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Donnerstag, 29. Mai 2008

Startenor José Cura ist wieder da

Vor einer umjubelten Operngala mit "Carmen" von Georges Bizet im Badischen Staatstheater Karlsruhe am 24. Mai hatte ich Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Startenor José Cura. Der Argentinier war seit dem Jahr 2000 so gut wie nicht mehr öffentlich aufgetreten und erst in dieser Saison in Zürich, Barcelona und Madrid mit einem furiosen Comeback zu erleben. Nachdem die Fachzeitschrift "Opernglas" ihm ein großes Porträt gewidmet hatte, lud ihn der Karlsruher Intendant Achim Thorwald zu "Tosca" ein - noch ein Riesenerfolg.
Jetzt hat er mit dem Badischen Staatstheater einen Dreijahres-Vertrag über eine engere Zusammenarbeit geschlossen. Dabei hatte Thorwald, selbst ein ausgebildeter Bass, Regisseur und Autor, die Vielseitigkeit Curas im Auge: Kaum jemand weiß nämlich, dass Cura Regie führte und eine Schauspiel-Ausbildung machte, bevor er überhaupt anfing zu singen. Nach einem Absturz Ende der 90er Jahre, als er einfach zu viel gemacht hatte und in eine ähnliche Krise kam wie voriges Jahr sein Kollege Rolando Villazón aus Mexiko, machte er außerdem eine zusätzliche Ausbildung als Dirigent.

Jetzt will er weniger singen, klug mit seinen stimmlichen Kräften haushalten und stattdessen mehr inszenieren und dirigieren. Da haben sich in Karlsruhe offensichtlich verwandte Seelen gefunden. Auf dem Programm für 2009 steht der Opernball mit "Viva Espana" und "Don Carlos" sowie "Otello". 2010 folgt dann Curas Paraderolle in "Samson et Delila", begleitet von Regiearbeiten und einer neuen "Carmen".
Interessant ist vor allem, wie sich Cura gegen eine zerstörerische Vermarktung durch große Labels wie Decca oder die Deutsche Grammophon wehrt: Er hat keine Agentur mehr, sondern vermarktet sich über ein eigenes Sekretariat selbst. So kann er falsche Engagements, überfüllte Terminkalender und erpresserische Rollen-"Zuteilungen" bei Opernengagements durch die Plattenindustrie vermeiden, die seine Stimme fast ruiniert hätten. Derzeit gibt es nur wenige CDs von ihm, weil die "Großen" ihn rücksichtslos aus dem Sortiment geworfen haben. Aber auch die Kleinen Labels waren kurz davor, seine CDs zu verramschen. Deshalb bekommt man sie derzeit für ein Spottgeld für 9-12 EURO. Dem Stuttgarter Fachgeschäft "Einklang" rennen die Fans die Türen ein, weil sonst fast niemand größere Bestände von Cura-CDs auf Lager hatte. Jetzt pressen die kleinen Labels nach und die Großen gucken in die Röhre - selber schuld! Ich bin doch sehr gespannt, ob dieses Beispiel bei anderen Stars wie Rolando Villazón, Anna Netrebko (nach ihrer Babypause) und Juan Diego Flores Schule macht. Vielleicht lernt auch die Musikindustrie endlich, dass große Künstler nicht zum Verheizen da sind.
Ich konnte Cura ausgiebig interviewen, aber der Text ist noch nicht übersetzt. Derzeit komme ich noch nicht dazu, denn nach meinem wohlverdienten Urlaub sind erst einmal Produktionen über Rauris und die literarischen Cafés von Madrid an der Reihe. Vielleicht kommt das Cura-Interview dann zeitgleich mit einer Audioversion in meinem Podcast unter widmar-puhl.podspot.de.

