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Montag, 22. Juni 2020

Frauen-Lyrik aus Georgien: Vielfalt und Niveau

Band 24 der Kaukasischen Bibliothek beim Traian Pop Verlag in Ludwigsburg präsentiert weibliche Lyrik aus einem kleinen Land (3,7 Millionen Einwohner) mit großer literarischer Tradition: 104 Seiten, 16,50 € (D). Herausgeberinnen sind Professorin Manana Tandaschwili aus Frankfurt / Main und Irma Shiolashvili, die auch die Übersetzung aus dem Georgischen besorgt hat. Nachgedichtet und mit einem Nachwort versehen hat sie Sabine Schiffer aus Bremen.

Der schmale Band enthält einen Querschnitt der zeitgenössischen Dichtung von Frauen - jeweils 2-3 Gedichte mit kurzen biographischen Porträts der Autorinnen.
Der Titel "Ich bin viele" greift einen Text von Rusudan Kaischauri auf, der sich in poetischer Brechung mit dem Multitasking-Alltag einer berufstätigen (allein erziehenden?) fünffachen Mutter auseinandersetzt. Die Autorin (auf der Umschlag-Collage die erste links in der zweiten Reihe von oben) spielt selbstironisch in der dritten Person ein Mini-Rollenspiel mit Varianten ihres Vornamens Rusudan. Die erste muss sich selbst finden, die zweite schreibt mit Herzblut Gedichte, die dritte muss Geld verdienen, die vierte Märchen erzählen, die fünfte managt ein Mutter-Kind-Unternehmen, die sechste terrorisiert als Pädagogin und Hirtin die Familie, die siebte (Rusoia) ist in ihrer Heimat ein sagenhaftes Mannweib mit frommen Anwandlungen und koketten Marotten, die achte schließlich eine schlechte Hausfrau:

Beim Waschen ist sie klein geworden
und eingegangen.
Man fragt mich immer Werbistdu?
und ich antworte mit elender Stimme:
Ich bin fünffache Mutter.

Erst am Schluss gibt die Autorin die Distanz der dritten Person auf. Nach diesem eher depressiven Auftakt folgt das Gedicht "An das Schwänzen in der Poesie". Wieder versteckt sich das lyrische Ich in der Distanz der dritten Person. Wieder wird diese dritte Person vom Leben und von der Liebe enttäuscht. Doch dann heißt es:

...dem Leben selbst warf sie
einen Kranz aus Lorbeerblättern über,
um ihm dessen Geschmack zu verleihen.
In der Poesie liebte man sie wirklich,
weil sie oft das Leben schwänzte.

Das dritte Gedicht (Ich und der Engel) gibt dann die dritte Person auf, nicht aber die Selbstironie. Das lyrische Ich darf albern sein, sogar der Engel spielt nach seinen Regeln: "Ich hatte sehr viel Glück." 
Rusudan Kaischauri (geboren 1957) ist wohl die Seniorin des Sammelbandes. Die meisten Autorinnen sind deutlich jünger. Die Stimmen sind vielfältig, die Eindrücke bei 2-3 Texten zwangsläufig oberflächlich. Doch es ist eine sympathische, professionell wirkende Vielfalt, die durchaus neugierig macht. Irma Schiolaschwili (1969 in Ostgeorgien geboren) hat eine ungewöhnliche Laufbahn eingeschlagen. Nach dem Journalismus-Studium in Tiflis und der Arbeit beim staatlichen Rundfunk ging sie 1998 nach Bonn und promovierte 2005 über deutsche und georgische Nachkriegslyrik. Sie lebt in Deutschland. Ihre Übersetzungen und die in Deutschland  publizierten Lyrikbände "Eine Brücke aus bunten Blättern" (2012) und "Kopfüber" (2018)  verschmelzen die Welt ihrer Herkunft sprachlich mit ihrer heutigen Lebenswelt.
Fast alle der vorgestellten Autorinnen haben in Tbilissi (Tiflis) studiert und gehen einem Brotberuf nach. Auch wenn Georgien ein Leseland mit vielen Poesiefans ist, kann doch keiner so viele Bücher kaufen, dass alle davon leben könnten. Umso erstaunlicher, dass all diese Dichterinnen bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurden und an Lyrik-Festivals im In- und Ausland teilgenommen haben. Danach würde sich mancher deutsche Lyriker alle Finger lecken.
Tea Topuria (1976 geboren in Suchumi, Abchasien) schließlich möchte ich hervorheben wegen der engen Verknüpfung ihres Schreibens mit der aktuellen Geschichte Georgiens. Da wird aus Liebeslyrik eine Trauerklage um den kurz vor den Flitterwochen gefallenen Mann. "Wir hätten im Sommer nach Suchumi fahren sollen", heißt es in dem langen Gedicht "Es hätte alles ganz anders sein sollen...". Das Gedicht erzählt von Schulfreundinnen, die nach dem Abchasienkrieg, bei dem die georgische Mittelmeer-Provinz 1994 an Russland verloren ging, "Witwen für unbekannte Soldaten" waren, "die loszogen, bevor wir sie kennenlernten, / die loszogen nach Suchumi."
Ein schmaler Band, wie gesagt, aber prall gefüllt mit poetischer Frauenpower. Er schlägt bereits viele Brücken zwischen den Kulturen Deutschlands und Georgiens. Er bringt uns das Fremde, bisher so Ferne, deutlich näher.

Mittwoch, 10. Juni 2020

Abenteuerreise mit Chor


Jerusalems Heiliger Bezirk: Tempelberg mit Grabeskirche, Klagemauer, Felsendom und Al-Aksa-Moschee


Bericht einer seltsamen und abenteuerliche Reise ins Heilige Land

Tag 1: Anreise

In Corona-Zeiten ist vieles anders als zuvor, auch für Blogger. Manche Dinge dauern einfach länger, wie mein Bericht über eine Reise, von der ich bis heute noch nicht weiß, ob sie mehr Konzert- und Kulturreise war oder mehr eine Pilgerreise. Mein Abenteuer mit der Degerlocher Kantorei zu Konzerten, Kultur und Begegnungen in Israel begann am 22. Februar, einem Samstag. Der Linienflug von Stuttgart über Wien nach Tel Aviv verlief ruhig. Wir hatten zwar einer Virus-Epidemie im fernen China gehört, dachten aber nicht, dass wir "das gefährlichste Hobby der Welt" hätten.

Plastikwasser
Die erste Überraschung gab es beim Mittagessen: Wasser in Plastikbechern zu je 100 Gramm. So viel Abfall für so wenig Getränk muss man erst mal hinkriegen. Austrian Airlines schafft das, und ich bin gespannt, wie lange dort diese völlig unsinnige und überflüssige Produktion von Plastikmüll noch weitergeht. Na ja, ich werde sicher nicht mehr oder nicht mehr oft fliegen. Dazu trägt auch die Mischung aus Massenbetrieb, Sicherheits-Paranoia und Kontrollwahn an den Flughäfen bei, die seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York entstanden ist. Schon für sich genommen sind diese Bestimmungen eine Zumutung für erwachsene Menschen ohne terroristische Absichten. Das Ergebnis ist ein Hürdenlauf, der eher einem Viehtrieb ählich sieht, bei dem gefühlt alle 30 Meter jemand meinen Pass sehen will. Doch besonders entwürdigend wird dieses Prozedere, wenn man in einer Gruppe von 50 Menschen reist. Man muss sich auf seltsame Fragen einstellen, wie einst bei der Einreise in die DDR: Was man am Zielort will, wen man besuchen oder treffen möchte, was man zu tun gedenkt und wo man wann Übernachtungen gebucht hat.

Grüße aus China am Flughafen Ben Gurion
Auf Anraten der Reiseleitung sprachen wir uns ab wie Verbrecher vor dem Verhör: Wir sind also Pilger. Am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv erwartete uns eine Einreisekontrolle, die das ganze Theater noch einmal verschärfte. Wir konnten nicht zusammenbleiben und mussten uns auf viele Schalter verteilen, ohne zu wissen, ob die Passkontrolleure hinter Panzerglas englisch oder chinesisch oder vielleicht nur Hebräisch verstanden. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, den damals noch niemand von uns verstand, war das riesige Plakat, das für CHINA IN HARMONY warb. Einer der Bässe von den Hymnus-Chorknaben, die zur Verstärkung mitreisten, war Sinan Altinisik (hätte der junge Mann mit dunklen Haaren und Bart Araber sein können?), und wurde prompt aus der Gruppe herausgepickt. Er sollte einem Uniformierten zu einer "Befragung" folgen und erzählte 20 Minuten später, dass er eine Viertelstunde gewartet hatte und dann doch ohne Fragen durchgewinkt wurde, als sich anhand der Teilnehmerliste herausstellte, dass er zum Chor gehörte. Nach militärischer Logik wurden weder die Reiseleiterin Ruth Eisenstein (die vor dem Ausgang auf uns warten musste) noch die Chorleiterin Barbara Straub informiert. Das ist hier eben so.

Appartementhotel in Neve Shalom / Wahat al-Salam
Dann ging alles schnell. Zügig waren die Koffer in einem schönen Reisebus verstaut und nach 20 Minuten Fahrt erreichten wir unsere Unterkunft, ein Appartementhotel im Friedensdorf Neve Shalom. Da war es schon dunkel, wie auch bei. Treffen am Stuttgarter Flughafen um 8.00 Uhr in der Früh. Der Flug von Wien hatte von 13 Uhr bis 17.30 Uhr gedauert, dreieinhalb Flugstunden plus eine Stunde obendrauf - Zeitverschiebung. Wir konnten uns kurz frisch machen, bei den Lieben daheim eine sichere Ankunft vermelden und ein gutes Abendessen zu uns nehmen. Wie Ruth uns versichert hatte, war das Büffett nicht nur optisch sehr reizvoll, weil der freundliche Koch auch selber gerne gut isst.

Büffett in Neve Shalom
Es ist niemals von Nachteil, wenn man sieht, dass es dem Koch selbst schmeckt. Wir staunten, auch wegen der Vielfalt an Salaten und Gemüse. Eine Beobachtung, die wir in jeder Unterkunft machen konnten war: Die Küche ist koscher und halal, doch wegen der großen Auswahl fehlt nie etwas für europäische Gaumen, es gab Fisch, Fleisch und vegetarisches Essen, Reis und Kartoffeln in jeder denkbaren Zubereitung und gefühlte 1001 Soßen. Anschließend folgte ein kleiner Orientierungsmarsch im Dunkeln zur "Town-Hall", eine Kreuzung aus Zirkuszelt und Mehrzweckhalle, gottlob durch ein lautes Gebläse gut geheizt. Der Hausmeister machte zwei Überstunden, damit wir den Ort unseres ersten Konzerts in Augenschein nehmen und eine kurze Probe abhalten konnten. Bestuhlung rustikal, Stimmung gut.

