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Freitag, 21. September 2018

Bauch gegen Kopf: Teodor Currentzis dirigiert die 3. von Mahler

Schwarzer Schwan schlägt den Takt mit den Flügeln
Viel Neues gibt es nicht für jene, die das Currentzis LAB zu Gustav Mahlers 3. Sinfonie besucht haben. Aber starke Musik und Musiker, die so begeistert wirkten, virtuos und hingebungsvoll. Die Aufführung mit dem starken SWR Symphonieorchester, dem MDR -Rundfunkchor, dem Knabenchor des collegium iuvenum und der Mezzosopranistin Gerhild Romberger in der Stuttgarter Liederhalle war das erwartete Non plus ultra. Der Chefdirigent hatte ein musikalisches Credo versprochen und löste es ein. Akribisch vorbereitete Werktreue bei maximaler interpretatorischer Freiheit. Man kann Mahlers Musik mit dem Kopf interpretieren und präsentieren. Aber dann wird sie genau das, was Currentzis nicht will: maschinell statt lebendig und virtuos. Dieser Dirigent steht für Leidenschaft, und die liegt gewiss nicht immer nur richtig. Manche Ergebnisse bleiben oft umstritten, in mystischen Nebeln verborgen. Aber Tatsache ist, Currentzis hat das Orchester und dann das Publikum mitgerissen, ob das Kritikern passt oder nicht.
Die Lektüre der Partitur und musikhistorischer Literatur bestätigt, dass der Komponist wohl genau das gewollt hat. Fast 20 Sekunden Schweigen nach dem furiosen Finale der fast zweistündigen Aufführung bezeugen Respekt und die emotionale Wirkung im Auditorium. Dem konnte sich kaum jemand entziehen. Und dann brach ein Beifallssturm los für die Musiker, der in dieser Form selten zu erleben ist. Die Liederhalle war voll bis auf den letzten Platz. Mahler wollte große Gefühle nach Zitaten aus der ganzen Musikgeschichte der KuK Monarchie bis 1886 im Alpenraum zwischen Balaton und Adria, auch aufrichtigen Schmerz über das offenichtlich bald Verlorene, aber gewiss keine Folklore ohne Brechung und Ironie. Aber eben (auch religiöse) Gefühle. Und zu denen muss man halt stehen. Sonst wird das nichts. Und es wurde. Über Details mögen die Fachleute streiten.


Teodor Currentzis ganz nah in Stuttgart


Szene aus dem "Currentzis LAB" am 18. September: Der neue Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters Stuttgart gab eine sehr persönliche Einführung in sein morgiges Konzert mit der Sinfonie Nr. 3 von Gustav Mahler. Hier spricht der ganze Mann mit Mund, Händen, Füßen, Mimik und Gestik über seine Arbeit an Rhythmus-Brechungen und Tempo-Veränderungen im Finale, die den ganz persönlichen Ausdruck stärken und zugleich nach Ansicht des Interpreten "genau das sind, was Mahler wollte": Kein akustisch-opulentens Alpengemälde, keine technische Brillanz ohne Seele, keine maschinelle Orchesterperfektion, sondern etwas, das Leidenschaft und auch Leiden ausdrückt: ein sehr intimes Glaubensbekenntnis. Offene Fragen: Was ist Schönheit? Der großartige Pianist gab die Beispiele für das, was kommen soll, unterbrochen von Einspielungen berühmter Aufnahmen. So lernt man einen Dirigenten ganz aus der Nähe und sehr viel besser kennen als sonst. 
Gestern bei seinem ersten Abonnementkonzert kam das Konzept dann mit der ganzen Wucht der großen Besetzung daher - und war in Riesenerfolg. Darüber später; ich habe jetzt Urlaub und deshalb witzigerweise kaum Zeit.

Sonntag, 16. September 2018

Ein unvergessliches Konzert: Currentzis zum ersten...

