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Donnerstag, 30. Dezember 2021

Kleine deutsche Sprachkunde 1: "unverzichtbar" ist entbehrlich und dazu noch falsch

Die Welt kann auf das Unwort "unverzichtbar" verzichten. Das Verb "verzichten" kann kein persönliches Passiv bilden (genauer gesagt GAR keins. Ich kann nicht "unverzichten"). Es ist auch keine Eigenschaft, so dass man kein Eigenschaftswort (Adjektiv) daraus basteln kann. Es gibt den Verzicht, aber nicht den Unverzicht. Schade, dass es hingegen nicht nur den Verstand gibt, sondern auch den Unverstand. "Unverzichtbar" ist daher laut Grammatik eine falsche Wortbildung. Trotzdem wird dieser Unsinn seit Jahr und Tag denkfaul weiter verbreitet, obwohl es ein bedeutungsgleiches und korrekte Wort gibt: "unentbehrlich". Es war einfach schon früher da. Das macht es aber noch nicht altmodisch. Warum also nicht einfach darauf verzichten? Ich hasse es, meiner Muttersprache vollkommen unnötig weh zu tun.

Samstag, 18. Dezember 2021

Scheiß-Blase! Sasha Marianna Salzmann: "Im Menschen muss alles herrlich sein"

Sasha Marianna Salzmann: "Im Menschen muss alles herrlich sein",  Roman. Suhrkamp Verlag, 380 Seiten, 24 €

"Natürlich wollte ich wissen, was passiert ist", heißt es am Anfang des Romans, der gleich zeigt, dass die Verfasserin eine versierte Theaterautorin und Dramaturgin ist. Sie fährt fort: "Was überhaupt passiert ist, bevor Edi im Hof zusammengeschlagen wurde. Sie lag auf der Wiese, ihre Haare ganz bleich und schmutzig. Meine Mutter kniete neben ihr, Tante Lena brüllte die beiden zusammen." Ja, so könnte ein Theaterstück oder ein Film anfangen, vielleicht kommt das noch. Die Ich-Erzählerin Nina wird das aber so nicht erfahren, auch das warum und wieso wird nicht aufgelöst. Schnitt. Weiter geht es stattdessen nur in chaotischen Bruckstücken und Szenen, die Salzmann ebenfalls chaotisch in vier Lebensgeschichten erzählt. Dabei wechselt die Erzählperspektive, mal Ich, mal er/sie es, die Protagonistin (mal Mutter, mal Tochter) der Schauplatz, und selten kriegt der Leser auf Anhieb mit, wo er gerade ist und bei wem. 

Die Sprünge durch die Generationen, Chronologie, Orte und Personal sind ziemlich wild. Das hat Methode und nervt ein bisschen. Wie Onkel Lew mit seinen Konventionen (wessen Onkel, verdammt?), der Nina mit ihrer Mutter zur Fete in der Jüdischen Gemeinde lotst, natürlich im weißen Hemd kommt und erklärt, mit der eigenen Mutter breche man nicht, egal warum. Oder wie Nina das Verhalten der Mutter und ihrer Freundin  nervt: "Tante Lena fauchte meine Mutter an: Warum verheinlichst Du mir - weißt du nicht -?, und meine Mutter zurück: Es geht niemanden etwas an, wenn ich sterbe." Aha. Sie ist also todkrank und will heile Welt spielen.

Bis auf den blöden Titel hat Salzman aber mit ihrem Roman ein tolles Buch geschrieben: Die Geschichte von vier Frauen aus der Ukraine ist ein Genre-Bild aus der Blase russisch-jüdischer Emigranten in Berlin und anderswo in Deutschland. Die Freundinnen Lena und Tatjana und ihre Töchter Nina und Edi haben die schlimmsten Umbruchzeiten vor und nach der Perestroyka erlebt und doch sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht. Ihre Wege trennen sich irgendwann durch eine nicht synchronisierte Emigration. Tatjana und Nina sind in Jena gestrandet und haben noch einmal von vorne angefangen, was auch immer das heißen soll, und treffen erst bei Lenas fünfzigstem Geburtstag in Berlin wieder zusammen. Auch alte Bruchlinien und neue Verwerfungen zeigen sich.