Schwarzer Krimi aus Katalonien

SWR2 Buchkritik

Pablo Tusset: „Im Namen des Schweins“. Roman

Roman“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M., 565 S., 19,90 €
© Widmar Puhl (Länge: 4´30)
Hauptkommissar Pujol aus Barcelona soll kurz vor der Rente noch einen unappetitlichen Mordfall aufklären: Die örtliche Polizei eines abgelegenen Pyrenäentals hat im noch abgelegeneren Schlachthof die fachgerecht zerlegte Leiche einer Frau gefunden. Kopf und Hände liegen in einer Plastikschale, und im Mund steckt ein Zettel mit der Aufschrift:
IM NAMEN DES SCHWEINS. So der ungewöhnliche Titel eines ungewöhnlichen Kriminalromans des Katalanen Pablo Tusset. Der Kommissar kommt nicht recht weiter; sein Problem und das eigentliche Thema des Buches sind Menschen, die ein bösartiges System aufrecht erhalten. Sie decken einen Mörder, weil sie davon auf ganz legale Weise profitieren. Zitat:
Es sind die Leute, die eine lange Spur an Demütigungen und verletzten Gefühlen hinter sich herziehen, die aber niemand zur Anzeige bringen kann, weil sie nie das Gesetz übertreten. Obwohl sie unsere basalen Vorstellungen von Menschlichkeit mit Füßen treten. Womöglich ist es also nur ein Prozent der Bevölkerung, denkt der Kommissar, das die restlichen 99 Prozent dazu zwingt, im Leben den anderen Menschen zu misstrauen. Mehr noch: Durch sie wird jede Form der Utopie unrealistisch. Zumindest, wenn sie auf der Voraussetzung beruht, dass der Mensch gut sei.
Hier kommt das berühmte Triptychon „Der Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch ins Spiel. Dessen „Paradies“ zeigt auch die Vertreibung daraus; seine „Welt“ steckt voller Dämonen und seine Hölle voller angeblich guter Menschen. Wie bei Bosch ist bei Tusset nichts nur so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Daher tragen seine Kapitel und Schauplätze die Titel der drei Teile des Gemäldes: Die „Welt“ ist Barcelona, wo Kommissar Pujol die Ermittlungen leitet, das „Paradies“ New York, wo sein Assistent und Ziehsohn „P“ eine scheinbar unschuldige Liebesgeschichte erlebt. Doch schon in dieser Parellhandlung zeigt P eine dunkle gewalttätige Seite und schlägt einen Betrunkenen grundlos zusammen.
„In der Hölle“ schließlich ist die nähere Umgebung des Tatorts: Ein düsteres, isoliertes Pyrenäendorf ohne Kinder und voller kaputter Typen. Die Graue Eminenz, die ohne Gesicht und Namen bleibt, ist der einzige Arbeitgeber hier: der Besitzer des Schlachthofes und aller Kneipen. Er fährt einen Porsche mit goldenen Felgen und schreibt seltsame Gedichte.
Eines stand kurz vor der Tat in der Zeitung und beschreibt ein Menschenopfer. Der unvollständige Schluss-Vers, das findet der Kommissar heraus, würde komplett durch die Worte „im Namen des Schweins“. Das Schwein steht in Spanien für den Teufel. Der so genannte „Besitzer“ ist also mehr als verdächtig. Doch Pujol fehlen Beweise. Um die Mauer des Schweigens im Dorf zu durchbrechen, lässt er sich überreden, P, frisch aus New York zurück als verdeckten Ermittler einzuschleusen.
Der Motor wird beim Heranfahren an das mit Farbe verschmierte Straßenschild gedrosselt: San Juan del Horlá. Die Straßenlaternen beleuchten die feuchten Hausfassaden. Sie biegen in ein langes, abschüssiges Gässchen, drehen und halten an. Ein Seufzen des Motors ist zu hören. Der Busfahrer fragt mit lauter Stimme P, der noch in seinem Sitz hängt: „Sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber mit mir zurückfahren wollen?“
P steht auf und antwortet: „Danke schön: Ich habe einen Knoblauchzopf im Gepäck…“
Der transsylvanische Kutscher lacht. Man hört das Knarren der sich öffnenden Türen und P steigt mit seiner Tasche in der Hand aus.
Langsam gewinnt der verdeckte Ermittler das Vertrauen der Dorfbewohner und wechselt dabei mehr und mehr die Seite. Als er eine Prostituierte erschlägt, kommt es zu keiner Anzeige. Der „Besitzer“ deckt ihn offenbar als jemanden, der ihm noch nützlich werden kann. In geradezu kafkaesker Verschiebung des Blickwinkels entwickelt sich eine Geschichte der Korruption.
Kommissar Pujol ahnt nichts, geht fröhlich in den Ruhestand und stirbt bei einem blöden Verkehrsunfall. Wegen des Mordes im Schlachthof werden nur ein paar Schläger verhaftet, mit denen P einmal Ärger hatte. Der Hauptverdächtige wird nicht einmal verhört.
Dichte Atmosphäre, Lokalkolorit, brutaler Realismus und eine Prise Humor zeichnen diesen Roman aus. Für einen Krimi bleiben zu viele Motive unklar, aber gerade das ist ja im Leben öfter so: Die meiste Menschen wissen nicht so genau, was alles in ihnen steckt. Und dass immer die Guten gewinnen, das gibt´s ja doch bloß im Märchen.
Dieses Buch bürstet Klischees innerhalb der Gattung „Krimi“ einfallsreich gegen den Strich, ohne zynisch zu werden. Beste Unterhaltung auf hohem Niveau: Das ist belebend ungewöhnlich.

