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Mittwoch, 19. Dezember 2018

"Erfüllt von Musik und Worten": Palmeris "Magnificat"

Foto: Grit Finndorf-Puhl
Das "Magnificat" von Martín Palmeri am 16. Dezember in der Michaelskirche Degerloch unter der Leitung von Barbara Straub mit der Degerlocher Kantorei, Anna Escala (Soran), Sisu Lustig Häntsche (Alt), Cuarteto Rotterdam (Violine, Klavier, Bass, Bandoneon) und dem Streichorcherster der Michaelskirche. Mitwirkende dürfen sich nicht selber loben, aber eine Zuhörerin hat das getan. Christa van Winsen hat in einem Weihnachtsbrief an ihre Freunde nachdenklich über ihren Lieblingssong "Sounds of Silence" von Simon & Garfunkel geschrieben und über eine Fahrt in der U-Bahn voller Menschen, die nur auf ihr Smartphone starren und nicht miteinander reden. Dieser 54 Jahre alte Song thematisiert Einsamkeit und depressive Sprachlosigkeit auf phänomenale Weise und löst damit bis heute Gänsehaut aus.
 "Im Cyber Space", schreibt sie, "braucht es weniger eine Stimme, da braucht es flinke Finger und Ohrstöpsel. Die Menschen sind da - doch ganz abwesend. Dieser aktuelle „Sound of Silence“ verschafft mir eine Gänsehaut...". Dann fährt sie fort und macht den Musikern ein Kompliment, bei dem es mir ebenfalls den Rücken herunterläuft:
"Gänsehaut hat mich am Abend danach noch einmal überzogen. Doch dieses Mal als reines Glücksgefühl in der Degerlocher Michaelskirche während Martín Palmeris „Magnifikcat“ für Soli, Chor und Tango-Orchester. Es gibt, gottseidank, solche von Musik und Worten erfüllten Räume und großartige Chöre und Musiker, wie die Degerlocher Kantorei, das Cuarteto Rotterdam und das Streichorchester der Michaelskirche, die mit Schönheit, Leben und Gemeinschaft wunderbar gefüllt war. Ich wünsche Euch sehr, dass Ihr solche Räume auch für Euch entdeckt und oft aufsucht."
Ich durfte den Komponisten kennen lernen, als er vor ca. 10 Jahren auf Werbetour für seine "Misa Tango" beim SWR in Baden-Baden war. Sein "Magnificat" ist eine Vertonung des biblischen Textes, der Maria kurz vor der Geburt Jesu beim Besuch ihrer Schwägerin in den Mund gelegt wird - moderne Klassik mit artigen Verbeugungen vor Johann Sebastian Bach, aber auch mit viel Tango, weil Palmeri aus Buenos Aires stammt, und etwas neuer Musik. Anspruchsvoll, doch für Amateure gerade noch zu schaffen, wenn sie Unterstützung durch gute Dirigenten und ein gutes Orchester haben.
Der Text erzählt von Mariens Freude über die baldige Ankunft des Erlösers, den das von Rom unterworfenes Volk Israel damals ganz aktuell und politisch verstand. Die Musik greift den Jubel über die Größe Gottes auf und die Macht einer Vision: Gott, der Tyrannen mit seiner Macht vom Thron stößt, den Freudentanz der Armen und Hungernden, denen er die Taschen füllt, während die Reichen leer ausgehen. Man hört Glaube, Liebe, Hoffnung und Dankbarkeit. Man hört auch den Zorn des Gerechten über all das, was auch heute so entsetzlich schief läuft: Unterdrückung, Missbrauch und Gewalt gegen Frauen, die Verachtung, Diskriminierung und Ausbeutung so vieler einfacher Leute durch so wenige. All die modernen Formen von Sklaverei, Grausamkeit und Barbarei. Man hört die Hoffnung klingen, dass dies alles einmal endet. Vielen Dank für so ein Publikum und ein solches Lob, Christa van Winsen: Genau so einen Raum für Worte und Musik hatten wir im Sinn, und wenn wir dazu beitragen durften, ist das unser schönstes Weihnachtsgeschenk!