Man lernt so einiges über den Blick von Menschen aus der jüdischen Gemeinde, die Mitte der Neunziger Jahre als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen. Da ist so viel russisch, aber auch so viel deutsch. Viele, vor allem die Älteren, haben sich nie integriert, hängen an alten Gewohnheiten,sind Jowjetmenschen gelieben, die zufällig jüdisch sind und gerade bei Familienfeiern rsgionale Bräuche oft nicht von religiösen Ritualen trennen oder miteinander vermengen. Einer lesbischen Punk-Frau, die mit all dem gebrochen hat, stellt sich dieses Leben als besonders skurril und bizarr dar, anders jedenfalls als einer Ärztin, einer Lehrerin oder einer Geschäftsfrau. Es zeigen sich auch unbelehrbar Erwartungshaltungen an Geschlechterrollen und die Enttäuschungen, für die das sorgt. 

Und es zeigt sich ein Grundproblem: Die Leute reden zu wenig miteinander, verschweigen alles Peinliche, Unangenehme, alles, was im Widerspruch zum eigenen Lebensentwurf oder Glück steht: Krankheit, Sucht, Isolation, Misserfolg werden verdrängt. "Die Leute schlossen die Augen, um sich in die Vergangenheit zurückzudenken und so lange Unwahrheiten zu erzählen, bis sie stimmten. Immer und immer wieder. Alle hatten sich auf eine Welt geeinigt, die draußen nicht mehr stattfand, und hoben darauf die Gläser."

Beim Feiern vergessen alle, dass und warum sie die Heimat verlassen haben, Armut, die Diktatur, die Korruption in der Sowjetunion, die sich auch unter Gorbatschow fortsetzte, die Pionierlager in den Sommerferien und das Studium in Dnjepropetrowsk, die geliebte Oma in Sotschi mit ihren Säcken voller Haselnüsse, die erbärmliche Hütte, in der sie lebte und starb, die Whiskyschmuggler auf der Krim, das Softeis auf der Strandpromenade. Für solche Erinnerungen findet die Autorin starke, eindrückliche Bilder. Das Leben war Scheiße, aber es wird glorifiziert. Umso krasser darum der Kontrast in Jena und Berlin: Auch hier scheitern Beziehungen, auch hier kein echtes Wurzelschlagen, sondern Fremdheit und Befremden, auch hier die gleichen Vorurteile und ewigen Diskussionen am heimischen Esstisch. "Meine Tochter wischt kein Erbrochenes von Krankenhausböden auf". 

Das gemeinsame Erbe in dieser Blase lässt die verschiedenen Geschichten und Orte der Handlung verschwimmen. Scheiß-Blase! möchte man rufen. Das Leben ist nun mal nicht herrlich und in den Menschen immer der gleiche Sack voller Scheiße. Mit "jüdisch" hat das überhaupt nichts zu tun.

Donnerstag, 16. Dezember 2021

Wie aus Freiheitshelden Staatsfeinde werden

Wie die Aasgeier setzen sie sich auf jede Katastrophe und schreien: "Der Staat versagt! Die Regierung kann es nicht!" Alle radikalen Impfgegner und Querdenker polemisieren gegen den "Staatsrundfunk", die verpflichtenden Rundfunkgebühren und die GEZ, weil das Teil des Märchens von der regierungshörigen "Lügenpresse" ist, mit dem ihr eigenes Lügengebäude steht und fällt. Sie wollen ja auch am Ende nicht "die Freiheit", sondern eine Diktatur, selbst wenn sie selbst oft nicht wissen, welche. Keine Diktatur kann mit einer freien Presse und kritischen Journalisten klarkommen. 

Quid pro quo: Das ist der erste Schritt für Minderheiten, um die Deutungshoheit an sich zu reißen, was natürlich mit sachlichen Argumenten, Wissenschaft und Fakten nicht gelingt. Da braucht es "alternative Fakten", Verschwörungs-Geraune und dergleichen. Wird der Unsinn nur oft genug wiederholt, obwohl er längst widerlegt ist, glauben erst sie selbst und dann auch die Massen daran. Donald Trump hat es vorgemacht und George Orwell bereits ab 1946 in seinen Romanen beschrieben ("1984", "Die Farm der Tiere").