Alyona Rostovskaya, Teodor Currentzis, SWR Symphonieorchester
Das "Surprise Concert" des Neuen, exklusiv für Freunde und durch Los ermittelte Teile der Abonnenten aus Stuttgart, Freiburg und Mannheim hatte es wirklich in sich: Der erste Auftritt von Teodor Currentzis als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters am 10. September (noch vor dem offiziellen Antrittskonzert am 20.) war etwas völlig Neues. Neu war die äußere Form, mit der hier Musik inszeniert wurde, neu war das Engagement der Musiker - vom Einmarsch und teilweise auch Spiel im Dunkeln über die abgesenkte Bühne (um näher beim Publikum zu sein und möglichst nicht von oben herab), neu war aber vor allem die Art der musikalischen Interpretation, die sich hier exemplarisch vorstellte, und ganz neu auch die Begeisterung der Zuhörer, die sich eher gebärdeten wie bei einem Pop-Konzert. Currentzis, der russisch sozialisierte Grieche, der schon von Sibirien, aus dem Permafrost, heiße musikalische Wellen einer ungewöhnlichen Begeisterung und Gemütserschütterung durch die Welt sandte, dieser Mann will bei aller Genauigkeit (Man sagt ihm nach, bei Proben ein Fanatiker technischer Perfektion zu sein) vor allem eins: Leidenschaft für Musik und durch Musik. Und die war absolut zu spüren, abgesehen von seinen zwei durchgeschwitzten Hemden.
Das Programm erfuhr man erst nach dem Konzert - und auch, wer die blonde Schönheit in Blau war, die in der zweiten Halbzeit vorn auf der Bühne saß und erst kurz vor Schluss sang: Die Sopranistin Alyona Rostovskaya mit einer glockenreinen traurigen Arie von Jean-Philippe Rameau in einer Suite, die Currentzis ganz aus Werken dieses barocken Franzosen arrangiert hatte. Was wird er da erst nächste Woche mit Gustav Mahler anstellen?
Aber kurz der Reihe nach. Das Licht ging aus statt an, dann kamen die Musiker langsam auf eine Bühne, auf der nur wenige Orientierungshilfen glommen: die ganz unerlässlichen Pultlämpchen für Notenblätter, vor allem des Pianisten Christoph Grund, der mit ausladender Gestik und Fingerspitzengefühl das langsam sich steigernde Stück "Musik für Klavier und Ensemble" von Marko Nikodijevic spielte. Magie pur. Man hätte das auch "Der sibirische Schamane" nennen können. Es folgte etwas, das auch geübte Hörer erst ab dem dritten Satz als die Symphonie Nr. 7 a-Dur Ludwig van Beethovens erkannten. Das war ein völlig neuer Beethoven, so unverbraucht, so mutig und frech - und doch, da bin ich sicher, so penibel genau nach der Partitur wie nur möglich. Eine Offenbarung für die Ohren, mit Streichern, die im Stehen mehr gaben als sie im Sitzen je zu haben geglaubt hatten. Da hielten die Leute schon den Atem an.
Und vollends platzte der Knoten anfangs verhaltener, noch etwas unsicherer Zuneigung nach der Pause mit Jean Philippe Rameau. Da hörte sich diese 300 Jahre alte Musik plötzlich teilweise an wie Irish Folk. Da stampften Dirigent, Streicher und Flötisten im Rhythmus den Boden, wurden zu Straßenmusikanten und steigerten sich in eine Trance hinein, die das Publikum nach jedem Abschnitt zum Applaudieren brachte. Vornehme Zurückhaltung bis zum Schlussapplaus? - Ach was, das ist Geschichte. Weg damit! Das ging schon bei Beethoven so, da grinsten noch einige nachsichtig. Aber zum Ende hin wurde die Stimmung immer dionysischer, im positiven Sinne hemmungsloser. Zum Abschied zogen der Dirigent mit seinen rot geschnürten Sportschuhen, Solisten und Orchester in Polonayse durchs tobende Volk im erneut abgedunkelten Saal, kamen zurück, feierten miteinander wie vielleicht einst im Karneval zu Venedig. Seltsam, neu, fremd und vertraut zugleich, wahrlich wunderbar überraschend.



