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Donnerstag, 28. Juli 2022

Literatur aus einer untergegengenen Welt

Eginald Schlattner: Schattenspiele toter Mädchen. Roman. Pop Verlag, Ludwigsburg, 401 Seiten, 29 €

Zwei Brüder fahren mit dem Rad von einem Dorf ins andere, um fünf Mädchen und ihre musikalische Mutter zu besuchen. Das heißt, korrigiert der Erzähler sich selbst rasch: "Für mich nur eine: Agathe". Und schon ist er ins Erzählen geraten von Land und Leuten, die es so nicht mehr gibt: den rumänischen, teils rumäniendeutschen Dörfern zwischen dem Fluss Aluta und den Südkarpaten, deren Bewohner fromme, arme Leute waren, ehemals leibeigene Bauern, die auf dem steinigen Ackerboden ums tägliche Brot kämpften, christianisiert von von orthoxen Mönchen. Die Buben sind anscheinend familiär philosophisch vorbelastet: "Der kleine Bruder hinter mir fragte: "Warum kräht der Hahn, der keine Krähe ist, und warum krähen die Krähen nicht, die Krähen sind?" 

Seit Jahrhunderten immer gleiche Rituale, Feste, Unsitten und Sprüche, seit Jahrhunderten die immer gleichen Sorgen, Nöte, Freuden und Abhängigkeiten. Die Geschichte springt hin und her zwischen Vergangenheit Gegenwart. Zu einem Fest des Gemeinde-Schutzheiligen, bei dem es nach Mitternacht Damenwahl gab und auch der Pfarrer aufgefordert wurde. Eine Szene, die typisch ist für Schlatters Art, zu erzählen:

"Als mir das zum ersten Mal geschah, zögerte ich (warum eigentlich, als evangelischer Pfarrer?). Ein Kirchenvater mahnte besorgt: Sagt eilends Ja, Herr Pfarrer!" Inzwischen besteht die Kirchenhemeinde aus zwei alten Leuten: eine Frau gleich alt, achtundachzig, und mir. Wie jemand befand: zwischen achzig und scheintot. Die Geschichte hat uns aufgegeben." Sicher nicht die Literaturgeschichte. Denn in Schlattners Büchern finden sich die wichtigen kleinen Geschichten, die sonst zwischen den Zeilen untergehen.

Der Roman ist, so der Autor, ein Gedächtnisroman im Gegensatz zum Erinnerungsroman. So versucht er begrifflich zu differenzieren und uns zu erklären, warum die Omnipräsenz seiner Autobiographie, die sich einerseits oft wiederholt, andererseits in wechselnden Kontexten neu klingt. "Was ist ersonnen, was Tatsache in dem Text? Wann und wo decken sich Erdichtetes und Erinnerung? ... Ich meine, dass es in jeder Geschichte einen Angelpunkt geben muss, wo sich erinnerte Wahrheit und wahre Geschichte in den Armen liegen". Zu lesen ist eine mehrfach gebrochene, aber niemals zerbrochene Dichter-Biographie. Eginald Schlattner wurde 1933 in Arad geboren (Rumänien). Seit 1991 arbeitet er als Gefängnisseelsorger für unterschiedliche Bekenntnisse in verschiednen Haftanstalten. in der Zeit um 1950 wurde er als Student u.a. wegen "unsittlichen Lebenwandels" verurteilt (in Wahrheit eine Intrige der Securitate) und musste nach seiner Entlassung erst in einer Ziegelbrennerei, dann auf einer Staatsfarm und beim Eisenbahnbau arbeiten, bevor er 1969 das Studium der Hydrologie abschließen durfte. 1973 gab er das Ingenieurwesen auf und studierte Theologie. Nach dem Ende der Diktatur erschienen die Romane "Der geköpfte Hahn", "Rote Handschuhe" und "Das Klavier im Nebel" beim Wiener Zsolnay Verlag. "Rote Handschuhe" thematisiert seine zweijährige Isolationshaft bei der Securitate in Kronstadt (Brasov, damals Stalinstadt). Die Bände "Wasserzeichen", "Gott weiß mich hier" und "Drachenköpfe" (2021) erschienen im Pop Verlag Ludigsburg. Der Autor lebt bis heute als Pfarrer auf dem evangelischen Pfarrhof in Rothberg (Rosia, Siebenbürgen).