Ortstermin Town Hall Neve Shalom
Immerhin gab es ein ausreichend großes Podium mit Stufen. Bei abgeschaltetem Heizgebläse, klang die Akustik nicht übel. Mit der guten Nachricht, dass am nächsten Tag nicht nur das ganze Dorf zum Konzert eingeladen sei, sondern auch noch ein anderer Chor käme, gingen wir müde und guter Dinge zur Nachtuhe. Ich will keine Leser mit detaillierten Stundenplänen und Tagesabläufen langweilen, deshalb nur die eine Bemerkung, die für alles gilt: Die Planung war ambitioniert. 8 Tage "auf den Spuren Jesu im Heiligen Land" bedeutete, viel zu sehen und zu erleben, bedeutete Leben aus dem Koffer, 5 Konzerte in 6 Tagen und ständiges Unterwegssein: Im Reisebus für 50 Menschen, der kaum mehr Platz bot als das Flugzeug, zu Schiff (auf dem See Genezareth), aber auch im Schnitt 16.000 Schritte pro Tag zu Fuß. Es bedeutete wenig Zeit, um all die schönen, warmherzigen Begegnungen und die vielen, teils auch bizarren Eindrücke tatsächlich zu verarbeiten.

Tag 2: Altes und Neues, Liebe und Hass

Nicht zuletzt wegen der Dichte dieser Tage versuche ich, die Reise zu Hause noch einmal zu machen, meine Eindrücke durch das Formulieren und die Fotos besser zu "begreifen" und in Ruhe zu ordnen. Wir hatten ein gut einstündiges Programm jüdischer und christlicher Sakralmusik aus vier Jahrhunderten einstudiert und waren neugierig auf Reaktionen der Zuhörer darauf und auf Land und Leute. Wir sind aber vor allem auch Christen und wurden damit auf dieser Reise automatisch zu Pilgern.

Rita erklärt uns Neve Shalom
Rita (links), Barbara Straub (in Orange)
Einfach war weder das eine noch das andere. Gleich am Sonntag nach dem Frühstück erwartete uns Rita vom Gemeinderat in Neve Shalom. Sie hielt einen Vortrag über die Idee und das Leben in einer Kooperative, in der seit 1972 rund 70 jüdische und palästinensische Familien (teils muslimische, teils christlich Araber) friedlich zusammenleben. Erst beim Hinausgehen bemerkte ich, dass wir im Luftschutzraum des Dorfes getagt hatten. Rita führte uns auch in ihrem Friedensdorf herum und beantwortete eine Menge Fragen. Neve Shalom (arabisch Wahad al-Salam) ist weit mehr als ein ethnologisches Experiment, sondern ein echt multikulturelles und interreligiöses Dorf, das es so nur einmal gibt. Das Musterdorf soll zeigen, dass ein friedliches Zusammenleben von Arabern und Juden möglich ist. In der Tat beweist schon der Bunker, dass die Umgebung von Krieg, Hass, Gewalt, Terrorismus und Misstrauen geprägt ist.
Erschüttert hat mich Ritas persönliche Lebensgeschichte. Als Christin und arabische Palästinenserin hat sie von Geburt an nur Diskriminierung erlebt. Araber dürfen nicht die gleiche Kita, Schule oder Universität besuchen, sie haben keinen Zugang zum jüdischen Gesundheits- und Sozialsystem, brauchen eine zusätzliche Erlaubnis für alles und jedes: Studium, Reisen, Berufsausbildung, Führerschein, Berufswahl und politische Ämter. Sie dürfen wählen und Steueren zahlen, werden nicht zum Militär eingezogen, haben aber als Freiwillige dort kaum Karrierechancen. Auch christliche Palästinenser dürfen in Israel weder Land kaufen noch ein Haus bauen. Immobilien besitzen dürfen nur Juden und christliche Klöster, die schon vor ihnen da waren. Selbst am Flughafen gibt es separate Ein- und Ausgänge für Palästinenser. Rita aber hat niemals resigniert und glaubt weiter an die Zukunft der Gemeinschaft - sogar als Modell für ganz Israel. Darum hält sie auch nichts von der Zweistaatenlösung: "Wie soll das gehen, wo hier alles so kleinteilig und eng ineinander verschachtelt ist? Wenn die in Jerusalem nicht lernen, so wie wir zu leben, werden das Töten, der Hass und die Diskriminierung niemals aufhören."

Blick von Neve Shalom zum Kloster Latrun
Das Land, auf dem das Dorf mit Grundschule und anderen Gemeinschaftseinrichtungen nebst Häusern für derzeit rund 500 Menschen entstand, ist eine Dauerleihgabe des Klosters Latrun an die Kooperative. Es liegt auf einem Hügel gegenüber in ca 5 km Luftlinie Entfernung. Rita: "Als wir hier anfingen, gab es nur ein Camp im Busch ohne Wasser und Strom. Jede Familie hat ihr Haus (mit Solaranlage und Zisterne auf dem Dach) mit eigenen Händen gebaut und alles Material dafür über Wege hier hochgeschafft, die wir erst anlegen mussten".

Typisches Häuschen in Neve Shalom
In fast 50 Jahren ist daraus ein schmuckes Dorf geworden. Wichtige Entscheidungen fallen bis heute mit Zweidrittelmehrheit im Dorfrat, wo jede Familie vertreten ist. Bis zu einem Jahr kann das in schwierigen Fällen dauern, z.B. als eine Familie ein kleines Denkmal für ihren ältesten Sohn wollte, der zum Schrecken der anderen zur Armee gegangen und dann auch noch bei einem Hubschrauberabsturz gestorben war. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Es gibt keine Synagoge, keine Kirche und keine Moschee, sondern einen "Raum der Stille", den alle nutzen können, z.B. Freitags Muslime, Samtags Juden und Sonntags Christen. Die Bibliothek soll ein Kulturzentrum werden, aber Bücher und Innenausbau fehlen noch.

Deutsche Invasion vor dem Uri-Geller-Museum
Dann ging es mit dem Bus nach Jaffa, dem biblischen Joppe. Dort zog unsere Karawane auf dem Weg durch die malerische Altstadt mit vielen Ateliers und Kunstgalerien zum St. Peterskloster und zum alten Hafen. Die Überraschung des Tages war das Uri-Geller-Museum, vor dem ein überdimensionaler Löffel an die TV-Shows des "Löffelbiegers" erinnert. Schon jetzt bekam ich Respekt vor unserer Fremdenführerin Ruth, die uns kundig über Funk die Sehenswürdigkeiten erklärte, an denen wir meist nur vorbei laufen konnten:  kleine Frau mit großer Kondition.

St. Peter in Jaffa
Panorama von Tel Aviv
Der Turm der Klosterkirche von St. Peter war weithin zu sehen. Das Kloster erinnert daran, dass Petrus von hier aus per Schiff aufbrach, um die bekannte Welt zu missionieren. Wir erreichten das Gotteshaus auf der Suche nach einer eher leiblichen Bedürfnisanstalt über eine Holzbrücke, in deren Geländer Sternzeichen aus Messing montiert sind. Es heißt, so Ruth, wer sein Sternzeichen anfasst und sich einen Wunsch denkt, dem geht er in Erfüllung. Wie nah auch gerade hier Glaube und Mythos beieinander zu finden sind! Wir kamen von einem Park mit Panoramablick über die nahe Millionenstadt Tel Aviv, der auf einem Hügel aus den 8000 Jahre alten Ruinen der biblischen Stadt Jericho steht.

Jericho-Denkmal
Ein modernes Denkmal erzählt in Bildern die Geschichte der Posaunen, die Jerichos Mauern zum Einsturz brachten. Wer hier Ausgrabungen machen wollte, erzählte Ruth, müsste zuvor wohl erst einmal die Hälfte des bewohnten Staates Israel dem Erdboden gleichmachen. So lässt man es eben in vielen Fällen lieber bleiben.

Jaffa: Moschee am Hafen
In Jaffa fiel mir bereits auf, dass Kirchen und Moscheen auffällige Türme haben, von denen Glocken bzw. Muezzine weithin zu hören sind. Doch die Synagogen-Architektur des in Israel doch dominanten Judentums hat keine Entsprechung dieses Rufzeichens für Auge und Ohr. Es muss sie überall geben, aber ich habe in Israel kaum Synagogen gesehen.


Jaffa: Uhrenturm
Die Busfahrt nach Tel Aviv begann am Uhrenturm von Jaffa, nachdem wir in der Nähe an einem Straßenstand leckeres arabisches Gebäck für unterwegs gekauft hatten, denn für eine richtige Mahlzeit reichte die Zeit nicht aus.

An touristischen Hotspots wie Neuschwanstein, Salzburg, Venedig oder Heidelberg habe ich früher immer immer Trupps von Japanern oder Amerikanern belächelt, die stets eilig einem Guide hinterherlaufen und alles fotografieren. Aber im Glashaus soll man beknntlich nicht mit Steinen werfen. Jetzt waren wir halt die Japaner oder Amerikaner. Jeder ist ja fast überall auf der Welt ein Ausländer. Aber hier erfüllten wir schon aus Zeitmangel auch noch alle Merkmale und Klischees des Massentourismus, wie es ihn nach der Corona-Pandemie vielleicht nie wieder geben wird. Und irgendwie ist ja auch etwas dran an dem Witz, dass man erst merkt, wo man gewesen ist, wenn man sich hinterher die Fotos von der Reise anschaut.







Unterwegs sah ich an diesem Tag zum ersten Mal ein Stück der Mauer, die Israel von der palästinensischen Westbank trennt. Ebenfalls nur aus dem Busfenster bekamen wir einen Eindruck davon, was für ein gewaltiger Verkehrsknotenpunkt Tel Aviv ist.

Das Kernland Israels ist in dieser Gegend nur ca. 20 Kilometer breit. So weit können die
Raketen der HAMAS fliegen.



 

In Tel Aviv ausgesetzt, bummelten wir durch die "weiße Stadt", wo ab 1930 die meisten Gebäude im Bauhausstil errichtet wurden. Seit 2003 ist er Weltkulturerbe der UNESCO. Vor allem im Banken- und Geschäftsviertel am Boulevard Rothschild prallen Verwüstung und Denkmalschutz, Bauboom und Sanierungsfall, Alt und Neu ungebremst aufeinander. Hier könnte man tage-, vielleicht wochenlang Fotomotive finden. An vielen Stellen wird gebaut, und man darf annehmen, dass auch die Verdrängung alteingesessener Menschen zugunsten von Luxuswohnungen, Büros, Edelboutiquen, Geschäftsshäusern und Vergnügungspalästen in vollem Gange ist, der in der genzen Welt so viele Probleme schafft. "Gentrifizierung" mit sprunghaft steigenden Mieten und Immobilienspekulation machen die einen reich und die anderen heimatlos. Dieses Phänomen habe ich schon in vielen Ländern gesehen, sogar in der Volksrepublik China.

Schutzraum-Hinweis
Auch in der "Weißen Stadt" und ihren noblen Vierteln  lassen sich immer wieder Zeugnisse der allgegenwärtigen Bedrohung durch Hamas-Raketen finden. Hier war ich weniger mutig als andere und habe mich nicht getraut, durchaus fesche Soldatinnen in vollem Waffenschmuck zu fotografieren. Ich hatte Angst, die Bilder würden gelöscht und wir könnten Ärger bekommen. Überall patrouillierte Militär. Es hatte eine Terror-Warnung gegeben, und die Sturmgewehre waren mit scharfer Munition geladen. Dafür fand ich die jungen Damen erstaunlich cool und locker.