Seltsam genug, dass dieses Hirn- und Staats-zerstörerische Virus resistent gegen alle Lernprozesse der Geschichte ist. Weder die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus oder dem real existierenden Sozialismus, noch die autoritären Herrscher von Russlend, Belarus, China, Brasilien oder Saudiarabien und die seltsamen Mischungen aus Populismus und Autokratie bei Boris Johnson, Polen unter Jarosław Kaczyński oder Viktor Orban in Ungarn haben sie von ihrem Wahn geheilt. Die Neue Rechte und ihr Vordenker, der Verleger Götz Kubitschek haben ihre Zentrale nicht zufällig im sächsischen Schnellroda, wo der braune Sumpf besonders aktiv ist und ihnen ein gutes Biotop bietet. Das alles kann man nachlesen in dem hervorragend recherchierten Buch "Die autoritäre Revolte" von Volker Weiß.

Vor allem deshalb ist es so gefährlich, den Anfängen nicht entschieden genug zu wehren. Nur schmerzhafte Geldstrafen oder der Gummiknüppel überzeugen, wo gutes Zureden und eine freundliche Ermahnung nur mit dem Stinkefinger oder Hohngelächter quittiert und Gesetze missachtet werden. Sowohl in Stuttgart, als auch in Berlin oder Sachsen ist die Polizei zunächst nicht gegen den organisierten und massenhaften Gesetzesbruch vorgegangen, weil es verfehlte politische Vorgaben so wollten. Gebetsmühlenartig haben Bürgermeister und Richter davon gefaselt, welch "hohes Gut" die Versammlungs- und Meinungsfreiheit im Grundgesetz sei, als ob wir keine Ahnung davon hätten. Ohne eine Abwägung mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu treffen. Auch die öffentliche Ordnung darf inzwischen gestört werden. Und jetzt haben wir den Salat. Nun meinen die Demonstranten, sie hätten das "Recht auf Widerstand", und radikalisieren sich ungestraft immer weiter. Die "wehrhafte Demokratie" wird da zum Papiertiger. Das hätten Politiker wissen MÜSSEN, die bloß Angst vor unpopulären Bildern von "Polizeigewalt" hatten oder gerade im Wahlkampf steckten und keine Stimmen von Rechts verlieren wollten.

Es ist irgendwas zwischen blauäugig und verrückt, juristisch auf die "Selbstheilingskräfte" des Systems oder die "Selbstreinigung" der Anwaltskammer zu setzen, so lange es nicht einmal deren Ehrengerichte schaffen, gewissen Anwälten die Zulassung zu entziehen. Es sind immer die selben (relativ wenigen) Personen, die AfD, NPD, Querdenker und andere rechte Gruppen beraten und vertreten. Sie sorgen für die Verbreitung aller schmutzigen Tricks, die es gibt, um die Staatsmacht auszumanövrieren, die Polizei ins Leere laufen zu lassen und die Justiz zu verhöhnen. Sie untergraben den Staat und laufen doch frei herum.

Telegram und sein Gründer und Alleinherrschr Pavel Durov sind ein Trauerspiel für sich. Einst geheiligt und für unantastbar erklärt, weil sich der Multimilliardär mit Putin anlegte, Russland verlassen musste und im Exil Telegram als Netzwerk und Organisationsplattform für Proteste gegen echte Diktaturen wie in Belarus schuf. In Russland folgen dem Unterstützer von Alexej Nawalny immer noch ca. 50 Millionen User. Doch inzwischen verabreden sich auch die Querdenker zu illegalen Corona-Parties und die "freien Sachsen" organisieren nicht nur ihre illegalen "Spaziergänge" aus Protest gegen die Corona-Auflagen. Neu ist jetzt: Schamlos instrumentalisieren sie den Kampf gegen die Pandemie. Sie tragen weder Masken noch halten sie Abstand. Die selbst ernannten Freiheitshelden und Verteidiger der Verfassung werden auch immer häufiger gewalttätig. Das geht bis zu offener Einschüchterung von Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern. Auf Telegram wurde auch zum Mord am sächsische Ministerpräsidenten Kretschmer konspiriert. Eine erste Razzia auf Anregung von Journlisten, die dokumentierten, was in einer Telegram-Chatgruppe geschah, förderte bereits Schusswaffen und konkrete Anschlagspläne zutage. 

