Seiten

Sonntag, 22. Januar 2023

Musikalische Antwort auf eine schwierige Zeit: Currentzis dirigiert Alban Berg und Dmitrij Schostakowitsch

Teodor Currentzis und Vilde Frang

Am 20. Januar konnte ich mich freuen über ein großariges Konzert des SWR Symphonie Orchesters in der Stuttgarter Liederhalle. Chefdirigent Teodor Currentzis dirigierte das Konzert für Violine und Orchester von Alban Berg (1885 - 1935), "Dem Andenken eines Engels" in zwei Sätzen. Das war Zwölftonmusik von großer Klangschönheit und Ausdruckskraft, gewidmet Manon Gropius, der Tochter des befreundeten Ehepaares Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius. Sie war für Berg wie die Tochter, die er sich immer gewünscht hatte, und starb mit 18 Jahren an den Folgen einer Kinderlähmung. Die vielfach ausgezeichnete norwegische Solistin Vilde Frang (sie spielt eine Guarneri-Geige von 1734) war für dieses Stück so etwas wie eine Idealbesetzung. Mit ihrer technischen Brillianz und einfühlsamen Interpretation konnte sie bei den Zuhörern ein Kopfkino entzünden, das mit Sicherheit noch lange nachhallen wird.

Nach der Pause folgte die Sinfonie Nr. 8 C-Moll von Dmitrij Schostakowitsch (1906 - 1975), der die Musik von Alban Berg kannte. Darin hat der Komponist die Erfahrungen und Verheerungen des Zweiten Weltkrieges in Musik umgesetzt - schwere Kost und ernst, aber ganz große und ethisch gewichtige Kunst. Das Orchester und sein Dirigent in Höchstform. Diese achte Sinfonie ist geprägt vom deutschen Ausrottungskrieg im Osten Europas, der fast 27 Millionen Bürger der Sowjetunion das Leben kostete, darunter gut 15 Millionen Zivilisten. Die vorausgegangene 7. Sinfonie entstand noch unter dem Eindruck der Blockade von Leningrad mit über einer Million toten Zivilisten in 872 Tagen. Danach wäre eine Jubelsinfonie über den teuer erkauften Sieg für Schostakowitsch unenkbar gewesen. Er sah in seiner Achten "eine Antwort auf die Ereignisse" einer "schwierigen Zeit". Schließlich lebte der Gewaltherrscher Stalin noch, den Putin verehrt. Weiter geht auch Currentzis nicht, der lange in Russland gelebt hat und Angehörige, Freunde und Kollegen dort nicht in Gefahr bringen will.

Das Konzert war ein Statement, auch wenn das Programm schon vor Beginn des Krieges gegen die Ukraine zusammengestellt wurde. Es war ein intellektuelles Konzert voller Klangchiffren auf den Tod, mit einer modernen Form des Totentanzes und teils bissig-skurrilen, teils aggressiv-bedrohlichen Momenten, das nach Art einer guten Filmmusik dennoch direkt zur Seele sprach. Nur der Finalsatz bei Schostakowitsch - keine schmetternden Siegesfanfaren - enthält einen nachdenklichen Triumph mit gedämpfter Freude: Fortissimo-Dissonanzen münden in einen Pianissimo-Ausklang, über dem "ersterbend" in der Partitur steht. Wir hatten Freunde dabei, die zuvor noch nie ein klassisches Konzert besucht hatten - und sie waren begeistert!

Donnerstag, 19. Januar 2023

"Alle Armenier heißen Armen": Ein armenischer Kafka erzählt

Sevak Aramazd: "Armen", Roman. Aus dem Armenischen von Levon Sargsyan. Pop Verlag, Kaukasische Bibliothek Band 27, Ludwigsburg, 366 Seiten, 24,50 €.