Der Karmel-Markt
Was zuletzt laut Reiseplan ein "Bummel über den beliebten Karmelmarkt mit einer bunten Fülle von Obst und Gemüse" sein sollte, wurde ein recht gehetzter Marsch durch eine schöne orientalische (sprich "altmodische") Marktlandschaft mit einem total modernen Hintergrund. Doch wir mussten vor dem Berufsverkehr zurück nach Neve Shalom. Mit Hinweis auf den Shabbat erklärte Ruth, dass in Israel am Freitag und Samstag nicht gearbeitet wird, und die Rückfahrt daher ungefähr eine Stunde dauern würde. Diese Zeit konnten wir gut brauchen. Vor dem Konzert gab es noch eine kurze Stellprobe, um 18 Uhr Abendessen und um 20 Uhr Singen in Konzertkleidung.

Die Degerlocher Kantorei in Neve Shalom
Halleluja zum Ersten!
Danach waren alle durstig, und wir trafen uns noch zu einem Schluck Wein oder Bier an der Rezeption des Gästehauses, denn die Kantine hatte längst geschlossen. Die Town Hall war nicht voll gewesen, aber ein paar Leute mehr als die nicht singenden "Spielerfrauen" (wie sich die begleitenden Partner in schöner Selbstironie nannten) waren schon gekommen. Und die hatten brav applaudiert. Gesellschaftliches Leben muss man sich in diesem hart arbeitenden Musterdorf vermutlich selbst herstellen. Rita war natürlich da, unsere Reiseleiterin Ruth, ein paar Familien mit Kindern, und am Ende sogar der angekündigte andere Chor (ich habe aber vergessen, welcher). Ich war nur noch müde.

Tag 3: Kontrastprogramm: Haifa, Kreuzfahrerstadt Akko und ein Mädchenchor

Am dritten Reisetag (gefühlt der zweite Tag in Israel) weckte uns lebhaftes Vogelgezwitscher in den Büschen und Hecken vor den kleinen Bungalows. Zum Frühstück erschienen wir mit schon gepackten Rollkoffern, denn es stand eine längere Busfahrt an.

Seeluft schnuppern in Caesarea
Parallel zum Mittelmehr ging es über die alte Römerstadt Caesarea mit einem alten Aquädukt direkt am Meer. Einige ließen es sich nicht nehmen, die Hosen hochzukrempeln und ein wenig durch Salzwasser zu waten oder ein kurzes Sonnenbad zu nehmen. Für mehr reichten weder Zeit noch Temperatur. Bald ging es weiter nach Haifa. Die quirlige Hafenstadt kann man am besten vom Berg Karmel aus überblicken, auf dem auch inmitten prächtiger Parkanlagen das Welt-Bahai-Zentrum liegt. In Israel ist jetzt diese ungewöhnliche, friedfertige Glaubensgemeinschaft zu Hause, die vor allem Toleranz predigt.

Ganz unten fast in Bildmitte: die goldene Kuppel des Bahai-Tempels
Bahai sind Menschen ganz unterschiedlicher Religionen, weil sie Bahai werden können, ohne ihr ursprüngliches Bekenntnis aufzugeben. Die Bahai-Religion stammt aus Persien/Iran und wurde dort  vom Regime der Mullahs unter Ayatollah Khomeini blutig verfolgt (wie heute noch von der KP in China).

Nach einem kurzen Stopp ging es noch weiter nach Norden in die alte Kreuzfahrerstadt Akko. Vom historischen Hafen am Haifa gegenüberliegenden Ende der gleichen Bucht kann man die Tanker sehen, die vor Haifa darauf warten, gelöscht zu werden.

Die Bucht von Haifa von Akko aus gesehen
Hier begann ein interessanter Bummel durch eine byzantinisch-arabische Altstadt. Ein Highlight war sicher die unterirdische Kreuzfahrerstadt mit Johanniter-Hospital,  Gefängnis und Vorratskammern. Aus diesen dunklen, zum Teil erst in jüngster Zeit freigelegten Gewölben, ging es durch einen Fluchttunnel in ein enges Gewirr malerischer Gassen zur historischen Säulenkarawanserei am alten Hafen.
Akko: Fischgeschäft am Hafen

Im Basar von Akko

Hier möchte ich keinen Fisch kaufen, wenn im Sommer einmal bei 50 Grad im Schatten der Strom ausfällt. Malerisch ist ja das eine, gesund möglicherweise etwas ganz anderes. Das Leitungsgewirr weckt jedenfalls nicht mein Vertrauen. Ebenso wenig der unübersehbare Verfall in den Arkaden der alten Stadt- und Hafenmauer.
Akko: "Marine Office" im alten Hafen
Dort quetschen sich kleine Läden, Werkstätten und Garagen auf engstem Raum in engen steinernen Höhlen zusammen. An der Tür zu einem völlig heruntergekommen Kabuff zeigt das Schild "Marine Office" an, dass die Hafenverwaltung schon einmal bessere Tage gesehen hat.

Der Hafen selbst sieht aus, wie sich Romantiker das Mittelmeer vorstellen: hübsch bunt und vermutlich ineffezient. Vielleicht liegen die letzten malerischen Fischerboote nur noch für die Touristen dort.



Mein Herz ging schon auf, als wir Rast zum Mittagessen machten. Ruth hatte angekündigt, die arabischen Restaurants seien sensationell. Und so war es dann auch.

Es fällt genug vom Tisch
Nicht nur von Fleisch allein lebt die Katz
Wieselflinke arabische Kellner tischten Wein, Wasser, Brot, Salate und Fleisch auf. Dazu gab es wie stets in Israel leckere Dips aus Kichererbsenmus. Die Katzen unter den langen Tischen störten niemanden. Die Tiere werden hier gut behandelt und warten nicht umsonst, wenn sich hungrige Touristen und Einheimische an die Tische unter ein Sonnen- und Regendach setzen. Es gab nur
Plastikstühle? - Na und? Hauptsache, es schmeckt. Auch ein Dessert war möglich.

Dessert gefällig? - Türkischer Honig und mehr
Noch mehr aber ging mir das Herz auf beim Anblick des Süßwarenhändlers nebenan. Dessen Angebot überstieg selbst die Kapazitäten meines Magens als aktenkundiges, anerkanntes Süßmaul. Solche Sachen gibt es im Orient überall. Man sagt ja, Süßes ist Nervennahrung. Vielleicht ist in dieser Region niemals genug davon zu haben. Die Leute hier brauchen seit Jahrhunderten gute Neven. Gesättigt ging es leider schon wieder zum Bus. Ziel: ein Treffen mit dem multikulturellen "Shani Girls´Choir" im "Jezreel Valley Center for the Arts" des Kibbuz Mizra nicht weit vom See Genezareth.

Jüdische Siedlungen: immer oben
Vorbei an jüdischen Siedlungen in den Palästinensergebieten, die immer strategisch günstig auf den Hügeln liegen, kamen wir ins Gebiet der Mandelblüte im milden Klima um den See Genezareth. Die Plantage rechts unten gehört schon zum Kibbuz Misra.

Mandelblüte, Kibbuz Mizra

Wir kamen erst bei Dunklheeit im Kibbuz selbst an und wurden gleich in den Musiksaal des Kulturinternats geleitet, denn wir waren spät dran. Schade, denn so konnte man nicht viel sehen. Und auch die Begegnung mit den hochbegabten Schülerinnen und ihren Lehrerinnen litt unter Zeitmangel. Immerhin hatte die Chorleiterin sofort einen guten Draht zu Barbara Straub, und die beiden veranstalteten für uns ein gemeinsames Warm Up. Gottlob gibt es kein Foto von mir, denn ich habe dabei in drangvoller Enge nach dem langen Sitzen im Bus eine dumme Bewegung gemacht, was mir für die nächsten Tage einen steifen Hals bescherte.

Dann sangen wir ein wegen der späten Stunde gekürztes Programm, und die Mädchen zeigten schöne, gut ausgebildete Stimmen und große Vielseitigkeit: Ein israelisches Lied, ein amerikanischer Pop Song und Musical-Auszüge. Nach dem Motto "Nicht quatschen, Singen!", blieb das abschließende Frage- und Antwort-Spiel kurz. Denn die stolze Musiklehrerin wollte noch eine junge Solistin mit einem Kunstlied der deutschen Romantik präsentieren.


Ich habe zwar kein Wort verstanden (das wird den Gastgeberinnen kaum anderes ergangen sein), aber "schee war´s", wie man in Schwaben sagt.
Bis wir im Gästehauses Kare Deshe am See Genezareth ankamen, war es stockfinstere Nacht. Die Küche hatte noch extra ein Essen für uns warm gestellt, aber wir mussten uns beeilen und stellten die Koffer so lange im Foyer zusammen. Danach gab es noch eine knappe Stunde Probe und etwas zu trinken. Dann war ich platt wie ein Lesezeichen. Doch die Nacht wurde munter, denn 270 Schülerinnen und Schüler aus England und Spanien fielen ein und waren definitiv lauter als die Papageien vor meinem Fenster am nächsten Morgen. Von daheim erreichten uns die ersten Nachrichten über Corona-Fälle in Deutschland - und bald auch in Stuttgart. Unsere Devise: Kühlen Kopf behalten, denn ändern oder die Reise abbrechen konnten und wollten wir nicht.


Tag 4: Heilige Stätten rund um den See Genezareth

 

Morgenstimmung am See Genezareth
Noch vor dem Frühstück schwammen am vierten Reisetag einige Unerschrockene im See. Danach ging es mit dem Bus am Westufer zum Berg der Seligpreisungen. "Ein besinnlicher Tag" stand im Prospekt, und in der Tat begann hier der intensive, nachdenkliche Besuch der heiligen Stätten. Als die Sonne über dem See durch die Wolken brach, dachte ich: So muss es hier ausgesehen haben, als Jesus seine Bergpredigt hielt und damit die christliche Soziallehre erfand. Und da Jesus wie viele Rabbiner seiner Zeit auch im Freien predigte, kann man seine Worte über die Suche nach dem Glück hier gut nachvollziehen. Was mir bei der Arbeit von Ruth Eisenstein sehr gefallen hat: Sie kommentierte als Jüdin keine Episoden des Neuen Testaments, las aber an den passenden Stellen daraus vor oder ließ uns vorlesen.

Der See Genezareth vom Berg der Seligpreisungen gesehen
Über die geistige Armut, den Verzicht auf eine Bindung an materielle Güter als Offenheit für alle, was darüber hinaus geht; über das Leiden an menschlicher Schlechtigkeit, über Trost und Sanftmut, über den Hunger nach Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Nachsicht und Verzeihen, über reine Absichten, Friedfertigkeit, den Preis für Standhaftigkeit im Guten und den Lohn dafür im Jenseits. Was das für den einzelnen Menschen und die Gemeinschaft bedeutet, muss jeder für sich herausfinden. Doch hier waren Ort und Zeit ideal.

Klosterkirche der Seligpreisungen
Schrottplatz der Seligpreisungen










Wir fanden zum Vorlesen und Nachdenken einen ruhigen Pavillion im Garten des Franziskanerinnenklosters. Die Nonnen pflegen Kirche und Parkanlage liebevoll, aber auch durchaus geschäftstüchtig, zu erkennen am großen gebührenpflichtigen Busparkplatz und einem Gästehaus. Hier herrschte bereits ein Gedränge wie an allen Pilgerstätten.
Das blaue Plastik lugt überall aus dm Boden
Besinnlich und nachdenklich war noch der unbefestigte Fußweg zum Seeufer, der meinen Blick aber meist auf den Boden zwang, damit ich meine schwarzen Schuhe und Hosen halbwegs sauber halten konnte. Unmittelbar hinter der gepflegten Anlage ging es vorbei an einem Schrottplatz, der in einem krassen Gegensatz zu Park und Kirche stand. Der Weg ging vorbei an einer Bananenplantage, deren Stauden durch "Hosen" aus blauem Plasitik im Winter vor Kälte und im Sommer vor zu viel Sonne geschützt sind, bis hinunter zum See. Er mündet in der Nähe der Primatskapelle in die Uferstraße. Dort sollte uns der Bus nach dem Besuch auch wieder abholen.