Montag, 5. Mai 2008

Was treibt der Kerl eigentlich so lange?

Seit Februar bin ich öfter in Verzug geraten mit der Aktualisierung dieses Blogs. Es war einfach zu viel los. Erst musste ich die Reportage "40 Tonnen Freiheit - aus dem Leben eines Fernfahrers" fertig produzieren, die heute bei SWR2 "Leben" gesendet wird. Dann war ich im März bei den Rauriser Literaturtagen, über die ich noch etwas mehr verspreche - aber mit Zeit. Derweil das eine oder andere Foto, das auch einen Eindruck vermittelt von einem Literaturfestival in den Österreichischen Tauern, 900 Meter hoch in einem Dorf mit 1800 Einwohnern, von denen sich ungewöhnlich viele für Literatur und Autoren begeistern. Sogar ein Friseursalon dekoriert sein Schaufenster mit Büchern und startet die Aktion "Lesen beim Friseur" mit den Titeln der eingeladenen Dichter. Wenn die im Gasthof Grimming oder schräg gegenüber im "Platzwirt" auftreten, kommen bis zu 600 Leute! 5 Tage lang lesen bekannte und unbekannte Schriftsteller aus ihren Büchern und Manuskripten - ein echtes Literaturfest.

Da zischt zwar mal der Bierhahn in die Poesie oder klappern Messer und Gabel hungriger Zuhörer, aber die Atmosphäre ist einmalig autenthisch. Im Publikum vertreten sind die Einwohner des Rauriser Tals, aber auch Zugereiste aus dem ganzen Salzburger Land, Studenten und ihre Professoren aus Innsbruck, Salzburg und - man höre und staune - Klagenfurt, wo man meinen könnte, alles konzentriert sich auf den telegenen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Dazu kommen gelegentlich Skitouristen, die einfach neugierig werden und hängen bleiben, vor allem abends. Die Autoren selbst schätzen die intime Atmosphäre und die persönlichen Begegnungen untereinander und mit Verlegern, Journalisten und - tatsächlich - Lesern. Und die Veranstaltungen finden in allen Gasthäusern von Rauris statt, nicht nur im Grumming und im Platzwirt, die ich hier stellvertretend für alle nenne.