Ok, es ist nicht einfach, diese Tarnkappenveranstaltung auffliegen zu lassen und ein paar Grundregeln zum Schutz der Dekokratie durchzusetzen. Telegram sitzt mit seinem Gründer in Doha (Vereinigte Arabische Emirate) und seine Macher sind vermutlich bestens vernetzt. Ihr fanatischer, einseitiger Freiheitswille respekt bisher kein Gesetz und keine Kontrolle. Doch wo bleibt der internationale politische Druck auf Interpol, Durov und die Behörden in Doha, dem Spuk ein Ende zu machen (den ich in seiner Schrankenlosigkeit anarchistisch und kriminell nennen möchte). Ich glaube kaum, dass ein AfD-Politiker als Vorsitzender im Innenausschuss des Deutschen Bundestages bereit wäre, die Demokratie vor Telegram zu schützen. Bei Pavel Durov und den Arabern am Golf ist aber Vertrauensseligkeit ebenso wenig angebracht wie bei Wladimir Putin oder Lukaschenko, der NSA oder Donald Trump oder selbst Alexej Nawalny. 

Telegram muss transparent werden: Welche Regeln sollte es geben und was sollten die Verantwortlichen tun, damit die Auswüchse aufhören? Wenn sie schwurbeln und dumme Ausreden vorbringen, muss der Druck erhöht werden. Wie das geht, ist bekannt. Zum Beispiel müssen die App-Stores von Google und Apple den Zugang zu Telegramm oder bestimmte Accounts sperren bzw. löschen, wenn sie für Straftaten missbraucht werden. Aber man muss es machen! Auch die Panama-Papers sind aufgeflogen oder der kriminelle Cyber-Bunker von Traben-Trarbach. Auch Durov wird nachgeben und Spielregeln akzeptieren müssen. Er hat das schon einmal getan, als die App-Stores (auf Betreiben Putins) drohten, Telegram zu sperren bzw. rauszuwerfen. Das war der Grund für Durovs Verkauf der ersten Plattform an einen Putin-Vertrauten und Durovs Weg ins Exil. Er hat weltweit 500 Millionen User bzw. Kunden; man muss ihm klar machen, dass er die verlieren könnte, wenn er nicht kooperiert.

Montag, 6. Dezember 2021

Preis für Europäische Verständigung für Karl-Markus Gaus

Über Karl-Myarkus Gaus habe ich hier schon oft und gern geschrieben. Nun ist er ins (Zeit-)Alter der großen Literaturpreise eingetreten. Der Wiener Zsolnyay Verlag gibt bekannt:

Karl-Markus Gauß wird mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022 ausgezeichnet. Hervorgehoben wird dabei sein 2020 bei Zsolnay erschienenes Buch  Die unaufhörliche Wanderung

In ihrer Preisbegründung formuliert die internationale Jury: »Seit mehr als vierzig Jahren nimmt dieser für seine stilistischen Feinheiten gelobte, jedes besserwisserische Pathos meidende Reisende die kulturellen Verluste (besonders in Südosteuropa) wahr und hält ihnen den historisch angehäuften tatsächlichen Reichtum entgegen. Er leistet die Arbeit eines Sisyphos, das heißt, er weiß auch, dass trotz aller Anstrengungen der mühsam auf den Berg geschleppte Stein wieder hinunterrollt. [...] Er schreibt auch umfangreiche Journale, die einen politisch wachen, parteipolitisch ungebundenen Zeitgenossen zeigen, der gottlob über so viel Ironie und Witz verfügt, dass man sich von ihm gerne in die Abgründe unserer Gesellschaft einführen lässt.«

Zsolnay-Verlagsleiter Herbert Ohrlinger, der die Bücher von Karl-Markus Gauß seit einem Vierteljahrhundert betreut, sagt dazu: »Karl-Markus Gauß ist nicht nur ein Schriftsteller, er ist viele auf einmal. In seinen Reisebüchern zeigt er uns Europa in seiner Vielfalt, in seinen Essays konfrontiert er uns mit uns selbst und unseren Traditionen, in seinen Journalen denkt er nach über das, was wir sind und wozu wir werden, in seinen Kritiken verführt er uns zu Neugier und setzt auf Wachsamkeit. Seine Bücher sind eine Quelle des Lichts in finsteren Zeiten. Sie verlegen zu dürfen ist ein Privileg.«

Die Preisverleihung an Karl-Markus Gauß wird anläßlich der Eröffnung der Leipziger Buchmesse am Abend des 16. März 2022 im Gewandhaus zu Leipzig stattfinden. Die Literaturkritikerin Daniela Strigl wird die Laudatio halten. 