Hut gegen die Sonne, Blick auf den Weg
Da offen war, ob wir uns vor dem Konzert am Spätnachmittag eine Gelegenheit haben würden, uns umzuziehen, hatte ich meine Konzertkleidung den ganzen Tag über an und hatte nur Medikamente, Trinkflasche, die leichte Windjacke und den Schal im Rucksack. Es wurde warm.

Vorbild der Dornenkrone?
Am Weg standen Disteln, die Albrecht Dürer als Vorbild für eine Zeichnung der Dornenkrone für den gemarterten Jesus gedient haben könnten. Hatten ihm Pilger so eine getrocknete Pflanze mitgebracht?


Direkt am See steht die  "Primatskapelle": An dieser Stelle soll Jesus zu Petrus gesagt haben: "Du bist Petrus (lateinisch der Fels), und auf diesen  Felsen will ich meine Kirche bauen." Woher das der Baumeister gewusst hat, ist unbekannt. Katholiken können hier einen Stammbaum der Päpste studieren. Der Andrang gilt wohl mehr dem Symbol als der historischen Gewissheit. Doch geographische Genauigkeit und Glauben sind zweierlei. Menschen haben aber gern etwas, woran sich die Augen halten können, wenn Glaubenssätze ins frei schwebend Haltlose geraten. Der Übergang vom Glauben zum Aberglauben bleibt fließend.

Dann brachte uns der Bus den See entlang nach Kapernaum, der Stadt Jesu mit interessanten Ausgrabungen. Zu sehen sind eine Stadtmauer, Öl- und Getreidemühlen, Brunnen und eine moderne Kirche auf den freigelegten Fundamenten des Hauses, in dem der Sage nach die Schwiegermutter von Petrus gelebt hat, die bei einem Besuch Jesu sterbenskrank war und von Jesus geheilt wurde. "Damit sie beim Abendessen bedienen konnte", meinte Ruth trocken.


Die Kirche hat einen Glasboden, durch den man auf das Fundament des Hauses, also sozusagen auf das Krankenbett der Schwiegermutter Petri schauen und beten kann. Man kann so etwas zwar befremdlich finden, aber es zeigt auch etwas von der Vielfalt der christlichen Glaubenswelt.

Kapernaum: Stadtmauer, Ölmühlen, Grundmauern

Neben den Grundmauern zahlreicher Häuser ist vor allem die Synagoge aus dem 4. Jahrhundert. interessant, weil sie griechische bzw. hellenistische Säulen und Kapitelle aufweist. Sie war sehr groß für die damalige Einwohnerzahl Kapernaums, die Fachleute nur auf wenige Hundert schätzen.


Auf den steinernen Stufen konnte man gut sitzen, und so hörten wir entspannt zu, wie Reiseleiterin Ruth mit Headset und Bibel zu großer Form auflief und nichts unerklärt ließ. In dieser Gegend muss es schon vor der Zeit Jesu viele Menschen gegeben haben, die gern Wanderprediger hörten.
Reiseleiterin Ruth Eisensten in Aktion
Zum Teil reiste man ihnen tagelang hinterher, und das blieb noch lange so. Der Grund dafür war eine sehr weltliche Auffassung der Juden vom "Reich Gottes", die noch heute gängig ist. Joel Berger, der früher Landesrabbiner in Württemberg war, erklärte mir zur Hoffnung auf den Messias Jesus: "Jesus hat das jüdische Volk nicht von den Römern befreit, also war er nicht der Messias." Ich denke, so  wörtlich genommen haben die Zuhörer auch, was Jesus ihnen predigte. Die "historische Interpretation" der Heiligen Schriften ist als Erbe der Aufklärung nicht nur dem orthodoxen Islam fremd, sondern auch dem Judentum.

Die Brotvermehrungskirche in Tabgha
Nicht weit von Kapernaum liegt Tabgha, wo die Brotvermehrungskirche an ein sehr materielles Wunder erinnert: Der Evangelist Johannes berichtet, dass 5000 Menschen aus den umliegenden Dörfern am See Jesus in diese einsame Gegend nachgezogen seien, um ihn weiter zu hören. Irgendwann hatten die Leute Hunger, und die Jünger wollten sie wegschicken, um Essen und Unterkunft zu suchen, aber Jesus sagte: "Gebt ihr ihnen zu essen". Sie waren ratlos und brachten einen Jungen zu ihm, der einen Korb mit fünf Broten und zwei Fischen hatte. Jesus segnete das Brot und die Fische, teilte beides aus, und alle wurden satt. Als die Menschen das sahen, sagten sie: "Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll" (Joh 6, 10-14). An der Zahl darf man aber gewiss nicht messen, was hier geschehen ist. Es war ein Zeichen, ein Symbol; etwas mit dem Essen muss die Leute mächtig beeindruckt haben. Aber es ist auch so, dass Jesus gern das Buch Mose zitierte mit dem Satz "Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt" (5.Mose 8,3). Nicht umsonst und zuletzt noch kurz vor seinem Tod betonte er, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei.
Dieses Ringen der Theologen um die Balance zwischen wörtlicher und metaphorischer Deutung der Gleichnisse und Symbole in der Bibel ist uralt. Sicher ist es Teil der besonderen Faszination, die nach wie vor von den überlieferten Worten Jesu ausgeht. Er warb wohl mit materiellen Wohltaten um Anerkennung und Aufmerksamkeit, doch der Kern seiner Botschaft geht über das Materielle weit hinaus.

In der der Brotvermehrungskirche
Zu den schönen byzantinischen Mosaiken (5. - 5. Jh) in der modernen katholischen Kirche gehört auch eines mit Brotkorb und Fischen, von dem die Lichtverhältnisse am Altar kein Foto zuließen. Zur Illustration hier ein anderes aus einem helleren Seitenschiff. Unsere Sopranistinnen stimmten spontan das Stück "Ubi caritas et amor, ubi Deus est" von Ola Gijeilo an. Nach und nach stimmte der ganze Chor vierstimmig ein und füllte das Gotteshaus und viele Herzen mit diesem Lied von der Liebe. Die sinnliche Verpackung des Christentums bleibt bis heute umstritten: Im Juni 2015 verübten fanatisierte Jugendliche aus einer jüdischen Siedlung im Westjordanland einen Brandanschlag auf die Kirche und sprühten an die Wand den Satz "Götzendiener müssen vernichtet werden!"

Ebenfalls sinnlich ist ein beliebtes Essen am See Genezareth, das uns (wie immer) ein exzellenter palästinensischer Koch in einer Gartenwirtschaft direkt am See servierte: Petrusfisch oder Petersfisch, auch "Heringskönig" genannt. Mysteriös ist hier nicht, dass der Sage nach natürlich dieser Fisch bei der Speisung der 5000 aufgetischt wurde, sondern dass er hier überhaupt in einem Binnengewässer lebt. Er ist nämlich ein Seefisch, und niemand weiß, wie er aus dem Atlantik hierher gekommen ist.

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Ich vermute wegen des urtümlichen Aussehens, dass dieser schmackhafte Speisefisch aus vorgeschichtlicher Zeit stammt und hier isoliert wurde. Auf jeden Fall ist er gebraten besonders lecker. Konzentration ist angesagt beim Essen und bei der  Entgrätung und Entfernung der stachligen Rückenflosse.

See Genezareth: Sturm kommt auf



Wahrscheinlich haben die Fischer am See Genezareth immer schon diese Fische gefangen. Doch kaum wir hatten wir uns hingesetzt, gab es noch eine weitere sinnliche Bibelstunde. Besser: eine halbe Stunde. Plötzlich konnte ich gut  verstehen, wie es sein konnte, dass erfahrene Fischer auf dem See von einem Sturm überrascht wurden und sich fürchteten. Mit einem Mal kam aus heiterem Himmel ein heftiger Wind auf und der See schlug Wellen. Die Plane eines Zeltdaches über dem offenen Restaurant schüttelte eine Badewanne voll Regenwasser ab, das sich in ihren Falten gesammelt hatte und nun mit großer Wucht neben uns auf den Boden klatschte. Stühle, die vor unserer Veranda standen, flogen fort und mussten von zwei Kellnern schnell eingesammelt werden. Und dann war auch schon wieder alles vorbei. Es spielte keine Rolle, dass zur Zeit Jesu auch Fischer und Seeleute meistens nicht schwimmen konnten; der See hatte eindrucksvoll gezeigt, was er mit seinem Mikroklima zuwege bringt.

Als wir mit dem Bus Kapernaum verließen, kamen wir an einem Umspannwerk vorbei, das mit Wachturm, Stacheldraht und Patrouillen-Straße gesichert war wie ein Hochsicherheitstrakt. Dann erreichten wir die ehemalige römische Garnison Tiberias, wo es nach einer kurzen Führung durch einen Kibbuz mit einem der ortsüblichen Passagierboote nach Ginosar weiterging. Die Schiffe sehen aus wie aus Holz, haben aber einen stählernen Rumpf und sind viel größen als Fischerboote. Es gab also nichts zu fürchten, und der Sturm hatte sich auch längst verzogen. In Ginosar nahm uns der Bus wieder auf und setzte uns am Spätnachittag an der Bootskapelle von Magdala ab. Aus diesem damals lebhaften Fischerdorf stammte Maria Magdalena. Sie war aus Not zur Prostituierten geworden und Jesus hatte sie nicht verurteilt wie die Pharisäer, als sie mit der Bitte um Vergebung vor ihm auf die Knie fiel, sondern einfach nur gesagt: "Steh auf und sündige nicht mehr". Daraufhin folgte sie ihm und fand als erste Zeugin das leere Grab, als sie nach der Sabbathruhe den Leichnam Jesu einbalsamieren wollte.

Ich verstehe nichts von Synagogen-Fundamenten
Die Kapelle mit angeschlosenem Bildungszentrum amerikanischer Mönche wurde kürzlich an einer Stelle gebaut, wo vor Kurzem angeblich die Grundmauern einer Synagoge aus dem 1. Jahrhundert nach Christi Geburt freigelegt wurden.

Probekonzert in Magdala
Das Konzert, das dann mangels Publikum zu einer  Probe in der herrlichen Akustik des Kuppelsaals wurde, findet man notfalls sogar mit verwackelten Videoschnipseln unter "Degerlocher Kantorei in Magdala" bei Facebook. Wir haben dann exklusiv für den Gastgeber Pater Eamon Kelly noch ein "Halleluja" von Louis Lewandowski in der eigentlichen Bootskapelle gesungen. Da war das Licht für ein Erinnerungsfoto besser. Dann zurück nach Kare Deshe. Wir kamen zu einem späten Abendessen um 21 Uhr.

Degerlocher Kantorei in  der Botskapelle von  Magdala: "Helleluja" zum Zweiten in Konzertkleidung und ohne Publikum



Tag 5: Durch die Wüste


Am Mittwoch hieß es in aller Frühe die Koffer in den Bus laden zur Fahrt durchs Jordantal, durch die Wüste am Toten Meer, zur Bergfestung Masada und nach Bethlehem.