Gespräche mit Bauern oder Handwerkern bei so genannten "Störlesungen" (Stör ist ein österreichischer Ausdruck für das, was man bei uns "Walz" nennt: Wandernde Handwerker und Hausierer kamen früher auf die Bergbauernhöfe; heute, im Zeitalter der Supermärkte und der allrad-motorisierten Landbevölkerung sind es eben Dichter, die auf Hausbesuch kommen) sind denn auch das Wichtigste hier, wenn auch NICHT Teil des offiziellen Programms.

Eine solche Lesung fand sogar in 1475 m Höhe in einer zur Skihütte umgebauten Alm statt.Der Betreiber und Inhaber einer Gondelbahn bugsierte Künstler und Publikum gratis nach oben und lud dann auch noch alle zum Essen ein! Wo bitte gibt´s das sonst?

Draußen war noch echter Winter, aber auch eine Gelegenheit zum Rauchen. Drinnen war´s gemütlich nach der Definition "Gemütlichkeit ist der Mangel an Licht, Luft und Platz". Schön war´s aber trotzdem. Nur brauche ich für das Bearbeiten meiner Tonausbeute noch Zeit. Dafür werden viele schöne "Reste" bleiben, die dann in meinem Podcast auftauchen.

Erst einmal musste alles liegen bleiben, denn die nächste Dienstreise zu Recherchen stand bevor: Für ein Feature über "Die literarischen Cafés von Madrid".


Wie sehr diese Einrichtungen sich von Wiener Caféhausromantik unterscheiden, zeigen schon ein paar Fotos.

Das erste ist eine Außenaufnahme des "Circulo de Bellas Artes": ein Art-Deco-Bau mit Theater, Ausstellungsräumen, Musik- und Vortragssälen, Verlag, Radiosender, Buchhandlung und Kino.

Das Ganze ist ein direktes Erbe der Aufklärung, denn vor 200 Jahren wurde dieser Zirkel gegründet - ähnlich wie das "Ateneo" mit seiner unglaublichen Bibliothek von 500 000 Bänden, die bis auf 6 Feiertage täglich von 8 bis 24 Uhr geöffnet ist.

Das dazugehörige Programm im "Circulo" beschäftigt 140 Angestellte - ein Unternehmen in Sachen Kultur, gänzlich privat, aber staatlich bezuschusst. Im Erdgeschoss (hinter der Markise) ein Café, in dem man auch preiswert und gut essen kann.



Die besondere Attraktion im Café des "Bellas Artes" ist eine nackte Marmorschönheit mitten im Saal, die manche Gäste ganz schön vom Essen ablenkt und immer Gesprächsstoff liefert.

Damit dies hier nicht geschieht, wähle ich eine Aufnahme in der Totalen, die wenigstens den Art-Deco-Raum als Ganzes zeigt. Die Atmosphäre ist auch hier schon sehr speziell. Und in Madrids Innenstadt kann man sonst nicht für 11,50 € ein Zweigänge-Menü mit Mineralwasser und abschließendem Kaffee inklusive bekommen.

Madrid war kalt Anfang April, saukalt auf Deutsch. Deshalb habe ich jede Gelgenheit genutzt, mich aufzuwärmen, und das "Bellas Artes" wurde aus Kostengründen mein Stammlokal in dieser Woche.


Eine andere wichtige Station war das "Grán Café Gijón" - gut über 100 Jahre alt und ebenfalls ein echter Künstlertreff, aber völlig anders. Vergleichsweise eng und teuer, zieht es immer noch Literaten und Maler an, aber auch Touristen, und die verderben die Preise. Aber hier gibt es öffentlich zugängliche "Tertulias", wie man die Lese- und Diskussionszirkel von Literaten, Künstlern und überhaupt Intellektuellen in Spanien traditionell nennt. Das ist im "Café Comercial" oder im "Ateneo" weit schwieriger, weil man da erst Mitglied werden muss, um dabei sein zu können.

