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Montag, 26. September 2022

Die Degerlocher Kantorei Heinrich Schütz zum 350. Todestag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Am 24. September gab die Degerlocher Kantorei In der stimmungsvollen Versöhnungskirche von Stuttgart ein Motettenkonzert zum Gedenken an den bedeutendsten deutschen Musiker des Frühbarock. Heinrich Schütz wurde 1585 im sächsischen Köstritz geboren, wo bis heute ein gutes Bier gebraut wird. Der zweite Sohn eines kinderreichen Gastwirtes kam in den Genuss eines dreijährigen Stipendiums in Venedig, als Landgraf Moritz von Hessen-Kassel das musikalische Talent des Jungen erkannte. Er war Schüler von Giovanni Gabrieli, dem Organisten und Chorleiter des Doms von San Marco. 1611 veröffentlichte Schütz sein "Primo libro di madrigali", das die vielstimmige, teils mehrchörige Chormusik Venedigs erstmals nach Deutschland brachte. 

Nach seiner Heimkehr wurde Schütz bald sächsischer Hofkapellmeister in Dresden. Sein ganzes Leben und Schaffen stand im Schatten und unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges. Seine geistliche Musik hat Johann Sebastian Bach ebenso beeinflusst wie noch zeitgenössische Komponisten, etwa Vytautas Miškinis aus Vilnius in Litauen. Dessen Werk "Cantate Domino canticum novum" I und II aus der Reihe "Thoughts of Psalms" bildete den Anfang und das Ende eines Motettenreigens von Schütz entlang dem Kirchenjahr, den die Chorleiterin Barbara Straub sehr sachkundig und liebevoll zusammengestellt hatte. Die Degerlocher Versöhnungskirche hat eine ausgezeichnete Akustik und bietet dem Publikum ein nüchternes und für kluge Lichtregie dankbares Ambiente, in dem man sich gut auf die Musik konzentrieren kann. 

Bernhard Moosbauer (Barockvioline), Hélene Godefroy (Barockcello) sorgten für passende Zwischenmusik, Klaus Schulten an der Orgel für dezente Begleitung. Der Chor selbst ist für sichere Intonation, Stilgefühl und feinnervige Interpretation alter und klassischer Kirchenmusik schon mehr als hinlänglich bekannt. Es ist ein Jammer, dass solche Aufführungen nicht mehr Menschen erreichen, denn die Versöhnungskirche ist klein und geradezu intim. Aber ich könnte mir eine Aufzeichnung für Youtube gut vorstellen - und in der Folge auch Einladungen in andere Kirchen, etwa zu Festivals wie dem Musikfest Stuttgart. Fast alle Sängerinnen und Sänger sind reine Amateure und haben nicht die Zeit für eine umfangreiche Konzerttätigkeit. Doch das Niveau ist allemal beachtlich.


Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart tanzt

 

Am 23. September hatte das SWR-Sinfonieorchester seine Abonnenten (gilt für alle Geschlechter) zu einem "Dankeschön-Konzert" in den Hegelsaal der Liederhalle eingeladen - exklusiv für erwiesene Treue auch im dritten Jahr der Pandemie. Unter dem Motto "L´Idée de la danse" hatte Dirigent Jean-Christophe Spinosi ein Bouquet sinfonischer Tänze zusammengestellt, das dem Abend etwas von der Leichtigkeit und Beschwingtheit wiedergeben sollte, die im Zeichen von Corona, Krieg in der Ukraine und Klimakrise für viele Menschen abhanden gekommen ist. Auszüge aus der Wassermusik von Georg Friedrich Händel, die Ouvertüre zur Oper "Der Barbier von Sevilla" von Gioacchino Rossini, ein Walzer aus der Symphonie fantastique von Hector Berlioz, die "Ungarische Polka" op. 332 von Johann Strauß Sohn, die romantische Barcarole aus der Oper "Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach und der 4. Satz (Saltarello) aus der Sinfonie Nr. 4 A-Dur von Felix Mendelssohn-Bartholdy verbanden sich zu einem bunten musikalischen Familienfest. 

Launig und charmant führte Jasmin Bachmann als Moderatorin durch den Abend. Das Publikum hat´s dankbar genossen: Ohne Schutzmasken im vollen Saal war das hoffentlich kein Tanz auf dem Vulkan. Nach dem "Böhmischen Tanz" aus der Oper "Carmen" von Georges Bizet mischten sich sogar einzelne Bravo-Rufe in den rauschenden Beifall.