Bereits am 14. Februar 2022 wird im Zsolnay Verlag Karl-Markus Gauß' neues Buch erscheinen: Die Jahreszeiten der Ewigkeit. Journal.

Ausführliche Informationen zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, den bisherigen Preisträgern, dem Kuratorium und der Jury sowie die vollständige Jurybegründung finden Sie hier.



Mittwoch, 3. November 2021

Statt einer Podiumsdiskussion, die anscheinend niemand führen will

Facebook, am 3.11.2021:

 
Ich bin ja grundsätzlich der Meinung, dass Verlage und Buchhandel heute überwiegend keine Literatur mehr verkaufen, sondern Prominenz. Schauspielerinnen und Schauspieler, die natürlich gut deklamieren und rezitieren können, nutzen das völlig schamlos aus und veranstalten immer mehr "szenische Lesungen". Ich bemerke auch in meiner Umgebung allgemeines Unverständnis für diese Situation. So tragen Schauspieler ohne jedes Schuldbewusstsein dazu bei, Autorinnen und Autoren um ihre Einkünfte zu bringen, indem sie den Lesezirkus und die Kalender mit ihren Terminen füllen. Darüber würde ich gern einmal ein Podiumsgespräch mit Betroffenen (auch Buchhändlern und Verlegern) führen. Auch Kritiker und Veranstalter, die manchmal Schauspieler für die besseren Autoren halten, würde ich dazu gern mal öffentlich hören. In einem Punkt haben sie nämlich Recht: Schauspieler können einen Text oder ein Buch wesentlich besser "verkaufen" als die meisten Autoren. Früher hat das niemanden gestört, heute gilt nur noch die Rampensau. Doch nicht jeder gute Autor ist eine solche. Ich finde es traurig, dass immer mehr Autoren von solchen Rampensäuen vom Futtertrog bezahlter Lesungen verdrängt werden. Die Stimme des Autors galt einmal als authentisches Element der Präsentation. Auch mit Nuscheln, Grammatikfehlern, Ähs und Hustern. Als ob man daran nicht arbeiten könnte. Wie seht Ihr das?

    Peter Jakobeit
    Nicht genauso. Aber ähnlich. Zuvor: wie hoch ist der prozentuale Anteil?

    Verfasser
    Widmar Puhl
    Peter Jakobeit Der prozentuale Anteil bei wem und wovon? Der Anteil der Schauspieler an Lesungen? Ich fürchte, dazu gibt es (noch) keine detaillierte Statistik. Zu lesen sind immer nur Momentaufnahmen, z.B. in der Stuttgarter Zeitung im Sommer 2021 eine Umfrage zum Buchhandel, ob und wann und womit es mit Lesungen wieder losgehen könnte. Was wer plante. Schon das war eine erschütternd kleine und schmale Auswahl.

  • Peter Jakobeit
    Widmar Puhl Naja, der Anteil von Schauspieler-Lesungen an den Buchhandlungslungen bzw. vergleichbaren Orten.
    Schauspieler sind meist teurer. Bin nicht so sicher, ob das so viele sind. Oft mit nicht mehr lebenden Autoren: Klabund, G.Stein, Villon, Th. Mann, Georg Heym, ... fällt mir grade aus dem eigenen Erfahrungsschatz ein.

  • Verfasser
    Widmar Puhl
    Diese Promi-Lesungen mit Texten von Toten besetzen Termine für Lesungen, die zur Zeit ohnehin rar sind mit Toten bzw. gemeinfreien Texten. Stimmt, sie sind teuer. Ihr Platz im Programm ist schon mal besetzt bzw. weg. Und dann gibt es viele Lesungen mit Ausländern oder Migranten, die erst Deutsch lernen und explizit eine deutsche Stimme wünschen. Nur selten sind das die Dolmetscher. Wie gesagt, das müsste wohl alles sytematisch erfragt werden. Ich bezweifle auch, dass die Stadtbibliothek dazu überhaupt Auskünfte erteilen würde, also zur Budgetverteilung. Da sind ja alle Veranstalter souverän, auch die mit öffentlichen Mitteln arbeitenden.