Fahrt in Richtung Totes Meer
Zur Rechten die Berge von Samaria, linker Hand im Dunst am Horizont erst die besetzten Golanhöhen und später Jordanien, das einzige arabische Land, mit dem Israel einen Friedensvertrag hat: So ging es immer weiter hinab bis auf fast 800 m unter unter dem Meeresspiegel. Hier wird dem Jordan durch Landwirtschaft immer mehr Wasser entzogen, bis die Reste des Flusses in den riesigen Salzsee fließen. Das Wüstenklima ist hier fast nur noch für Dattelpalmen günstig. Deshalb werden die genügsamen Bäume in großen Plantagen gezogen und maschinell abgeerntet.

Dattel-Monokultur im Jordantal

Bei den Höhlen von Qumran, wo archäologisch und theologisch wichtige Schriften gefunden wurden, erreichten wir das Tote Meer in der judäischen Wüste. Jetzt war jede Quelle eine Festung und jede jüdische Siedlung an den Hängen wieder wie eine Burg gesichert.
 
Jüdische Siedlung am Toten Meer
Festungen haben in dieser Gegend eine gewisse Tradition. Die berühmteste heißt Masada: ein Hochplateau in den judäischen über dem Toten Meer. Hier hatte sich römische Vizekönig Herodes um 20/15 vor Christi Geburt eine Palastfestung im Stil des Hellenismus bauen lassen. Den extremen Luxus dieser Anlagen zeigen bis heute Thermen und Schwimmbecken, die mit Mosaiken verziert sind. So eine Fußbodenheizung wie hier gibt es bis heute nicht mehr im ganzen Mittelmeergebiet. Kaum ein Hotel hat heute eine Heizung, wie sie die alten Römer sogar in öffentlichen Thermen ihrer Garnisonen schon hatten. An der Talstation sahen wir bereits ganze Besucherkarawanen zu Fuß absteigen. Wir eiligen Touris nahmen die Seilbahn zu der noch als Ruine eindrucksvollen Anlage. Von oben ist der quadratische, gemauerte Grundriss des römischen Feldlagers gut zu sehen, von dem ausgehend um 74 nach Christus die Belagerung von Masada durch römische Legionen den Jüdischen Krieg beendete. Hierher hatten sich die Zeloten mit ihren Frauen und Kindern zurückgezogen und nutzten Masada als Fluchtburg, nachdem Jerusalem gefallen war. Die fanatischen Verteidiger der jüdischen Aufständischen töteten sich angeblich vor der Erstürmung erst gegenseitig und dann die Frauen und Kinder. Die Römer fanden rund 960 Leichen vor und zwei Frauen, die sich mit fünf Kindern versteckt hatten, als das Massaker begann.

Die Seilbahn nach Masada mit Bergstation


Talstation und Römerkastell


Die Aussicht von hier oben über das Tote Meer und bis nach Jordanien ist überwältigend. Doch wenn man bedenkt, das die gesamte Innenausstattung und jedes Stück Marmor zu Fuß und mit Maultieren hier hochgeschleppt werden musste, weiß man, welchen Preis diese Pracht hatte.

Blick von Masada über das Tote Meer
Das Tote Meer ist ein großer Salzsee und ein sterbendes Naturwunder. Denn der Wasserspiegel sinkt um 1-3 Meter pro Jahr! Der einzige Zufluss außer sporadischen Regenfällen, die durch steinige Wadis ungebremst in den See schießen und dabei gern mal einen Bergrutsch verursachen, ist der Jordan. Der ohnehin nicht große Fluss wird aber von der Landwirtschaft sowohl in Israel, als auch in Jordanien und im Westjordanland beinahe ganz verbraucht. Zudem lässt die sommerliche Hitze (bereits im Februar erreichten die Nachmittagstemperaturen über 20 Grad) mehr Wasser verdunsten, als ins Tote Meer hineinfließt. Und als wäre das nicht genug, wird im Südteil des Sees mittels großer flacher Salzpfannen zusätzlich Wasser verdunstetet, damit das Salz kommerziell genutzt werden kann. Es enthält viele Mineralien und dient nicht nur als Speisesalz, sondern auch als teure Zutat für Kosmetik, die in alle Welt verkauft wird.

Schlucklöcher am Toten Meer
Sperrzone: Aufgegebener Kibbuz














In dem Maß, wie die Wasserlinie absank, blieben Salzwasserblasen im Ufergestein zurück. Der Inhalt dieser unterirdischen Zisternen, Dolinen oder Höhlen wird vom Regen ausgewaschen und in den See gespült. Irgendwann bleibt nur Süßwasser darin und versickert oder verdampft im heißen Boden. Wo der Untergrund sandig ist, stürzen diese unteriredischen Blasen in sich zusammen. Seit dem Sechstagekrieg sind Salzgewinnung und der Verbrauch von Jordanwasser drastisch gestiegen und haben diesen Prozess in Gang gesetzt. Und 2015 begannen große Schlucklöcher plötzlich einzustürzen. Häuser, Straßen, Brücken über Wadis, Autos, zuweilen Menschen und Tierherden verschwanden in bis zu 20 Meter tiefen Kratern, der ganze Strand wurde lebensgefährlich. Zwei Strandbäder mit Restaurants und Läden gingen verloren. Inzwischen sind große Uferbereiche durch dieses unheimliche Phänomen unsicher geworden, mit dem niemand gerechnet hatte. Erst durch Satellitenbilder lernte man die Schlucklöcher bzw. Salzwasserblasen im Boden zu finden, bevor ein neues Unglück passiert. Doch weite Uferzonen sind gesperrt.

Badestelle am Toten Meer - mit Kletterzugabe










Ein Bad im Toten Meer und in seinem gesunden Schlamm ist zwar immer noch ein Ritual für Touristen, aber nur noch mit einer ziemlich anstrengenden Kletterei möglich. In zwei Etappen führt der Weg vom befestigten Parkplatz und eine Restaurant-Terrasse mit Umkleidekabinen, Duschen und herrlicher Aussicht über den See sowie eine Treppe ca. 100 Meter zum Badestrand hinunter. Einge Unverwüstliche wollten sich den Spaß am Spätnachmittag nicht nehmen lassen. Mir würde ein zügiger Wiederaufstieg schwer fallen, also blieb ich oben sitzen.

Ein Touristenkamel
Dort konnte ich einem Kamel tief in die schönen, zum Schutz gegen Flugsand dicht bewimperten Augen schauen. Ich saß vielleicht eine Stunde da und konnte beobachten, wie der Beduine, dem Tier gehörte, häufiger Frauen, manchmal auch Männern in den Sattel half und dann sein Tier eine Runde langsam um den Platz führte. Schön langsam, damit die Männer, die schließlich alles bezahlten, Fotos von ihrer Liebsten auf dem Kamelrücken machen konnten. Als gerade einmal nichts los war, fragte ich den freundlichen Mann, ob das Kamel nicht leiden müsse durch das häufige Aufstehen und wieder Hinlegen (mit Lasten auf dem Rücken oder beim Reiten der schwierigste Bewegungsablauf). Und dann erzählte er eine ganze Geschichte: Dass er insgesamt acht Kamele habe, mit denen er abwechselnd jeweils vier bis fünf Stunden am Stück arbeite. Das sei ihnen zumutbar. Und dass dieses eine, das ich gerade fotografiert hatte, ein Hengst sei, der gern Frauen beobachte und sehr freundlich sei. War er. Das kann ich nur bestätigen.

Ganz weit unten baden Menschen
Menschliche Körper schwimmen in dem extrem salzhaltigen Wasser obenauf wie Korken. Die Menschen am Strand waren von hier oben aus klein wie Ameisen! Ich muss in diesen Tagen oft an den Beduinen und sein Kamel denken, von dem er lebt. Und ich frage mich, wie der Mann durch den Corona-Lockdown gekommen ist. Drei Monate kamen keine Touristen. Drei Monate ohne Verdienst hier draußen in der Wüste! Oder mussten die Kamele nun wieder wie in alten Zeiten Lasten schleppen? Musste er eines oder mehrere seiner Tiere verkaufen, die er so liebte?

Fern auf den Hügeln grüßt Jerusalem
Es wurde spät bei der Anfahrt auf Bethlehem durch die Berge von Judäa über Jerusalem. Die "hohe Stadt" auf den Hügeln liegt im Schnitt 780 Meter über dem Meer und wird schon im Alten Testament wegen ihrer mächtigen Mauer mit den prächtigen Stadttoren besungen.

Für diesen Abend stand außer dem Abendessen im Hotel Mount David noch eine Chorprobe auf dem Programm. Daher wurde die Besichtigung der nahe gelegenen Geburtskirche und der Katharinenkirche direkt daneben auf den nächsten Morgen verschoben.

Gestatten: Lola
Originellste Erscheinung  im Begrüßungsteam war die Graupapageiendame  "Lola". Sie turnte mit leider beschnittenen Flügeln munter an ihrer Voliere an der Bar herum und pfiff uns eins zum Willkommen.Sie war sofort Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, weil die zwei Aufzüge winzig und einer gut eine halbe Stunde lang durch drei griechisch-orthodoxe Pilgerinnen blockiert war, die auf der Suche nach ihrer Etage dauernd rauf und runter fuhren. So wurden die Pfeif-Dialoge mit Lola zu einer willkommenen Überbrückung der Wartezeit. Das Gepäck stand während des Abendessens unter der Aufsicht des Portiers. Im Speisesaal entdeckten wir auch gleich die drei Damen vom Lift am Tisch mit einem Popen im schwarzen Gewand. Sie kamen offenbar vom Land und erlebten zum ersten Mal eine große fremde Stadt. Schließlich konnten wir unsere Koffer aufs Zimmer bringen, uns kurz frisch machen und die Noten auspacken.





Tag 6: Bethlehem, eine beklemmende Grenze und Jerusalem


Der erste Gang am sechsten Reisaetag führte mich mit einigen anderen an diesem Tag zum Geldwechsler. Denn Jerusalem ist teuer, und meine Bargeldvorräte gingen zur Neige. Den besten Kurs bot ein freundlicher Palästinenser, der sich als bekennender Fan von Yassir Arafat und Borussia Dortmund outete. Warum ausgerechnet der BVB?

Arabischer Geldwechsler und BVB-Fan in Bethlehem
Der Mann grinste breit und sagte: "Bayern München ist nur für Geld. Dortmund ist für Herz." Dem kann ich nichts hinzufügen.
Zu Fuß konnten wir in Bethlehem die Geburtskirche und die neben ihr gelegene Katharinenkirche besichtigen. Besonders eindrucksvoll war für mich die Geburtskirche, die auch ich aus unzähligen Fernsehaufnahmen zur Weihnachtszeit kannte. Doch hier zu stehen ist schon etwas Besonderes. Wenn auch nicht ohne Eigentümlichkeiten. Obwohl alle christlichen Bekenntnisse das gleiche Recht haben, hier zu beten und Gottesdienste zu feiern, sind einige gleicher. Wie unsere Reiseführerin Ruth erklärte, hat das Hausrecht (also das Sagen) der griechisch- orthodoxe Patriarch von Jerusalem. Die Othodoxen sind nicht zahlreich, aber die griechisch-orthodoxen Messen dauern schon an normalen Werktagen gern mal zweieinhalb Stunden. An Weihnachten, Ostern und Pfingsten können sie auch deutlich länger dauern. So lange haben die anderen gefälligst zu warten. Die Kleinsten werden die Größten sein...