Um diesen Bericht nicht ausufern zu lassen, nur noch zwei Fotos:

Diele und Treppenhaus des "Ateneo", das leider total unfotogen in einer engen Altstadtgasse liegt und von außen weniger als nichts hermacht. Das "Café" ist hier eine eher lieblose Cafetería im Keller, aber preiswert - und man darf rauchen.









Das Café Comercial ist eher nüchtern, weniger pompös, aber ebenfalls über 100 Jahre alt und ein Hort der Tradition. Nur ist man hier nicht auf Schöngeister festgenagelt. Die nahe Universität mit der Juristischen Fakultät und viele Journalisten aus benachbarten Redaktionen gehen hier ein und aus. Das sorgt für Abwechslung.

Nun muss ich das alles erst einmal verarbeiten und im Falle Madrids auch übersetzen, um meine Sendungen produzieren zu können. Also bitte ich um Verständnis und Geduld: Hier wird´s vorerst nur Kleinkram geben.

Aber auch der kann ja recht kurzweilig sein und soll nicht fehlen. Von meinem zweiten PEN-Club-Treffen in Glurns gibt es nicht viel zu erzählen, es war schon nicht mehr so neun und durch bessere Kenntnis der Kollegen auch mehr privat - freundschaftlich eben. Und jetzt zerrt der Alltag mit Macht an mir.

Psychologisch interessante SF

SWR2 Journal Buchtipp
Peter Watts: „Blindflug“
Heyne Verlag, München, 494 Seiten, 8,95 €.

„Blindflug“ ist ein ungewöhnlicher Roman, den der kanadische Unterwasserbiologe Peter Watts geschrieben hat. Es ist ein preiswerter, dicker Taschenbuch-Schinken aus der Unterhaltungsmaschiene des Heyne-Verlags und auch wissenschaftlich interessant.

Stellen Sie sich vor, rätselhafte Signale vom Rand unseres Sonnensystems erregen bei den Hochposten der NATO den Verdacht, dass da intelligente Lebewesen an der Tür klingeln. Das Raumschiff Theseus erhält den Auftrag, die Quelle der Signale zu erkunden und möglichst Kontakt zu suchen. Stellen Sie sich außerdem vor, die Besatzung besteht nicht aus normalen Menschen. Man hofft, das erhöhe die Fähigkeit, dem absolut Fremdartigen gegenüberzutreten. An Bord sind gentechnisch veränderte und multiple Persönlichkeiten, eine pazifistische Karrieresoldatin und ein Biologe, der Ultraschall hören, Infrarot sehen und Chemikalien schmecken kann. Erzähler der Geschichte ist ein Epileptiker, dem eine Hirnhälfte weg operiert wurde:

Ich bin die Brücke zwischen den Vorreitern der Gesellschaft und dem toten Punkt in ihrer Mitte. Ich stehe zwischen dem Zauberer von Oz und dem Mann hinter dem Vorhang. Ich BIN der Vorhang... Schon immer hat es Menschen gegeben, deren Aufgabe es war, Informationsstrukturen wiederzugeben, bislang waren sie aber nicht dafür zuständig gewesen, sie auch zu deuten. Mit dem neuen Jahrtausend ändert sich das... Offiziell nennt man mich einen Synthesisten. Auf der Straße werde ich auch als Jargonaut oder Poppy bezeichnet. Wissenschaftler, deren mühsam erworbene Erkenntnisse im Auftrag mächtiger Hohlköpfe, die nur an Marktanteilen interessiert sind, durch die Mangel gedreht und verfälscht wurden, bezeichnen mich auch als Spion oder Anstandsdame.