  • Wolfgang Weber
    Widmar Puhl mit anderen Worten haltlose Spekulationen

  • Astrid Schulzke
    Die Verlage verlegen doch sowieso fast nur noch Bücher von Promis. Unsereins hat doch kaum eine Chance einen guten Verlag zu finden. Das ist das wirkliche Problem. Ob Otto oder Achim Reichel oder irgendein anderer A - Promi... Nur diese Leute bekommen einen Vertrag und dann schreibt das Buch sowieso der Lektor des Verlages.
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  • Enno Kalisch
    Man kann das eine doch nicht mit dem anderen vergleichen, ich finde den Konkurrenzgedanken da unsinnig. Den Autor lesen zu hoeren ist ein eigenes Erlebnis, den Schoepfer des Werkes. Nicht alle lesen gut, aber da ist die Toleranz dbzgl. auch hoeher. Die persoenliche Note macht es unverwechselbar und unersetzlich. Schauspieler lesen und gestalten aus ihrem handwerk heraus, bieten da eine andere Art des Hoergenusses. Der Promifaktor hat mit dem Markt zu tun und mit dem Beduerfnis, vertrautes, erwartbares oder bestimmte Personen zu erleben. Es gibt aber auch Autoren, die kraft ihres Werkes zu Promis wurden. Die wenige Neugier gegenueber unbekanntem finde ich schade...aber Neid haben die Autoren nicht noetig, macht nur klein...
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    Enno Kalisch
    Es waere auch unsinnig von mir mich daruerber zu beschweren, dass Autoren schlecht vorlesen und so die Zuschauer vergraulen oder guter Aussprache zu entwoehnen, uns die jobs damit zu klauen😂 Es ist genug fuer alle da, die etwas anzubieten haben!!! Lasst uns weniger kleingeistig sein...und es gibt Autoren, die exzellent vorlesen, sich fortgebildet haben...oder eben ihren Stil ausgebildet...
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  • Verfasser
    Widmar Puhl
    Enno Kalisch Im Prinzip richtig. Aber gerade jetzt ist eben nicht genug für alle da, die etwas anzubieten haben. Ich vermisse die frühere solidarische Allianz von Autoren, Buchhandel, Bibliotheken, Verlagen und Zeitungskritik. Und weil zu wenig da ist, ist aus der oft beschworenen "Solidarität der Einzelgänger" vielfach wieder Konkurrenz geworden, obwohl etliche das nicht nötig hätten: etwa Walter Sittler, Axel Prahl, Jan Josef Liefers.
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  • Enno Kalisch
    Widmar Puhl ja, aber das sind Promis, keine Konkurrenten. Was genau sollte denn wer ändern oder anders machen koennen?

  • Enno Kalisch
    Widmar Puhl wie sähe das Solidarische denn konkret aus? Was schlaegst du vor? Lg
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  • Verfasser
    Widmar Puhl
    Wenn Promis zu Konkurrenten um Honorartöpfe und Budgetanteile werden, haben wir den Salat. Und der schmeckt nicht besser, wenn kleine Lyriker mal wieder Mainstream-Erfolgsromanciers wie Sebastian Fitzek weichen müssen. Das steuert ja niemand. Und die Promis nehmen mit, was sie kriegen können. Die kriegen aber (fast) nie genug.

  • Enno Kalisch
    Leseverbot fuer Promis? Wo liegt der konstruktive Vorschlag? Ich denke, so gehen auch andere Leute mal in eine Lesung...es ist wenig da fuer den mittelbau, die laien finden immer buehnen..aber dass die loesung sein soll, das die promis weniger lesen usw., halte ich fuer eine krude idee...auch im tv werden die einnahmen weniger.ich sehe da weniger gier als triebfeder....die muessen auch sehen, wie sie rumkommen
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  • Verfasser
    Widmar Puhl
    Genau deshalb fordere ich ja öffentliche Diskussionen mit allen Betroffenen. Zuerst mit den Gutwilligen. Da könnte man schon vieles tun, wenn man die soziale bzw. ökonomische Verantwortung fürs Ganze sieht. Sonst sterben immer mehr Dichter aus bzw. hören sang- und klanglos auf. Wollen wir diese Verarmung der kulturellen Vielfalt?