Katharinenkirche (rechts) und Geburtskirche (hinten)
Vor der Geburtskirche ist grundsätzlich ein Stau, denn der Besucher kann das Innere nur in demütig gebückter Haltung durch eine künstlich verkleinerte Pforte betreten.
Geburtskirche, innere Pforte

Genauer: es sind zwei Pforten, eine äußere aus Stein und eine innere aus Holz. Typisch sind die vielen farbigen Ampeln, die von den Decken hängen. Die meisten brennen auch am hellen Tag und verbreiten eine eigenartige Atmosphäre, in der sich vielfarbiges Licht, meist andächtige Stille, das Scharren vieler Füße auf dem uralten Steinboden und gedämpfte Gesänge einer Messe in einer der Seitenkapellen mischen.

Verbotener Einblick
Geburtskirche: Hauptschiff













Vermutlich waren es die Griechisch-Orthodoxen. Ich konnte nur im Vorbeigehen einen diskreten, doch verbotenen Handy-Blick ohne Blitz auf die drei Priester in der gesperrten Seitenkapelle werfen. Gottlob machen Handyfotos auch kein Geräusch, wenn man den Ton ausschaltet...

Katharinenkirche Bethlehem
In der Katharinenkirche waren Gestaltung und Gottesdienst-Atmosphäre nüchterner.
Ganz und gar nicht nüchtern finde ich die orientalische Mischung aus Religion und Kommerz.
Im Bethlehem hat vermutlich die jüdische Konkurrenz im benachbarten Jerusalem keine Starbucks-Filiale erlaubt oder die amerikanische Firma wollte aus politischer Rücksicht keine Lizenz an Araber vor den Toren Jerusalems geben (welchen Einfluss hat Jerusalem auf die US-Kette?). Mir hat jedenfalls die Ironie und Selbstironie sehr gefallen, mit der sich hier ein Caféhaus nach Art der US-Kette benannt hat.

Bethlehem: Ohne Worte
Bäckerei in Jerusalem
Ähnlich ist es offenbar auch in Jerusalem. "Zum Heiligen Bagel": Ob hier die beliebten Kringel mit Sesam oder Zuckerguss wohl besser schmecken? Vielleicht steckt sogar die gleiche Werbeagentur hinter beiden Namen.
Andenkenläden haben auch nicht das geringste Problem damit, selbst eine Sorte Kitsch zu verkaufen, wie andernorts vielleicht schon blasphemisch genannt würde (etwa aus landestypischem Gestrüpp gefluchtene Dornenkronen, die besonders "echt" aussehen sollen). Vielleicht weniger extrem, aber solche Geschmacksentgleisungen habe ich auch in Rom oder Santiago de Compostela gesehen.

Über den Dächern von Bethlehem, die alle mit Wassertank und Solaranlage ausgestattet sind wie in der ganzen Region, sieht die hügelige Westbank nicht anders aus als die Heilige Stadt.
Ich habe noch keine Apothke gesehen, wo ich Ibuprofen oder Voltaren gegen meinen schmerzenden steifen Nacken bekommen könnte. Bei einem kurzen Zwischenstop bei einem palästinensischen Markt, wo es hauptsächlich Souvenirs gab, konnte ich immerhin ein Fläschchen Myrrhe-Öl käuflich erwerben. Es duftet stark, und ich bilde mir ein, die ätherischen Öle wirken desinfizierend, wenn ich etwas davon aufs Tapiertaschentuch streiche. Das habe ich im Bus permanent beim Einatmen vors Gesicht gehalten, wenn jemand nieste oder hustete, der weniger als 5 Sitzreihen von mir entfernt war. Inzwischen war ich zwar nicht wirklich besorgt, aber vorsichtig wegen der Pandemie. Ich bin seit meiner Lungen-OP aber grundsätzlich sehr empfindlich gegen Infektionen und muss auf mich achten. Einfach ist das bei einer solchen Reise nicht.

Über den Dächern von Bethlehem
Wer mit dem Bus von Bethlehem nach Jerusalem fährt, entdeckt an dessen Vororten gleich den entscheidenden Unterschied: erst die festungsartig eingemauerten Vorstädte,
dann die Wachtürme, Checkpoints und Sperren
wie ich sie nur von der DDR-Grenze kenne. Nur dass die Mauer durch Deutschland abgerissen wurde. Es ist ein bedrückender Anblick für mich.
Ruth telefoniert mit dem Grenzposten, und man dirigiert uns langsam an der Warteschlange palästinensischer Pendler vorbei, die je nach Lage kontrolliert werden - großzügig oder militärisch-kleinlich, so dass sie zu spät kommen, egal wohin.
Ich finde: Diese Mauer ist eine Schande. Wie jede Mauer, die Freunde und Familien trennt, die Menschen diskriminiert und nur die Zahl der Anschläge auf jüdische Bürger verringern kann, nicht aber sie verhindern. Sie ist ungerecht.

Diese Mauer ist eine offene Wunde, ein Pfahl im Fleisch jedes freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates. Sie ist die Verneinung von Freiheit, Recht und Demokratie für sehr viele Menschen. Für zu viele. Ich hoffe, dass eine Zukunft das zeigt, in der es Frieden gibt für Israelis und Plästinenser.

Banksy was here
Es gibt auf palästinensischer Seite der Mauer Stellen, wo einheimische Sprayer sich in "Mauerkunst" versucht haben, oft sehr ironisch. Dass der Brite Banksy sich mehrfach hier verewigt hat, ist traurig und schön zugleich. Der internationale Graffitti-König appelliert an die Herzen - auch in dem Wissen, dass auf beiden Seiten dieser Konfliktlinie viele traumatisierte Menschen ihr Herz verschlossen haben. Diese Erfahrung bekommen wir in Jerusalem hautnah zu sehen und zu spüren. Doch auch das Gegenteil, den Willen zu Offenheit,Toleranz und Versöhnung. Israel ist nicht Benjamin Netanjahu. Es ist die Heimat der Juden, von denen viele meine Hoffnung teilen. Ich bin davon überzeugt: Wenn es eine Zukunft gibt für diesen wunderschönen, so sehr bedrohten und verwundeten Planeten, dann kann sie nicht den Spaltern und Rassisten gehören, sondern nur allen Menschen. Wie kann ich das Heilige Land davon ausnehmen, in dem so viel Unheiliges im Namen der Religion geschieht?

Blick vom Ölberg:jüdischer Friedhof und Tempelberg
Zum Überblick ging es auf den Ölberg. Von hier aus reicht der Blick über den größten jüdischen Friedhof der Welt, das Kidrontal mit dem Garten Gethsemane und den Tempelberg mit den heiligen Stätten der drei monotheistischen Weltreligionen. Ruth erklärt die jüdischen Begräbnisrituale, und ich sinne darüber nach, warum ich hier eine so tiefe Trauer empfinde. Weit unten in dem riesigen marmornen Gräberfeld ist eine Gruppe schwarz gekleideter orthodoxer Juden zu sehen. Da kein Leichenwagen kommt, gedenken sie vielleicht eines großen Rabbiners. Ich lasse sie da unten und rücke nicht näher, um vielleicht ein besseres Foto machen zu können. Auch wenn ich die Orthodoxen wegen ihrer Intoleranz und Aggressivität nicht mag, will ich sie doch nicht durch Aufdringlichkeit verletzen.

Der Garten Gethsemane
Nach vielleicht einer halben Stunde gehen wir am rechten Rand zu Fuß entlang des  Friedhofs über eine schmale, rechts und links von hohen Mauern gesäumte Straße hinunter ins Tal. Der Garten Gethsemane liegt hinter einem schmiedeeisernen Zaun vor der Gethsemane-Kirche. Darin stehen Ölbäume, von denen einige tatsächlich gut 2000 Jahre alt sein dürften. Hier also hat Jesus Todesangst gelitten und über das Schicksal seines Volkes geweint. Im Garten steht auch die katholische "Kirche Aller Nationen". Die klassizistische Basilika gehört zum lateinischen Patriarchat von Jerusalem und wird von Mönchen des Franzikanerordens betreut. Sie stammt aus dem Jahr 1924 und steht auf den Fundamenten einer Basilika aus dem 4. Jahrhundert, die Kaiser Theodosius I. von Byzanz hatte bauen lassen. Sie wurde im Jahr 746 durch ein Erdbeben zerstört. Deshalb erinnert die Kirche mit ihren zwölf Kuppeln für die zwölf Apostel (aber ohne Turm) sehr an den Baustil von Byzanz, allerdings mit viel Jugendstil garniert.

Gethsemanekirche innen

Gethsemanekirche außen
Erst auf dem Weg zum Bus konnten wir  auch die reichen Mosaiken an der Fassade  sehen.
Auch da wieder Jugendstil, den ich persönlich ja mag. Aber solche Kirchen sind bei uns sehr selten. Die einzige, die ich wirklich kenne, ist die Grabkapelle auf dem riesigen Wiener Zentralfriedhof. Vielleicht wirkt so ein Bau deshalb auf mich irgendwie so exotisch. Vielleicht hat der etwas unwirkliche Eindruck aber auch mit Reizüberflutung zu tun. Ich jedenfalls lief wie in einem Tagtraum durch all die Sehenswürdigkeiten.

Seitenwechsel mit Blick auf den Ölberg (hinten)
Für die Mittagspause hatten wir vom Hotel in Bethlehem ein Lunchpaket mitbekommen.Beim Essen am Aussichtspunkt eines Parkplatzes konnten wir das eben durchquerte Kidrontal, den Garten Gethsemane und den Ölberg mit dem riesigen jüdischen Friedhof sehen. Als der Fahrer die Lunchpakete verteilte, war zu meiner Freude auch eine Flasche stilles Wasser darin. Ich hatte seit Tagen immer wieder für unterwegs eine Wasserflasche vom Wiener Flughafeen aufgefüllt. Das Lunchpaket war reichhaltig. Auch die seltsamen grau-schwarzen Rabenkrähen bekamen ihren Teil ab.

Der nächste Punkt auf unserem Tagesplan war der Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (14 bis 17 Uhr). Ohne unsere Reiseführerin Ruth Eisenstein wäre ich hier vollkommen verloren gewesen. Die Anlage ist riesig, und Ruth kommentierte wirklich den ganzen Weg über. Auf dem Gelände befinden sich viele Mahnmale und Gedenkstätten.


Mahnmal Warschauer Aufstand







Die Reliefs vom Aufstand im Warschauer Ghetto und von den Märschen ins KZ kenne ich von einer Reise nach Warschau. Es sind (sehr gute) Bronze-Kopien der Arbeiten von dem Mahnmal, vor dem Willy Brandt seinen historischen Kniefall tat.