Der Roman „Blindflug“ beschreibt eine Begegnung einander physisch und psychisch völlig fremder Lebensformen. Was die Theseus findet, ist ein fast mondgroßer Himmelskörper aus Chitin und Aminosäuren, mit einer Methanatmosphäre und starken Gewitter-Aktivitäten. Das Ding funkt sie auf Englisch an und nennt sich Rorschach:

HALLO THESEUS: WILLKOMMEN IN DER NACHBAR-SCHAFT. Bitte um Erlaubnis für den Anflug, sendete die Gang. Einfach und direkt: nur Fakten und Daten, die so wenig Raum wie möglich für Zweideutigkeiten und Missverständnisse boten. Sentimentalitäten wie Wir kommen in Frieden konnten warten. Eine Begrüßung war nicht der richtige Augenblick für kulturellen Austausch. BLEIBT LIEBER WEG. IM ERNST. HIER IST ES GEFÄHRLICH. Erbitte Informationen über Gefahr, sendete die Gang zurück. ZU NAH UND GEFÄHRLICH FÜR EUCH. TÖDLICHE UMGEBUNG. GESTEINSBROCKEN UND STRAHLUNG.

Natürlich hört die Besatzung nicht auf solche Warnungen, und der Erstkontakt endet in einer Katastrophe, die nur der Erzähler überlebt und während seiner Flucht im Beiboot aufzeichnet. Rorschach ist ein Habitat für große Mikroben, die den Schlangensternen in irdischen Meeren ähneln und nur kollektiv Intelligenz bilden. Offen bleibt, ob Rorschach ein Nest maschinell hergestellter Lebewesen oder eine biologische Maschine darstellt, ob sie friedlich oder aggressiv ist. Denn die Besatzung der Theseus folgt letztlich doch menschlichen Verhaltensmustern, indem sie, bildlich gesprochen, mit dem Streichholz in den Tank hinein leuchtet.

Peter Watts lebt in Toronto und ist Unterwasserbiologe: eine gute Voraussetzung für das Erfinden von Aliens, denn in der Tiefsee lebt schon genug Fremdartiges. Sein Roman ist aber nicht bloß Erfindung und spannende Unterhaltung, er hat auch einen interessanten wissenschaftlichen Anhang: ausführliche Literaturhinweise über Anatomie, Gentechnik, Hirnforschung, Sinnestäuschungen, Bewusstsein und Kommunikationsforschung. Das Buch fragt nach den Grenzen der Erkenntnisfähigkeit und regt an zum Nachdenken darüber, was Intelligenz überhaupt ist. Wohl deshalb wurde der Autor nominiert für den Hugo Gernsback Preis – für Eingeweihte so etwas wie der Nobelpreis der Science Fiction.

Sonntag, 4. Mai 2008

Mein Premiere als Hörbuchkritiker

SWR2 Journal Hörbuchtipp

Frank Schätzing: „Ein Zeichen der Liebe“

Frank Schätzing ist einer jener Bestseller-Autoren, die von der Literaturkritik gern etwas abschätzig oder wenigstens misstrauisch beäugt werden: Kommunikationswissenschaftler, Werbefachmann, Musiker. Schließlich hat sein Science-Fircion-Thriller „Der Schwarm“ Rekordauflagen auch in den USA erzielt, und so etwas ist allemal verdächtig. Schätzings eigentliches Steckenpferd aber sind Krimis. Immerhin hat er 2005 den Deutschen Krimipreis bekommen. Der hörverlag hat jetzt eine CD mit dem neuen Krimi „Ein Zeichen der Liebe“ herausgebracht, gelesen von Jan Josef Liefers, erschienen beim hörverlag, München, 14,95 EURO.

„Ein Zeichen der Liebe“ bietet neben Spannung, wie man sie von einem Krimi erwartet, auch Humor, eine Spur Erotik und eine gute Portion Menschenkenntnis.

Es ist eine Geschichte aus dem Sektenmilieu, die aber gar nicht in einer Sekte spielt, sondern in einem großen Kölner Krankenhaus. Und sie kommt mit bloß zwei Personen aus: Dem Chefarzt und einer jungen Psychologin.