  • Enno Kalisch
    Widmar Puhl in frankreich gibt es ein anderes foerderungssystem, zb grundfinanzierung fuer freie projekte. Aber ich sehe weder gut-noch boeswillige, eher ein uebersaettigtes publikum, das nur promis sehen will.

  • Verfasser
    Widmar Puhl
    Enno Kalisch Ich schlage vor, erfolgreiche Modelle wie die moderierten Stuttgarter Rathauslesungen wieder zu beleben, die dem Nachfolger zu teuer waren. Da hatte Manfred Rommel die Idee, einen prominenten Autor und einen Nicht-Promi aus der Stadt lesen zu lassen. Hinterher gab´s gratis 1 Glas Wein und eine Butterbrezel, damit gute Gespräche flutschen konnten. Das war teuer. Aber der große Sitzungsaal im Rathaus war jedes Mal brechend voll, das Medieninteresse groß. Vieles ist eine Frage der Wertigkeit von Kultur in der Politik.
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    Enno Kalisch
    Widmar Puhl das waere wie die Vorband bei Konzerten. Danke fuers Konkretisieren
     

  • Verfasser
    Widmar Puhl
    Enno Kalisch Quatsch, ich will doch kein Leseverbot, für niemaden: Man könnte oft genug Tandem-Lösungen finden statt alles in der Manier des Neoliberalismus sich selbst zu überlassen!

  • Sonja Arendt
    Im Wesentlichen pflichte ich dir bei. Die Schauspieler stehlen den Autoren das Brot. Es gibt jedoch genug Autoren, die ebensolche "Rampensäue" sind, nur kennt sie keiner.
    Ansonsten gibt es auch das Phänomen der "Model-AutorInnen" , die zwar keine Kleider vorführen, sondern denen ihre visuelle Attraktivität Rezensionen in jeder Zeitung und in jeder Talkshow garantieren. Dazu gibt es die Vertreter/innen der Modethemen, diese Saison sind es nach den Migranten- und queeren Geschichten die Geschichten der deutschen farbigen Frauen. Entsprechendes spiegelt sich im Feuilleton: die Headliner wie Fitzek und Houellebeque, US Autoren etc, dann die schreibenden Schauspieler und die Autoren/innen der aktuellen Themen und die Schönen, die etwas zu Papier bringen können.
    Alle anderen fallen raus und haben eben Pech gehabt, es sei denn, ihre Bücher sind so stark, dass sie gar keine Promotion, Medienberühmtheit, "Aktualität" oder Schönheit brauchen und nur durch Mund zu Mund Propaganda zu "Longsellern" werden.

  • Bettina Frfr V. Minnigerode
    Klar kann man/frau an der Vortragsperformance arbeiten
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Montag, 4. Oktober 2021

Egnate Ninoschwili: Ein Gogol aus Georgien

Egnate Ninoschwili: Der edle Ritter unseres Landes. Erzählungen, ausgewählt von Dato Barbakadse, mit einem Nachwort von Bela Tsipuria, übersetzt von Maja Lisowski. Pop Verlag Ludwigsburg, Kaukasische Bibliothek Bd. 28, 229 S., 19,90 €
 

Der "edle Ritter" der Titelgeschichte war ein Schläger, Vergewaltiger, Unterdrücker und Säufer. Der Landgraf Tariel darf als Vertreter jenes Hochadels gelten, der die armen unfreien Bauern noch im 19. Jahrhundert unterdrückte und sich oft an deren Frauen und Mädchen verging. In dieser Erzählung verguckt er sich am Bahnhof in die schöne Frau des kleinen Dorffschullehrers Spiridon, der mit seiner Frau deren Mutter zu Ostern besuchen will. Als die Schöne ihn jedoch abweist, versucht er mit Zechkumpanen, sie zu entführen. Da der Zug sich verspätet und die Reisenden im Gasthof übernachten müssen, hält er das für eine gute Gelegenheit. Als auch dies scheitert, weil der Wirt den Grafen kennt das Paar vor ihm warnt, und kommt es am Morgen auf dem Weg zum Bahnhof zu einem gewalttätigen Überfall. Der schmächtige Lehrer verteidigt seine Frau und wird übel zugerichtet, während seine Frau fast vor Angst stirbt. Nach diesem Überfall ist für die beiden nichts mehr wie vorher.