Sprache und Einfallsreichtum des Verfassers sind geschult an William Shakespeare, Edgar Allan Poe, den Gebrüdern Grimm, Franz Kafka und Alfred Hitchcock. Der Autor Sevak Aramazd oder Sevak Hovhannisyan wurde 1961 in Geghaschen (Armenien) geboren. Er hat Germanistik und Philosophie in Eriwan und Frankfurt am Main studiert und er hat Werke von Goethe, Heine, Rilke, Trakl, Böll und Hesse ins Armenische übersetzt. Irgendwann muss er wohl auch über die Märchennovelle "Die schöne Lau" von Eduard Mörike gestolpert sein, die als Nixe oder Wasserfrau die Donauquelle in Bad Urach bewohnt, die wegen ihres türkis-blaugrünen Wassers  "Blautopf" heißt. Aramazd hat Essays zu Literatur und Philosophie publiziert, Lyrik (2000 "Himmel und Erde", 2018 "Ein großer Sonnenaufgang"). Sein erster Roman "Selbst" erschien 1993; es folgten 2009 "Armen" und 2014 "Der Berg der Sonne". So weit eine Übersicht der Zutaten für eine Literatur, die zugleich Legende und Dokument ist, Parabel und Schauplatz einer Prosa, in der sich Realität und Übersinnliches spiegeln. Sie erzählt vom Schicksal einer Welt, in der es das Schwierigste und Gefährlichste ist, ein Mensch  zu sein. Aber was ist "Armen" nun für ein Buch? - Versuch einer Annäherung.
Wenn es scheinbar die Lebensgeschichte des jungen Armen erzählt, dessen Elternhaus bei einem Erdbeben eingestürzt ist und der auf der Suche nach Arbeit ist, um es wieder aufbauen zu können, geht es nicht einfach um die lineare Geschichte eines Wanderarbeiters, dem allerhand Prüfungen auferlegt sind. Das Buch ist vielmehr eine surreale Endlosschleife vieler schicksalhafter Begegnungen in einem namenlosen Land. Die Erzählstränge beginnen, brechen ab, zerfransen in Träumen und seltsam realistischen Episoden voller Sehnsucht, Begehren, Ängsten, Schuldgefühlen und Abenteuern. Dörfer haben keine Namen, die Stadt Kitak immerhin hat einen Bahnhof, wo aber anscheinend nie ein Zug hält, einen Fluss, ein Krankenhaus, ein Gasthaus und eine Art Verwaltung mit dem Sitz eines Gouverneurs. Autos gibt es, aber wohl nicht viel Verkehr. 

Auf der Suche nach Arbeit und einem Platz zum Schlafen kommt Armen an einem Müllberg vorbei, wo Obdachlose, Kranke, Arbeitslose, Trinker, Drogensüchtige und Behinderte nach Verwertbarem suchen. Abends landet er müde, hungrig und durstig in dem Gasthaus. Kurz bevor es schließt, kann er die Bedienung um ein Glas Wasser bitten. Für eine Mahlzeit reicht das bisschen Geld nicht, das er unterwegs für die Reinigung eines Dorfbrunnens bekommen hat. Die Kellnerin, die er zuerst als "Mütterchen!" anpricht, entpuppt sich als geheimnisvolle Schöne, die ihn mit nach Hause nimmt und in eine ebenso wilde wie sinnlose Affäre stürzt. Schon der Titel des Romans und der Name der Hauptfigur ist ein Symbol, dessen Bedeutung der Leser sich selbst erschließen muss. "Du bist wohl Armenier...", sagte die Frau lächelnd. "Und suchst Arbeit..." Armen trank und nickte dabei. "Und du heißt wohl ...Armen... Na, alle Armenier heißen Armen..." lachte sie. Armen lächelte und gab ihr das Glas zurück. "Und kein Platz zum Schlafen..."

Natürlich nimmt sie ihn mit nach Hause, und er trägt ihre Einkäufe. Die Sprache der Begierde, mal plakativ und mal subtil (als ihr Hauskleid in scheinbar absichtsloser Natürlichkeit verrutscht, erhascht er einen Blick auf Schenkel, die zu den "verbotenen Teilen ihres Körpers" gehören). Diese Sprache lässt psychologisch vermuten, dass Armen in einer traditionellen Welt mit orientalischen Rollenbildern von Mann und Frau lebt, die zwar reflektiert, aber nicht wirklich überwunden werden. "Armen spürte, dass in seinem Innern die Begierde aufkam, ein unerwartetes Verlangen ihn packte, und er bekam plötzlich Angst. Wie ein Lasttier beladen folgte er dieser unbekannten Frau, als sei er ihr Sklave. Es gab der ganzen Sache etwas Demütigendes, einen schlichten Betrug. Sie beide wussten wohin und warum sie gingen und es war eine offensichtliche Unverschämtheit, zu schweigen." Die Schöne heißt Sarah, und Armen ist ihr sofort verfallen. Sie erzählt viel, aber alles könnte gelogen sein: Der Mann, der ihr Vater sein könnte, ein Unhold ist und im Gefängnis sitzt. Das künstlerisch begabte Kind, das im Krankenhaus liegt und nicht mehr spricht, seit der Vater im Gefängnis sitzt. Die Episode endet abrupt und gewaltsam, als der Mann plötzlich in der Tür steht und Sarah ihn wüst beschimpft und verprügelt, um ihn anschließend demütig um Verzeihung zu bitten. Nichts ist hier, was es zu sein scheint.

Viele Klischees des Gruselromans werden erst bedient, um alsbald widerlegt zu werden. Die Flussufer sind sumpfig, der Wald undurchsichtig finster, das Mondlicht matt und die Schatten körperlos. Die wenigen Menschen, die ihm begegnen, reden kaum oder wie die Bürokraten in Kafkas "Schloss". Das Gesetz tritt auf in Gestalt zweier mehr als merkwürdiger Polizisten, die ihn unsanft aus dem Schlaf reißen und zum Verhör schleppen. "Es machte ihm Angst, dass die Macht kein Gesicht hatte, sondern unendlich viele Masken, die atmende Menschen waren, wie er selbst, doch über die Schicksale ihresgleichen entscheiden durften. Die Macht konnte seine Extstenz gestatten oder eben auch nicht."