Sie ist hübsch und frech und genau das Richtige für einen Macho von Chefarzt, der mit seiner Arbeitet verheiratet ist. Deshalb bleibt er auch ohne Namen und übernimmt den Job des Ich-Erzählers gleich mit. Die beiden sind sich gleich sympathisch. Eines Tages behauptet Gretchen, im Krankenhaus gebe es einen Killer. Vor Jahren hat sie einen Serienmörder verfolgt, der nie gefasst wurde. Alle Opfer waren Frauen, um die 40 und rothaarig. Hände und Lippen waren chirurgisch sauber entfernt, auf dem Körper trugen sie ein Zeichen: zwei konzentrische Kreise.

Gretchen ist überzeugt, das Zeichen in einem Rasierspiegel gesehen zu haben, als sie nachts auf der Suche nach etwas zu Trinken an einem Waschraum vorbei kam. Es ist das Symbol einer Sekte, der „Kirche der immanenten Liebe“.

Gretchen kann den Doktor überreden, zu testen, ob man so ein Symbol im Rasierspiegel des Waschraums überhaupt sehen kann. Sie hat Recht, man kann. Der nächste Schritt ist natürlich, dass die beiden dem Killer eine Falle stellen. Um Mitternacht legen sie sich auf die Lauer, um den Täter zu identifizieren. In der intimen Dunkelheit einer Besenkammer gegenüber dem fraglichen Waschraum empfinden sie Schauer von Grusel und Glück, die auch dem Hörer eine Gänsehaut machen.

Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten. Der wohlwollende, etwas arrogante Chefarzt, der sich widerstrebend in das nächtliche Abenteuer einer hübschen Patienten mit kriminalistischem Spürsinn hineinziehen lässt, ist eine Paraderolle für den Schauspieler Jan Josef Liefers. Gekonnt schwankend zwischen Sarkasmus und warmherziger Sympathie, Flirt und Geschlechterkampf spielt er beide Rollen mit einer, mit seiner Stimme.

Ein virtuoses Kammerspiel über die Abgründe der menschlichen Seele hat Schätzing da geschrieben, einen etwas anderen Arztroman, souverän gelesen von Jan Josef Liefers. Man kann sich dem Rat nur anschließen, den Gretchen ihrem Doktor in der Besenkammer gibt: "Paranoiker sind äußerlich kaum zu erkennen. Verlassen Sie sich besser nicht auf Ihre Menschenkenntnis. Es kann sein, dass unser Mörder ein kultivierter, freundlicher Zeitgenosse ist, der über Humor und ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden verfügt".


Reisen mit Büchern

SWR2 Buchkritik
Brita Steinwendtner: „Jeder Ort hat seinen Traum. Dichterlandschaften“.
Haymon Verlag, Innsbruck, 278 S., 19,90 €

Der englische Autor Bruce Chatwin starb 1989 an Aids. Sein Grab auf der Peloponnes ist einer der Orte, die Brita Steinwendtner in ihrem Buch beschreibt: „Jeder Ort hat seinen Traum. Dichterlandschaften“. Dem Leben und Werk Chatwins spürt die Salzburger Autorin dort nach, wo er zuweilen ausruhte und schrieb bei einem Freund, der ihn zuletzt auch pflegte. Und wo seine Asche begraben ist: am Nikolaus-Kirchlein von Chora. Immer dabei, auch in den Texten, als Gesprächspartner oder kritisches Korrektiv: Ihr Mann, der Fotograf Wolf Steinwendtner.

