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Freitag, 2. Dezember 2022

Ein 695-Seiten-Wutanfall: Das Märchen von der Rettung der Welt

                                                          Sibylle Berg: RCE Remote Code Execution. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, 695 Seiten, 26,00 € 

Widerstand scheint zwecklos in einer Welt, die der Neoliberalismus umfassend verheert hat. Kapitalismus ist scheinbar alternativlos geworden, hat wenige absurd reich gemacht und fast allen ein menschenwürdiges Dasein genommen. Fast allen. Aber in einem Container auf einer Schweizer Bergwiese brennt noch Licht.

Die Stuttgarter Autorin Sibylle Berg lebt in Zürich, verfügt über einen messerscharfen analytischen Verstand, eine geschliffene Sprache, eine große Portion rabenschwarzen Humors und den technischen Sachverstand eines Computernerds. Dabei schont sie ihre Wahlheimat kein bisschen: "Die Leute waren zufrieden. Mit sich. Und hatten sich nichts vorzuwerfen. Vom ärmsten Flecken Europas zum reichsten Land der Erde in wenigen Generationen. Hut ab. Die EinwohnerInnen des Landes, das aus Zahnrädern und Gold errichtet war, fühlten sich immer im Recht. Also wie alle Menschen. Nur stärker. Sie konnten keine Fehler zugeben. Also auch wie alle Menschen, aber konsequenter." Ort der Handlung ist, wenn man das so sagen darf, ein Hochplateau mit viel Natur. Neuankömmling Maggie betrachtet die Idylle: "Den Brunnen, die Zikaden, Palmen und Vögel, die fast höflich leise kommunizierten, und sollte es hier Wildtiere geben, dann trugen sie sicher Pantoffeln." Am Waldrand nicht etwa ein Chalet, sondern ein paar abhörsichere Wohncontainer "unter den Bäumen, geschützt vor Drohnen und Helikoptern. Hoffentlich." 

Hier treffen sich fünf Hacker, um die Weltrettung zu programmieren: ein sich selbst ausführender Code (RCE) zur ferngesteuerten Zerstörung all dessen, was zum falschen System gehört: Frei nach Rio Reisers Vers "Macht kaputt, was Euch kaputt macht!" geht es Banken, Milliardären, Konzernen und Lobbyisten an den Kragen. Es ist der letzte Versuch. Und am Ende geht das große Ding gut aus. Der Code funktioniert. Grundbuchämter brennen, Armeen und Polizei haben plözlich nur noch Platzpatronen, Diktatoren und Rechtsradikale werden per Robotaxi auf Kreuzfahrtschiffe verbannt, die Banken müssen ohne Bargeld schließen, ein Großteíl digitaler und analoger Besitztitel lösen sich in Luft auf. Der hybride Krieg gegen das Volk mit Hilfe einer korrupten Justiz endet mangels Masse, Cloud und Tracking-App.

Sprachlich ist der Anakoluth (Zeilenbruch) Programm bei jedem Absatz und Kapitelanfang. Dazu ziemlich provokant-sinnlose Kurzbiographien für Opfer, Täter und Handelnde, die wie Profile von Überwachungsprogrammen wirken (sollen). Auch neben den Varianten von Satire, Sarkasmus, Lakonie und der eigenwilligen (hier jedoch durchaus sinnvollen!) Interpunktion fällt auf: eine Technik des Überspitzens, die sich etwa in der Charakteristik von Ben zeigt. Der spiritus rector der Gruppe wird beschrieben als jemand, der "aus zwei Metern und hundertzehn Kilo Fett, Muskeln und schlechter Laune" bestand. Die Entsorgung von Alten, Kranken und Schwachen als nicht-profitabel findet seine Entsprechung in diversen Methoden friedlicher bis gewalttätiger Entmietung, der Trennung von Mensch, Materie und Arbeit. Ganze Stadtteile wurden verkauft für "irgendwas. Ohne Menschen". Gern wird es auch wortschöpferisch: "codegesponserte Massenvereinsamung", "Massenablenkungswaffe Twitter" oder bei Unbotmäßigkeit "Entzug digitaler Vermögenswerte".

Sprache dient als Spiegel der Existenz: "Wenn Ben sich in Worten auflöste, hatte er kurzfristig das Gefühl, Zusammenhänge zu verstehen, die sonst in Codes zerlegt zu tausend Einzelproblemen wurden. Wenn er redete, dachte er, dass alles doch so klar und einfach sein müsse, wie Einsen und Nullen." Was natürlich bei Sibylle Berg auch das Schreiben einschließt. Sprache als Selbstvergewisserung oder die allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Sprechen (so der große Rhetoriker Walter Jens). Thematisiert wird einfach alles, was stinkt, und das ist eine große Menge und erklärt auch, warum man sich in diesem dicken Roman niemals langweilt. Die realen sozialen Kasten des Geld- und Blutadels, die sozialen Medien, die Plattformen zur algorithmengetriebenen Bereicherung, das Schul- und Bildungswesen, Amazon und Spotify, die Medizin und ihre Bertelsmann-Stiftung mit Hunderten von Privatkliniken, die steuerbegünstigten Thinktanks zum Zweck politischer Manipulation, Ressentiments und natürlich Politik und, und, und... Es ist ein Wutanfall über 695 Seiten. Es ist ein Märchen für große Kinder, weil´s gut ausgeht und so ein schöner Traum ist.

Die Verzwergung von Wirtschaft und Politik, die schließliche Herrschaft der Mittelmäßigen und schlussendlich die Diktatur der Gartenzwerge durch diese manipulativen Netzerke von Kapital und Politik, das ist ja alles zum Wahnsinnigwerden. Es ist zum Verzweifeln, und da hilft nur so ein Märchen, das gut ausgeht. Es ist aber keine Utopie und keine richtige Dystopie, denn die ganze Geschichte ist so nah am Hier und Heute entlang erzählt, dass sie zu 95 Prozent eben auch stimmt. Fast alles ist nachprüfbar in einem Glossar und oft mit weiterführender Literatur belegt. Dabei kann man richtig was lernen.


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