 

Samstag, 17. September 2022

Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters

 

Ein glücklicher Jean-Christophe Spinosi mit glücklichen Musikern beim Schlussapplaus

Einziger Programmpunkt beim Saisonauftakt der Stuttgarter Abonnementkonzerte des SWR Symphonieorchesters in der Liederhalle war die 9. Sinfonie D-Moll mit dem Schlusschor über Schillers "Ode an die Freude" für Orchester, vier Solostimmen und Choristen in vier Sätzen. Der französische Dirigent Jean-Christophe Spinosi hatte dabei eine große Besetzung zu leiten: neben dem Symphonieorchester das NDR Vokalensemble und das Chorwerk Ruhr. Das Thema ist eine überschwängliche Hymne an die Freundschaft, die Liebe, den Wein und eine allgemeine Menschheitsverbrüderung, Freiheit und Gleichheit, geschrieben von Schiller kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789 und komponiert von einem tauben Genie 1823/24 als finales Tonkunstwerk, von Gustav Mahler und Wagner zum Vorläufer ihrer "Gesamtkunstwerke" erhoben, ist auf jeden Fall programmatisch.

Das Gedicht ist nicht besonders (Schiller selbst nannte es später "schlecht"), wurde aber in seinem Gefühlsüberschwang mehrfach vertont und hat einen unzerstörbaren Kern. Das sind einzelne Textzeilen wie "Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt" oder "Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt", sie sind wichtiger als die Frage, warum Beethoven welche Strophen weggelassen oder umgestellt hat. Das Gedicht ist politisch als Aufforderung zur Freude als Medizin gerade in Zeiten von Krieg, Chaos und Gewalt. Diese Sinfonie ist politisch schon im Sinne der Musikgeschichte, weil sie das Genre der Instrumentalmusik an ihre Grenzen bringt und sie (durch die erstmalige Aufnahme von Text) überschreitet.

Musikalisch ist diese Sinfonie ebenfalls politisch im Sinne von innovativ: die schlichte Melodie des Kernthemas, die wirklich jeder kennt und mitsingen kann, fängt an mit einem Chaos der Töne, das an die Geschichte der Schöpfung selbst erinnert. Es mündet im ersten Satz in einen Trauermarsch, es gibt einen lustigen Janitscharenmarsch, eine Doppelfuge im Orchester und eine weitere später im Chor. Das Thema wird auf wirklich jede erdenkliche Art in hohem Tempo durchgespielt, aber nicht zu Tode geritten, verkleinert und wieder vergrößert, beschleunigt und gebremst mit Crescendi und plötzlichen Stopps. Der zweite Satz ist ein sehr schnelles Scherzo, der dritte ein langsames Adagio. Der vierte Akt schließlich ist eine furiose Steigerung des Bisherigen bis hin zu einer Extase der Freude, die sogar den Applaus des Publikums einzubeziehen scheint.

Der Chor hat dabei eine besondere Rolle, die er mit schier unglaublicher Textverständlichkeit und Intonationssicherheit bewältigte. Nicht zu unterschätzen dabei: diese Leistung muss ohne Aufwärmübungen oder Einsingen nach fast einer Stunde Stillsitzen erbracht werden - und im Fall der Liederhalle auch über große Entfernung von der Chor-Empore (ich schätze fast 30 Meter bis zur ersten Sitzreihe). Ungewöhnlich angenehm und sicher der Bassbariton Tareq Nazmi (geboren in Kuwait, seit ewigen Zeiten bei der Münchner Staatsoper), routiniert die vielseitige Sopranistin Christine Landshammer. Mit leichten Schwächen der Tenor Kenneth Tarver (USA). 

Eine Entdeckung für mich war - auch ganz im Sinne des programmatischen Kosmopolitismus an diesem Abend - die Mezzosopranistin Lena Balkina. Die dunkelhaarige Schönheit, 1987 in Taschkent (Usbekistan) geboren und zwei Jahre später mit ihren Eltern auf die Krim ausgereist, hat in Kiew studiert und bildet als Ukrainerin mit langjährigem Aufenthalt in Leipzig und Wien das kosmopolitische Sahnehäubchen dieses kosmopolitischen Abends. Sie hat eine dieser "schönen, dunklen, weiblichen Stimmen, geheimnisvoll und sinnlich", die laut Sandro Cappeletto von La Stampa schon Rossini verzaubert haben.