Muss man solche Details kennen? W. findet sie überflüssig. Ich möchte alles wissen, stelle es in zuneigende Distanz, weise den Vorwurf des Voyeurismus zurück und bin dennoch unsicher, wo die Grenze verläuft... Es ist ein verzauberter Flecken Erde. Die kleine byzantinische Kirche ist nur über einen verborgenen Weg zu finden. Sie stammt aus dem 12. Jahrhundert. Niedrig und erdfarben liegt sie wie mit dem Grund verwachsen da, sich aufrecht haltend vor der Welt. Sie steht auf einem Felsvorsprung, das Land wie ein Fächer zu Füßen gelegt. Das Gotteshaus ist versperrt, der Besitzer lebt in Athen. Besitzen kann man hier nichts.

Solche Sätze sind typisch dafür, wie Brita Steinwendtner Recherche, Beobachtung und Reflexion verknüpft. Sie schreibt über 13 viel gereiste Autoren des 20. Jahrhunderts, bis auf Bruce Chatwin Österreicher und Deutsche. Auf der Suche nach dem genius loci besucht sie die meisten zu Hause. Zum Beispiel in Italien. Dorthin zog es etwa Paul Wühr und Hartmut Lange. Der schwäbische Autor Veit Heinichen lebt und schreibt zwischen Duino und Triest. In dieser Region wo die Menschen in 100 Jahren sieben Mal die Nationalität und das politische System wechseln mussten, entstehen die Heinichen-Krimis von großer atmosphärischer und historischer Dichte.

In Rom ging die Autorin dem Leben des Prager Exilanten und Expressionisten Johannes Urzidil nach, gestorben 1970 im Österreichischen Kulturinstitut, begraben auf dem Campo Santo Teutonico in den Gärten des Vatikans.

Es ist ein stiller Ort, beschützt und eingeschüchtert von den fast fensterlosen, riesigen Flanken des Petersdoms, von den Türmen und fernen Kuppeln, die zum Himmel schweben. Hohe Pinien im Geviert, Palme, Blüten, süßer Duft von irgendwo. Grabplatten, Inschriften, Kreuze, hingeduckte Kirche, Bruderschaftsgebäude... Auf dem menschenübersäten Platz vor St. Peter liest Papst Benedikt XVI eine Messe, vervielfacht auf riesigen Videowalls. Gesang dringt her über die Kolonnaden, Mauern und Schweizer Garden, später die Chöre mit den Rufen nach Be-ne-detto, immer wieder Be-ne-detto. Der Rhythmus hat eine Silbe mehr als andere Heil-Rufe, die uns immer noch im Ohr klingen.

Vom Grab eines Dichters, den sie gerade entdeckt, blickt die Autorin auf die gespaltene Geschichte der ewigen Stadt, die so schön ist, so vital und so widersprüchlich. In Rom, wo Lebensfreude und Tod so nah beieinander liegen wie selten, lebte und starb auch Ingeborg Bachmann. Jeder dieser Essays stößt den Leser auf ein Stück Zuhause und Identität im Fremden.

Dem ersten, mediterranen Teil des Buches folgt ein alpiner. Da beschreibt Brita Steinwendtner das Wien von Ilse Aichinger, das Refugium des Dramatikers Peter Turrini im Weinviertel an der tschechischen Grenze, die Heimat der Islamwissenschaftlerin und Dichterin Barbara Frischmuth im Salzburger Land. Aus den Feriengebieten Österreichs und der Schweiz legt sie Fährten in alle Welt, mit so unterschiedlichen Autoren wie Christoph Ransmayr, Raoul Schrott oder Wolfgang Hildesheimer.
Steinwendtner öffnet eine neue Sicht auf Dichter, die jeder zu kennen glaubt, etwa Peter Handke in Paris und Salzburg. Sie öffnet den Blick für die Poesie von Namen und Orten, Tiere und Pflanzen inklusive. Poetisch weist sie auf die Faszination von Sprachen und Geschichten in bekannten Landschaften, durch die wir fast alle schon gefahren sind, ohne inne zu halten. Sie macht Lust auf eigene Entdeckungen. Mit diesem Buch werde ich noch viel unterwegs sein.