Es wäre sinnlos, hier einen Museumsführer abzuschreiben. Aber ich möchte erwähnen, was mich besonders berührt hat. Denn einiges von dem, was ich gesehen habe, hat eine direkte Verbindung zu meiner eigenen Familiengeschichte. Ein Großonkel von mir war Chefarzt eines von Nonnen geführten Krankenhauses in Bonn. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte er einen jüdischen Stationsarzt in seinem Haus direkt gegenüber dem lokalen Büro der GeStaPo versteckt. Mein Patenonkel und mein Vater wuchsen während des Ersten Weltkrieges im Haus dieses guten Menschen auf, weil ihr Vater gefallen war; deshalb wurde mir die Geschichte oft erzählt.
Nie erzählt haben mir mein Vater und dessen Bruder, dass es um das Haus des jüdischen Arztes nach dem Krieg einen unappetitlichen Erbschaftsstreit gab und welche Ursache der hatte. Der Chefarzt und Lebensretter starb 1945. Mein Onkel wurde sein Nachfolger als Chefarzt des gleichen Krankenhauses und behandelte den Patienten seines Ziehvaters weiter bis zu dessen Tod 1955. "Aus Dankbarkeit" erbte er das Haus des jüdischen Arztes mit der Auflage, mit dem Geld aus dem Verkauf eine Stiftung auf dessen Namen zu errichten oder ein Krankenhaus zu bauen. Das ist jedoch nie geschehen.
Die Vettern meines Onkels und Erben des Lebensretters als dessen leibliche Kinder beanspruchten daher das Geld aus dem Hausverkauf für sich - zuletzt noch Jahrzehnte später durch ein gefälschtes Testament meines Onkels, das nach dessen Tod plötzlich auftauchte. Dabei hatte er angeblich nie ein Testament machen wollen. Als ich - wieder Jahre später - die Geschichte in langen Recherchen herausfand, war auch der Erbschaftsbetrug zwischen den Onkels längst verjährt. Zurück bleibt das zerstörte Vorbild meiner ach so katholischen Verwandten und der betrügerische Zank um die Ebschaft des jüdischen Arztes. Die Scham über diese nachträgliche doppelte "Arisierung" jüdischen Eigentums in meiner eigenen Familie ist mir unvergesslich. Ich war auch hier, um dafür stellvertretend Abbitte zu tun.

Das Denkmal für die Kinder

Uziel

1,5 Millionen Kinder haben die NS-Schergen ermordet. Daran erinnert das Denkmal, das reiche Überlebende des kleinen Uziel aus den USA gestiftet haben. Diese unfassbare Zahl wird in einem unterirdischen Raum greifbar, in dem Spiegel fünf Kerzen in der Dunkelheit so reflektieren, dass scheinbar ein ganzer Sternenhimmel entsteht. Dazu sind die Namen, der Geburtsort und das Alter der Kinder zu hören. Wollte man diese Endlos-Tonspur zu Ende hören, müsste man ungefähr drei Monate bleiben. Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich daran nur denke. Gut, dass es im Denkmal für die Kinder vollkommen dunkel war.

In der "Halle der Erinnerung" (2005)
In der "Halle der Erinnerung" brennt eine ewige Flamme und im Boden sind die Namen aller großen Konzentrationslager zu lesen. Hier hat der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Januar 2020 gesprochen. Hier haben aber auch Präsidenten wie Benjamin Netaniahu oder Wladimir Putin versucht, dieses Gedenken politisch in ihrem Sinne zu deuten. In der "Allee der Gerechten" ehrt Israel vor allem deutsche Nichtjuden als "Gerechte unter den Völkern", die als bis 1945 unter Lebensgefahr Juden vor den Nationalsozialisten in Sicherheit brachten, mit einem Baum, an dem sein Name steht. Rund 27 000 Bäume! In der "Halle der Namen", dem letzten Saal im Museums zur Geschichte des Holocaust, reichen Fotos Ermordeter rundum bis an die hohe Decke.

Ich denke, nichts ist wirklich vorbei, so lange noch Profiteure solcher Taten straflos bleiben. Versöhnung ist möglich, aber nicht ohne Wahrheit und Gerechtigkeit. Dieser Riss geht wegen der Stasi-Vergangenheit, über die immer noch hartnäckig geschwiegen wird, durch viele deutsche Familien. Beides -Wahrheit und Gerechtigkeit - ohne tätige Reue unter den Teppich zu kehren, kann keine Grundlage für einen "Schlussstrich" sein, weder in den Beziehungen zwischen einzelnen Menschen noch in der Politik. Gedenken kann ich wohl nur, wenn ich solche Gedanken nicht verdränge, sondern zulasse und zu Ende denke.
Aber wir waren seelisch erschöpft von Yad Vashem. Umso mehr Wohltat war uns danach das Treffen mit einem wunderbaren Chor.

Nach einer kurzen Pause bei einem Einkaufszentrum, die für einen Imbiss gedacht war, in der ich aber endlich eine Toilette und eine Apotheke fand, ging es meinen Nacken endlich besser. Erleichtert konnte ich Prioritäten setzen und ging dementsprechend gern der letzten Tagesetappe entgegen: "Die Schöpfung" von Joseph Haydn mit dem Jerusalem Oratorio Choir. Das semiprofessionelle Ensemble gehört zu den besten Chören des Landes.
 
Der Jerusalem Oratorio Choir
Wir kamen gegen 19 Uhr in der reformierten Mvakshei Derech Synagoge an, als es schon dunkel war, und wurden mit großer Herzlichkeit empfangen. Fürs Einsingen hatten wir einen eigenen Raum, und tatsächlich sammelte sich Publikum. Die  Zuhörer fanden Platz im Saal des Gemeindezentrums hinter einer offenen Schiebetür, während die Synagoge selbst als Bühne diente. Eine große Ehre! Ich war völlig überwältigt, als der Gastgeber-Chor uns mit "Locus iste" von Anton Bruckner  begrüßte. Was für eine Wahl an diesem Tag! Natürlich wusste der Chorleiter, wo wir her kamen. Nicht nur hatten sich die Kolleginnen und Kollegen in eine schicke Konzertkleidung geworfen, sie sangen auch, wie  ich mir einen Engelschor vorstelle. Es war einfach nur wunderschön. Bevor wir gemeinsam Auszüge aus der "Schöpfung" von Joseph Haydn sangen, wurden auch wir gebeten, einige Stücke aus unserem Programm vorzutragen.

Gute Laune in der Mvakshei Derech Synagoge
Für gemeinsame Auszüge aus der "Schöpfung" im dritten Teil des Konzerts mischten sich nun die beiden Chöre. Wir Tenöre wurden durch zwei junge weibliche Tenöre verstärkt. Und bevor wir zu Nr. 13 kamen, "Die Himmel erzählen die Ehre Gottes"  verkündete Dor Magen, der sympathische Chorleiter der Gastgeber, überraschend eine Idee, die mit großem Gelächter quittiert wurde und eine sympathische Herausforderung war: Wir sollten alle auch die Solostimmen singen - und zwar abwechselnd wir auf deutsch und die Gastgeber auf Englisch! Aber wer ein großes Durcheinander erwartet hatte, wurde enttäuscht. Das gemeinsame Singen zur Ehre Gottes und zum Lob der Schöpfung war ein großes Geschenke an uns alle - so habe ich das empfunden. So hätten wir noch länger weitermachen können.
Trotzdem blieb noch ein wenig Zeit für anregenden Austausch mit diesen sympathischen Sängerinnen und Sängern. Ich kam mit einem der Bässe ins Gespräch, der mich besonders beeindruckt hatte. Ich fragte ihn, wo er geboren sei. Er war aus Buenos Aires eingewandert. Als ich ins Spanische wechselte und erwähnte, dass wir 2018 mit besonderer Freude das "Magnificat" von Martín Palmeri gesungen hatten, strahlte er. Natürlich kannte er den Komponisten der "Misa Tango" ebenfalls, den ich einmal interviewen durfte. Leider habe ich den Namen meines Gesprächspartners vergessen, der auch in Israel seine Liebe zur Musik seiner Heimat bewahrt hat. Aber mir ist noch lebhaft in Erinnerung, dass er sich diesen anspruchsvollen Chor nur leisten kann, weil er als Inhaber einer florierenden Autowerkstatt nicht mehr ständig arbeiten muss. Jede Woche zwei Chorproben, dazu einmal zusätzlich wöchentlich Stimmbildung (aus eigener Tasche zu bezahlen) und bei Bedarf auch noch Einzelunterricht. Meine Hochachtung vor so viel Engagement stieg immer weiter. Die Stimmung war nach diesem Tag auf einem positiven Höhepunkt angekommen. Wir verabschiedeten uns schließlich mit "Der Mond ist aufgegangen", weil unser Busfahrer heim und ins Bett wollte. Der Gute hatte durch uns wirklich sehr lange Arbeitstage. So viel Adrenalin musste in der Hotelbar noch mit einem Bier (oder zwei) abgebaut werden.


Tag 7: Freitag in der Stadt der drei monotheistischen Weltreligionen


Tzemach Tzedek Synagoge
Siebenarmiger Leuchter
Schon um 9 Uhr am nächsten Morgen stand der Bus wieder vor dem Hotel und brachte uns nach Jerusalem auf den Zionsberg. Ruth lotste uns vorbei am orthodoxen jüdischen Viertel mit der Tzemach Tzedek Synagoge und dem goldenen siebenarmigen Leuchter vor dem Gemeindezentrum, einer zentralen jüdischen Bildungseinrichtung und Thora-Schule, zur Dormito-Abtei, dem Grab Davids und dem darüber liegenden Abendmahlssaal. Die engen, verwinkelten Gassen der orientalischen Altstadt sind trotz zahlreicher Wegweiser unübersichtlich, und so waren wir froh über Ruths Stimme im Kopfhörer, die uns nicht nur unermüdlich erklärte, wo wir vorbeikamen, sondern auch eine Orientierung gab.
Auf dem Zionsberg
Das historisch umstrittene "Davidsgrab" ist heute eine Synagoge. Über eine Treppe in deren Innenhof gelangt man in den Saal des letzten Abendmahls im Obergeschoss.        
Innenhof und Davidsturm





Mihrab im Abendmahlssaal


Ausgerechnet einer Kreuzfahrer-Legende verdankt sich die jüdische und islamische Verehrung des Ortes. Danach befindet unter dem Saal, in dem Jesus das letzte Abendmahl eingenommen haben soll, das Grab König Davids. Hier soll auch der Heilige Geist in Gestalt feuriger Zungen über die Jünger gekommen sein, als sie "einmütig im Gebet" verharrten. Das macht diesen Ort auch zum Ausgangspunkt für die Gründung der Kirche. Eine islamische Gebetsnische (Mihrab) belegt, dass der Raum nach dem Rauswurf der Kreuzritter schon einmal als Moschee gedient hat: An dieser Stelle liegen also jüdische, christliche und islamische Stätten religiöser Andacht nur wenige Meter auseinander, wenn nicht gar übereinander, auf jeden Fall aber durcheinander. Zum jüdischen Pilgerziel wurde Davids Grab erst nach 1948 als Ersatz, weil Juden bis zur Eroberung der Altstadt 1967 keinen Zugang zur Klagemauer hatten. Hätten die Kreuzfahrer doch nur ihren Drang zur Angeberei unterdrückt und nicht die Sache mit dem "Davidsgrab" in die Welt gesetzt, dann wäre der Religionsfrieden in Jerusalem heute etwas sicherer.
Wie fragil dieses Gleichgewicht der Interessen und Kräfte ist, zeigt seit 2015 eine neue Polizeistation direkt in diesem Gebäudekomplex. Bis dahin war es immer wieder zu Übergriffen ultra-orthodoxer Hitzköpfe auf christliches Eigentum bis hin zu Brandstiftung und schwerer Körperverletzung gekommen. Eine Strafverfolgung der vermutlich jüdischen Täter gab es eher selten. Polizeiliche Ermittlungen verliefen "bei bestimmten Tätergruppen phlegmatisch", kritisierte Nikodemus Schnabel, Sprecher der benachbarten Dormito-Abtei, nach einem Brandanschlag 2014. Jetzt haben die Behörden alles im Griff. Vorerst.
Zugang zur Klagemauer
Die Sicherheitsarchitektur rund um die Heiligen Stätten von Juden, Christen und Muslimen hier und auf dem Tempelberg nebenan ist auf jeden Fall bemerkenswert und bedrückend zugleich. Alle Besucher der Klagemauer müssen durch Schleusen mit hohen Gitterzäunen, Metalldetektoren und Bewaffneten, die jeden Rucksack, jede Beuteltasche, jeden Fotoapparat und jedes Handy durchleuchten. Videokameras sind allgegenwärtig. Wir mussten eine ganze Weile warten, weil Ruth mit den Sicherheutsleuten einen Kampf um das Instrument unseres Akkordeonisten Markus führen musste, bevor sie die Führung allein mit den Frauen fortsetzen konnte.