Schlattners Bücher sind voller Austriacismen und Ausdrücke aus der KuK-Monarchie (fesch, stiebitzen, Tschinakel für Ruderboot, ein  Huhn "krageln", also ihm den Hals umdrehen u.v.a.). Ein echter Till Eulenspiegel ist dieser Autor, der mit "Schattenspiele Toter Mädchen " wirkt wie ein irgendwie aus der Zeit gefallener Don Juan ohne je ordinär zu werden, in einer zurückhaltenden und doch deutlichen Sprache. Das Buch ist eine Erinnerungsparade an seine zahlreichen Liebschaften zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Verhältnissen. In seiner Jugend stammte der österreichische Hohenzollernkönig aus Preußen. Er lieferte Rumänien gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mit seiner Kapitulation, als er die Seiten wechselte, der Roten Armee aus. Verhältnisse und Zeiten, sie sind untergegangenen wie die Menschen, die darin gelebt haben. Oftmals erst durch eine Todesanzeige wurde dem Autor klar, dass er zu den letzten Überlebenden der deutschen Volksgruppe in Rumänien gehört. Er setzt den Frauen in seinem Leben und all den verflossenen Liebschaften ein Denkmal, aber auch dem Alltagsrassismus der Kampfspiele zwischen jüdischen oder Sinti-Rumänen und Hitlerjugend, und der Freundschaft quer durch die Glaubensbekenntnisse und Ethnien in Rumänien. 

Er schreibt auf Deutsch, weigert sich aber auszuwandern wie die überwiegende Mehrzahl seiner Volksgruppe. Außerdem gibt es die rumänische Mehrheit, eine ungarische Minderheit, viele Sinti und chassidische Juden, die teils jiddisch sprechen (zumindest damals). Das Land der Kirchenburgen aus der Zeit der Tartarenkriege war und ist eine Art balkanischer Schweiz mit extremer Kulturdichte, in der das Deutsche ausstirbt.

Dem Pfarrer Schlattner kam die Gemeinde abhanden, aber er blieb und schrieb und schrieb. Mehrsprachig (Ungarisch, Rumänisch, Jiddisch, Deutsch und Lateinisch) - das ist in bescheidenen Grenzen nachlesbar in diesem seltsam-seltenen Roman aus vergangenen Zeiten. Rilke-Verse und NS-Marschlieder, das mischt sich bruchlos. Wie sagte der Kinderarzt zu Eginald zum überstürzten Abschied: "Dein Vater glaubt nicht an den Endsieg. Und Deine Mutter singt jüdische Schlager beim Tschinakelfahren". Das kann man wenigstens glauben. Kaum glauben kann man die Histörchen vom großen Aluta-Hochwasser in Fogarasch, als im Park der Kirchenburg ein Fuchs und ein Hase sich auf ein- und denselben Ast eines Baumes gerettet hatten. Tja, aber ausgerechnet das hat die halbe Stadt gesehen. 

Eine der Frauen, die es Eginald angetan hatten, war Gittli aus dem Roman "Der Klosterjäger" von Ludwig Ganghofer. Erfunden zwar, doch Inhaberin eines Schlüssels vielleicht zu Eginalds Suche (Sucht?) nach den Frauen. Gittlis Liebhaber ist der Jäger Haymo: "Er küsste sie - wieder und wieder - und schien dabei doch endlich die Überzeugung zu gewinnen, dass er völlig wach wäre." Manche sind ausgewandert und als Besuch zurückgekommen, andere sind gestorben. Die Frauen dienen jedoch als Gesamtheit der Selbstvergewisserung. Sie sind Anker für die wahrhaftig reichen Erinnerungen des Autors. Sie sind ihm Beweis dafür, dass er noch lebt und dass dieses Leben nicht nur einen Sinn hat, sondern auch schön ist - zuweilen ausnehmend schön.