eine Lesung der Gruppe gab es am 7. Oktober. https://blog.lerchenflug.de/eine-starke-gruppe/