Freitag, 14. Dezember 2018

Aus Russlands Tiefen: Currentzis dirigiert Schnittke und Tschaikowsky

Teodor Currentzis hat gestern sein zweites Abonnementkonzert mit "seinem" SWR Symphonieorchester gegeben. Der große Beethovensaal der Liederhalle war bis zum letzten Platz ausverkauft, und schon vor dem Konzert war auf der Bühne und im Publikum eine ungewöhnliche Mischung aus Konzentration, Anspannung und freudiger Erwartung zu spüren. Auf dem Programm standen das Konzert für Viola und Orchester von Alfred Schnittke (geboren 1934 in Engels, Hauptstadt der einstigen Republik der Wolgadeutschen in der UdSSR, gestorben 1998 in Hamburg) und nach der Pause die Sinfonie Nr. 5 e-Moll von Peter Tschaikowsky (der 1840 in Komso-Wotkins am Ural geboren wurde und 1893 in St. Petersburg starb). Zu hören war also ein Stück geistiger Heimat des Dirigenten: Musik aus den Tiefen Russlands am Neckar, die doch so deutsch klang wie nur irgend etwas. Vielleicht, weil sie weder das eine noch das andere ist, sondern einfach zur Weltsprache Musik gehört? Vielleicht auch, weil Tschaikowski ein russischer Klassiker ist und Schnittke ein Vertreter der klassischen Moderne. Sicher aber auch wegen einer Gemeinsamkeit, die Melancholie heißt und sich in dunklen Streichergrundierungen ausdrückt.


Schnittke ist nicht mein Lieblingskomponist, aber er verstand sein Handwerk. Viele Geiger lieben ihn. Wundervolle Melodien bilden kleine Inseln in einem wilden Meer aus schrillen, stark rhythmisierten Intervallen und krachenden Tutti. Sein Konzert für Viola und Orchester findet ganz ohne Geigen statt. Ein großartiger Solist für die Kombination aus lyrischen Melodien und ebenso kraftvollen wie endlosen Stakkato-Passagen ist Antoine Tamestit, der eine Stradivari aus dem Jahr 1672 spielt. Der französische Bratschist wurde 1979 geboren und studierte in Paris bei Jean Sulem. In Yale war er Schüler bei Jesse Levine und beim Tokyo String Quartet, bevor er seine Studien bei Tabea Zimmermann in Berlin fortsetzte. Seit dem Jahr 2000 stürmt er die großen internationalen Bühnen als Solist und Kammermusiker - technisch brillant, sehr ausdrucksstark, extrem beweglich und mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht. Ein Abräumer, ein Star, ein Virtuose, der von Bach bis zur zeitgenössischen Musik alles liebt, was gut und schwer ist. Ein großer kleiner Mann, der sich mit dem schlacksigen Maestro blendend verstand.

Als Currentzis sich vor der Pause bei seinen Musikern bedankte, hatte er schon das erste Hemd durchgeschwitzt. Er gibt anscheinend immer 150 Prozent, und das animiert wohl das Orchester, ihm nachzueifern. Die Menschen lieben ihn dafür. Da entsteht also ein Kult, und die Gründe dafür sind hier offen zu besichtigen. Es ist nicht nur diese bedingungslose Hingabe an die Musik, die den Mann auszeichnet, dem der Ruf vorauseilt, ein Asket zu sein, ein Perfektionist, gar ein "Probenmonster". Es ist auch sein unverstelltes Bekenntnis zu Gefühlen, seine Unbedingtheit und seine Fähigkeit, andere zu begeistern. Er strahlt.