Mit realistischer Sprache, Ironie und erstaunlichem psychologischen Gespür erzählt der Autor hier von einer so genannten posttraumatischen Belastungsstörung (die Psychologen sollten besser von "Überlastungsstörung" sprechen). Die Frau wird depressiv, kümmert nur noch vor sich hin und erkrankt am Ende. Nach ihrem frühen Tod verliert auch Spiridon die Lebensfreude, kann nicht mehr arbeiten und ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Als er eines Tages zufällig auf den Bahnhof seinem Peiniger wieder begegnet, hat er einen Revolver in der Tassche. Er stellt Tariel zur Rede: "Warum haben Sie unser Leben zerstört?" Als Tariel auf diese Frage wieder mit der bekannten Verachtung reagiert und einfach weiter gehen will, erschießt ihn Spiridon und lässt sich festnehmen. Vor Gericht leugnet er nicht und schildert sachlich, was vorgefallen ist. Er wird zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt und stirbt auf dem Weg dorthin.

Spiridon könnte eine von Gogols tragischen Figuren aus dem sozialkritischen Roman "Die toten Seelen" sein. Wie ein moderner Gerichtsreporter beschreibt Ninoschwili nicht nur äußerlich, was dem kleinen Dorfschullehrer widerfahren ist; was sich in der Seele eines Opfers abspielt, das zum Täter wird, das sein Trauma immer wieder und wieder durchlebt, ist ihm mindestens ebenso wichtig. Diese Erzählweise ist von großer suggestiver Kraft. An Nikolai Gogol erinnert auch, dass Ninoschwili auf dem Land zur Welt kam, in Konflikt mit er Obrigkeit geriet und keinen privilegierten ein Leben lang unter Armut zu leiden hatte: Ein Pope, den er kritisiert hatte, sorgte für den Verlust seines Studienplatzes.

Egnate Ninoschwili (1859 - 1894) war das einzige Kind eines leibeigenen Bauern. Mit Hilfe von Freunden konnte er mit Hilfe von Freunden trotzdem Examen machen, musste sich aber immer wieder zu Hungerlöhnen verdingen und erkrankte schließlich an Tuberkulose. In nur sieben Jahren entstanden seine wichtigsten Erzählungen, deren Protagonisten sämtlich aus dem realen Leben kamen. Eines seiner großen Themen waren die soziale Lage in Georgien und die Nachwehen der Leibeigenschaft, die erst gegen Ende des 19. Jahrunderts abgeschafft wurde. Typisch für seine Zeit sind der dramatische Einsatz von Naturbeschreibungen (Selbstmorde gehen mit Regen oder oder Gewittern einher). Der See von Paliastomi existiert wirklich, aber in der gleichnamigen Erzählung wird zum diabolischen Gehilfen einer Natur, die ich mit dem Steuereintreiber verbündet, der die Fischer buchstäblich erdrückt. "Die Verwüstung" ist die Folge einer missglückten Kuppelei, die einen Jungbauern durch seine Ehe mit der ungeliebten Frau ruiniert. Was wie Hexerei und Fluchgeschichte wirkt, ist eigentlich das Ergebnis eines Clan-Denkens, das bis heute den Vorderen Orient vergiftet und die Korruption auf dem Balkan erklärt, vorausgesetzt, die Betroffenen zeigen ein Einsehen.

Der Herausgeber Dato Berbakadse lebt in Tbilissi, die Übersetzungen besorgte die georgische Germanistin und Maja Lisowski, die an der FU Berlin arbeitet. Die Professorin Bela Tsipuria lehrt an der Universität Tbilissi und steuerte ein kenntnisreiches Nachwort zur Wirkungsgeschichte Ninoschwilis und seine Rolle in der Literaturgeschichte Georgiens bei.