Seltsame Rituale von Jugendgruppen

Mit einer Mischung aus Unbehagen und Faszination konnten wir unterdessen das seltsame Ritual einer jüdischen Jugendorganisation beobachten. Junge Leute hatten unter Sprechchören und Rufen auf dem Vorplatz einen großen Kreis um zwei Animateure gebildet. Anscheinend ging es um eine Art Pilgergelöbnis. Wie in orthodoxen Synagogen sind getrennte Mauerbereiche und Zugänge für Frauen und Männer vorgesehen. Als Ruth mit den Frauen durch die Holzkonstruktion am rechten Bildrand in den Frauenbereich verschwand, war ich plötzlich allein und hatte Gelegenheit, die Klagemauer in aller Ruhe aus der Nähe zu betrachten. Sie gehört zur westlichen Umfassungsmauer des Herodianischen Tempels, der im Jüdischen Krieg zerstört wurde, und ist nicht etwa ein Ort der Klage, die der deutsche Name vermuten lässt.

Die Klagemauer: Ort des Gebetes
Vielmehr ist die Mauer ein Symbol für Gottes festen und unzerstörbaren Bund mit seinem Volk. Die Gläubigen kommen in erster Linie, um zu beten. Viele stecken Zettel mit Wünschen, Gebeten und Danksagungen in die Ritzen. Die Atmosphäre des stillen Gebetes hat durchaus etwas Ansteckendes. Als ich nach einigen Minuten der Versenkung den Blick wieder hob und nach Chormitgliedern suchte, denen ich mich anschließen konnte, war ich allein. Der Kopfhörer an meinem kleinen Funkgerät um den Hals blieb stumm. Ich konnte  mich auch an keinen Treffpunkt erinnern, von dem Ruth vielleicht etwas gesagt hatte. Und so lief ich langsam über die Stufen hinauf und zurück in die Altstadt.

Mehr mit dem Gefühl als nach dem Stadtplan zog es mich bergauf durch die engen Gassen rund um die Via Dolorosa, als es Zwölf Uhr Mittag schlug. Noch bevor ich mich in Richtung Grabeskirche orientieren konnte, musste ich plötzlich einer ziemlich unheimlichen Flut Tausender konzentriert bis feindselig blickender Muslime ausweichen, lauter Männer, die mir bergab entgegen kamen und mit hohem Tempo zum Freitagsgebet in der Al-Aksa-Moschee strebten, als ginge es in die Schlacht. Da sie mir entgegen kamen, suchte ich Asyl im höhlenartigen Souvenierladen eines freundlichen Palästinensers, und erstand als einziger Kunde einen schönen Seidenschal für meine Frau.

Die Erlöserkirche außen
Als die Menschenmenge vorüber war, ging ich dem Geläute einer Kirchenglocke nach bergauf - und stand unvermittelt vor der evangelischen Erlöserkirche ganz in der Nähe des Abendmahlssaales. Dort war um 14 Uhr bereits eine Chorprobe angesetzt, und so war die Zeit geradezu ideal für eine Mittagspause. Gegen 13.30 Uhr trafen dann schon die ersten Kolleginnen und Kollegen ein, und wir konnten einen der Tagungsräume in der weitläufigen Probstei mit ihrem schönen Innenhof als Umkleide- und Gepäckraum nutzen. Es blieb sogar noch Zeit für ein Gruppenfoto vor der letzten Probe für unser Abschlusskonzert.

Die Degerlocher Kantorei mit Ruth, Barbara mit Plakat
Die klassizistische Kathedrale aus dem späten 19. Jahrhundert war trotz des schönen Wetters noch winterkalt. Aus den Steinen zog es erbärmlich durch die Schuhsohlen. Aber jetzt galt:
Kneifen gilt nicht. Zähne zusammenbeißen und durch.


























Mussten wir uns eben warm singen! Der Probst begrüßte uns mit herzlichen Worten und stellte den Chor den Besuchern vor.
 
"Hahheluja" zum Letzten in der Erlöserkirche Jerusalem
Und dann sangen wir uns warm. Die Zuhörer blieben eine ganze Stunde und hörten zu. Der Applaus war freundlich. Dass Ruth, die ja immerhin fünf Mal dabei gewesen war, uns lobte und sagte, wir seien von Mal zu Mal besser gewesen, verstehe ich als Ermunterung, nur nicht aufzugeben. Als wir  aufbrachen, um den Shabbat-Beginn an der Klagemauer zu erleben, dämmerte es bereits. In der Altstadt begegneten wir wieder einer Kavalkade von Fanatikern, die den Anschein erweckten, als wollten sie alles über den Haufen rennen, was nicht aussah wie sie selbst. Es waren diesmal ultraorthodoxe Juden. Sie kamen von hinten, überholten und rempelten dermaßen rücksichtslos, dass sogar Ruth Eisenstein der starke Geduldsfaden riss.

Orthodoxer in Jerusalem
Bis heute habe ich keine Erklärung dafür, warum diese in Schwarz gekleideten und pelzbehüteten Männer in Trachten aus dem galizischischen Stetl des 18. Jahrhunderts alle so eilig waren. Ich verstehe, dass man als orthodoxer Jude nach Sonnenuntergang nicht mehr herumlaufen soll. Aber können sie nicht früher aufbrechen und dann würdevoll laufen, wie es sich für einen frommen Mann gehört? Nein, ich hatte das Gefühl, sie wollten eine Machtdemonstration. Ruth fand das so abstoßend wie wir und schimpfte wie ein Rohrspatz: "Diese Leute aus dem vorigen Jahrhundert schaden unserem Land und unserem Glauben!"
An der Klagemauer angekommen, war es lediglich voller als am Vormittag. Nach der Begegnung mit den "Frommen" an diesem 27. Februar fiel mir der Abschied von Jerusalem nicht so schwer wie er mir gestern gefallen wäre.

Freitag Abend, Klagemauer
Letzter Blick auf Jerusalem
Shabbat-Beginn an der Klagemauer: Das Licht ist schön, das Gedränge nicht. Ein letzter Blick von der Höhe des Tempelberges geht über Al-Aksa, Felsendom und Ölberg mit dem großen jüdischen Friedhof. Im Bus bekommt Ruth unsere Funkgeräte zurück und der Fahrer freut sich über ein großzügiges Trinkgeld. Heute wollen wir nicht so spät schlafen gehen. Denn morgen klingelt der Wecker um 2.30: Duschen, Rasieren, Koffer packen, ein kleines Frühstück. Um 3.30 Uhr geht der Bus mit einem ziemlich unausgeschlafenen Chor nach Tel Aviv zum Flughafen Ben Gurion.


Tag 8: Rückflug ins Corona-Deutschland


Einchecken, Sicherheits- und Passkontrolle um 4.30 Uhr, Abflug um 7.30 Uhr. Als unser Bus mit 50 verschlafenen Choristinnen und Choristen durch Bethlehem fährt, sind außer uns  nur ein paar streunende Hunde unterwegs. Keine besonderen Vorkommnisse. Vor dem Flug noch ein Kaffee, letzte Schekel-Münzen bei der Toilette loswerden.

Ich habe nicht von innen gesehen: die Al-Aksa-Moschee, den Felsendom und die byzantinische Grabes- oder Auferstehungskirche aus dem 4. Jahrhundert mit den bedeutendsten Kultstätten der Christenheit, dem Richtplatz Golgotha und das Felsengrab. Aber ich finde das überhaupt nicht schlimm. Ich war virtuell und in Gedanken dort. Und was ich las über den Zank zwischen den Bekenntnissen um die Hoheit an diesen Kultstätten, hat mich in dieser Distanz bestätigt. Ich habe mich den ersten Christen zum Beispiel in Rom bei einer Osternachtsfeier in den schmucklosen unterirdischen Katakomben näher gefühlt als bei all dem Prunk und Pomp der Massenveranstaltungen im Vatikan.

Über das Mittelmeer und die giechische Ägäis flogen wir zurück. Bei Mazedonien, woher Alexander der Große stammte, erreichten wir das Europäische Festland. Dann ging es über den Balkan und Österreich nach Frankfurt am Main, wo die Maschine weit außen parkte. Ich bin viel geflogen in meinem Leben als Autor und Journalist. Aber hier erlebte ich, wie man den Viehtrieb mit der Massenware Mensch noch steigern kann, der mir zuvor schon unangenehm aufgefallen war.
Wir mussten in zwei Busse umsteigen, die uns aber nicht direkt zum Anschlussflug brachte, sondern zu einem Bahnhof der neuen, fahrerlosen Schienenbahn innerhalb des Flughafengeländes. Kein Personal, wo man hätte fragen können, ob wir richtig sind. Für mich war das schon etwas unheimlich: ein voll durch automatisierter Massenbetrieb mit Rolltreppen, Rollsteigen, in dem Passagiere dennoch große Strecken samt Handgepäck zu Fuß durch menschenleere Korridore laufen müssen. Wir hatten sogar noch Eile,  weil "unser" Flieger bereits mit laufenden Motoren wartete. Doch das war nicht nur mir persönlich lieber, als noch einmal stundenlang in irgendwelchen Lounges zu warten. Jetzt wollten eigentlich alle nur noch heim nach Stuttgart. Es war windig und das Flugzeug sackte ein paar Mal ganz schön durch zwischen Böen und Luftlöchern. Man musste deshalb permanent angeschnallt bleiben und nur die wenigsten konnten auf die Toilette, für die es schon in Frankfurt keine Zeit gegeben hatte. Eine letzte Herausforderung, die alle bestanden.
Dann waren wir plötzlich da und heil gelandet. Beim Warten auf das Gepäck wurden Taxi-Fahrgemeinschaften organisiert. Und niemand ahnte, wie lange es dauern würde, bis wir uns alle wieder sehen und von der Israel-Reise erzählen würden. Auch deswegen ist mein Bericht  so ausführlich geraten. Rückblickend denke ich, der Himmel muss wohl seine Hand über uns gehalten haben, weil wir als singende Pilger und Friedensbotschafter ins Heilige Land geflogen waren. Doch eine Garantie hatte es deshalb auch in historischen Zeiten nie gegeben.