Ich habe schon viele Konzerte gehört, aber noch keinen Dirigenten erlebt, der sich beim Publikum dafür bedankt, dass er Musik mit ihm teilen darf - ganz unprätentiös und ohne jedes Gehabe.
So kommt es vor, dass man unversehens unbekannte Ufer betritt (kein "Betreten verboten"!) Bis jetzt hat Currentzis in jedem der drei Konzerte, in denen ich ihn erleben konnte, etwas Besonderes getan, etwas Verrücktes und Schönes. Diesmal war es als Zugabe das Streichquartett Nr. 8 von Dmitri Schostakowitsch im Silcher-Saal, der leider nur gut 300 Plätze hat und längst nicht alle Interessenten fassen konnte. Die Leute standen bei Minusgraden bis auf die Straße, um dabei zu sein (Wir sind zu alt für so ein Gedränge und haben es nicht geschafft). So lockt man die Jungen, die in Scharen kamen und das Durchschnittsalter der Stuttgarter Abonnementkonzerte drastisch gedrückt haben. Sag ich mal so ungeschützt, ganz ohne Umfrage. Von solchen Konzerterlebnissen erzählt man noch seinen Enkeln. Damit lassen sich sogar sibirische Kälte und Depressionen überwinden oder wenigstens ertragen. Sie verehren ihn wie einen Rockstar. Sie bringen ihm Blumen, wie in Russland üblich. Vielleicht will er auch bloß kein sinfonischer Messias sein - und erst recht weder ein Rattenfänger noch ein Rasputin.

Imre Török VS-Ehrenvorsitzender in Stuttgart


Beim traditionellen Schriftstelleressen in Stuttgart (auf Einladung des OB), mit dem ebenfalls traditionsgemäß die Mitgliederversammlung des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) in Baden-Württemberg verbunden war, erhielt Imre Török am 24. November von seiner Nachfolgerin, der Vorsitzenden Christine Lehmann, die Urkunde eines Ehrenvorsitzenden. Die hängt nun in seinem neuen Heim in dem kleinen Ort mit dem schönen Namen "Ewigkeit", den er sich als kreativen Ruhesitz ausgesucht hat. Imre war nicht nur lange Zeit VS-Landesvorsitzender, sondern auch bis zur Selbstaufopferung als Vorsitzender und Mitglied im Bundesvorstand aktiv. Mit großer Sorge beobachtete er er die Lage seiner Kollegen im Machtbereich Viktor Orbans und seiner verfolgten Freunde in der Türkei und berichtete von seinen Reisen.
Imre Török, 1949 in Eger (Ungarn) geboren, arbeitete unermüdlich, selbstlos, still und effizient. Abgesehen davon, dass Imre aufgrund seiner Herkunft als Musterfall einer gelungenen Integration gelten darf (auch sein sein Jüngster Roman, "Die Königin von Ägypten in Berlin", erschien selbstverständlich in deutscher Sprache, die er mit unnachahmlichem Charme durch einen typischen KuK-Akzent verschönert), hat er neben seinem Engagement in der Berufspolitik zahlreiche lesenswerte Bücher geschrieben. Ich habe die Ehre, mit ihm gemeinsam zwischen den Buchdeckeln einiger Anthologien und Ausgaben der württembergischen Literaturzeitschrift EXEMPLA vertreten zu sein. Ein ausgesprochen unterhaltsamer, treuer und lieber Freund und Kollege!
Zuvor hatte Christine Lehmann die allgemeine Lage und Verantwortung der Schriftsteller im Kampf für die Freiheit des Wortes beschrieben. Nachdenklich aufmerksam lauschten die Kolleginnen und Kollegen. Ort des Treffens: Die Geißstraße 7, wo 1994 eine siebenköpfige türkische Familie durch einen Brandanschlag ums Leben kam. So sah es aus, unser schwäbisches Mölln oder Rostock-Lichtenhagen. Aber wir erinnern uns. Der Hass kam leider nicht erst durch die AfD nach Stuttgart. Das Haus wurde restauriert und dient als interkulturelle Begegnungsstätte. Im Obergeschoss logiert der Verein Geißstraße 7, der sie betreibt und Kulturprogramm macht. Außerdem gibts im Erdgeschoss eine gemütliche Kneipe mit ausgezeichneter Küche. Auch deshalb sind wir so gern hier...