Der Leser fühlt sich wie gefangen in einer Kette unzusammenhängender Alpträume. Schon bald begegnen ihm unheimliche Dinge: Drei Männer versuchen, Armen zu erschlagen, weil er ein Fremder ist und ein Fremder irgendwo in der Gegend den Sohn eines Ortsvorstehers getötet haben soll. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, glaubt aber den Vorwürfen am Ende selbst. Mal ist er himmelhoch jauchzend optimistisch und strotzt vor Kraft, im nächsten Augenblick nagen Zweifel an allem und jedem und selbstzerstörerische Minderwertigkeitsgefühle an diesem seltsamen Antihelden. Armen findet mehrmals Arbeit, wird aber nie bezahlt, sondern jedes Mal um seinen Lohn betrogen. Er begegnet einem Geschichtslehrer, einem Schriftsteller offensichtlicher Nonsens-Bücher, einer Müll-Händlerin und einem Philosophen, der das neue Gesetz, das alle studieren, als "ein Meisterwerk menschlicher Dummheit" bezeichnet, ohne etwas davon zu erklären. Armen begegnet dem Gouverneur einem veilchenblauen Mädchen (was auch immer das ist), einem alten Heiler, einem Lastenträger und einem Waldgeist. Er findet eine Quelle, an der sich alle Bedürftigen, Kranken und Elenden versammeln, ohne Heilung oder Trost zu finden. Wie Armen irren die Menschen zwischen der Sehnsucht nach Liebe und der Bedrohung durch den Tod ziellos durch sinnlose Leiden wie durch ein Fegefeuer, dem niemand ausweichen kann. Er findet sogar die Liebe, muss sie aus unerfindlichen Gründen aber wieder aufgeben. Es gibt wohl Rechtfertigung, jedoch keine Erlösung. Einen heiligen Gral wie Parzival findet Armen nirgends. 


Montag, 2. Januar 2023

Kein schwereloses Silvesterkonzert in der Stuttgarter Liederhalle

 

Solist Sebastian Manz und Dirigent Andrew Manze

Am 31. 12. 2022, Silvesterkonzert meines geliebten SWR Symphonieorchesters in der Stuttgarter Liederhalle: Zum ersten Mal war das Programm eine sauber gespielte Enttäuschung - mit Ausnahme des Solisten Sebastian Manz, der die "Movements for a Clarinet Concerto" von Benjamin Britten in einer Bearbeitung von Colin Matthews ganz großartig spielte. Das Foto zeigt ihn beim Schlussapplaus zusammen mit dem britischen Dirigenten (und Geiger) Andrew Manze. Der Spezialist für historische Aufführungspraxis blieb dann aber leider in seinem Programm zu historisch und vor allem zu britisch. 

Als Einleitung ok: Chacony g-moll, Z 730 von Henry Purcell (1659 - 1695) in einer Bearbeitung für Streicher von Benjamin Britten. Weiter: Serenade to music (Orchesterfassung) von Ralph Vaughan Williams (1872 - 1958). Dann der Höhenflug des Klarinettisten Sebastin Manz spursicher und engagiert durchs irre Tempo des Finales. Nach der Pause noch einmal Henry Purcell, zum Runterkommen sozusagen nach dem Pausen-Sekt: in nomine a 7, Z 747, bearbeitet für Streicher von Andrew Manze. Und dann Variations on an Original Thema for Orchestra op. 36 von Edward Elgar (1857 - 1934). Thema und dann 14 Variationen. Sie klangen aber leider alle fast gleich: Getragen. Und dann irgendwas zwischen "Duck, Pump and Circumstances". Very british, indeed. Nur wusste ich nach spätetens 5 Variationen nicht mehr, welche gerade dran war. Wo "britische Klangvielfalt" angekündigt war, kam teutonische Tuttiwucht. Offenbar wollte der Dirigent das unbedingt so. Nein, die Queen hatte nicht Geburtstag, sie ist gerade erst gestorben und hat sich vermutlich im Grab umgedreht. "Land of Hope and Glory" ohne Gesang wie bei den BBC Proms, wie furchtbar! Wie konnte so etwas in ein Stuttgarter Silvesterkonzert kommen, wo England bei der Fußball-WM in Katar noch nicht mal gegen Deutschland gewonnen hatte? No Glory, No Hope, No Duck.

Um Missverständnissen vozubeugen: An der Qualität der Musik habe ich nichts auszusetzen, aber am Zeitpunkt und an der Zusammenstellung. Die gewohnte "Leichtigkeit" früherer Silvesterkonzerte, ihr spritziger Sex-Appeal fehlte völlig. Kein Walzer oder andere Tänze, kein Musical, keine Operettenstücke. Was es hier zu hören gab, hätte man auch nach einer Beerdigung spielen können. Für das Land von Monty Python war das entschieden zu viel Ernst.