Freitag, 14. September 2018

Brauchen wir eine "Wörterpolizei"?

Neulich habe ich für eine Reportage über ein Konzert der Leipziger Thomaner in Stuttgart den Titel "Ein helles Licht aus Dunkeldeutschland" verwendet und bekam Kommentare, die mich recht nachdenklich gemacht haben. Sie waren verletzt und entsetzt. Daher habe ich nun das Unwort "Dunkeldeutschland" in kleine, aber wichtige Gänsefüßchen gesetzt. Diese Gänsefüßchen machen mehr aus ausreichend meine Distanz" zu diesem Wort deutlich, das aber nun leider einmal in der Welt ist. Abgesehen davon, dass wir alle eine dunlkle Seite in uns tragen, an die niemand gern erinnert wird: Diffamierend, pauschal diskriminierend ist dieses Wort bei mir nie gebraucht worden, sondern als Spiegelung, die erst durch das "helle Licht" in meiner Überschrift wirkt und eigentlich schon klare Distanz zum Wort selbst und zu seinem Inhalt anzeigt. Ich liebe die Kulturlandschaften Ost- und Mitteldeutschlands (sie gehören mit Luther und Bach zum Besten, was wir haben) und alle, die sie lebendig halten. Das haben die Leser auch alle verstanden.

Nachdenklich macht mich der Protest gegen meine Wortwahl, weil ich einzelne Leser damit dennoch verletzt habe, und weil ich zugleich als Mann der Redefreiheit den Gedanken an eine "Wörterpolizei" nicht ertrage. Ich habe nämlich schlechte Erfahrungen mit "verbotenen Ausdrücken" bei Sekten und mit Verfechterinnen des "Genderdeutsch" gemacht. So etwas wäre meines Erachtens immer eine unerträgliche Anmaßung, für die es keine Autorität gibt.

Wenn schon, müsste der Bann auch andere Vokabeln aus dem aktuellen "Wörterbuch des Unmenschen" betreffen: etwa die Bezeichnung "Gutmenschen", mit der man seit PEGIDA Menschen diffamiert, die sich bemühen, Entwurzelten und Verfolgten Gutes zu tun (ich habe das schmervoll selbst erlebt), oder auch den Begriff "tiefer Staat". Der kriminalisiert ja keineswegs den Staat, sondern Strukturen bezeichnet, bei denen einzelne Vertreter staatlicher Organe zu Komplizen des organisierten Verbrechens werden (zuerst kam das beim Schreiben über Verhältnisse in der Türkei auf, als Geheimdienstoffiziere Erdogans bei illegalen Waffengeschäften mit dem IS erwischt wurden. Später tauchte der Bergriff dann auch bei der Berichterstattung über die Verstrickung von V-Leuten der Polizei und des Verfassungsschutzes in die NSU-Morde auf, die grausige Fehleinschätzung dabei und deren Vertuschung durch das Vernichten von Akten und Asservaten).
Vermutlich sollte man einen eigenen Blog-Beitrag über solche Begrifflichkeiten und den Umgang damit schreiben. Aber wann soll ich auch das noch tun? Vielleicht findet sich jemand mit den nötigen Kenntnissen und Ansichten dafür. Denn ich habe wohl fälschlich angenommen, dass diese Wörter, einmal erklärt, auch allgemein verstanden würden.

Ich denke, man muss solche hoch toxischen, gefährlichen Elaborate aus dem Sprachlabor der Demagogen dennoch mit der gebotenen Vorsicht aus dem Giftschrank holen und verwenden dürfen, wenn der Zusammenhang klar und die Absicht lauter ist. Das tut weh, aber anders wird es nicht gehen. Man kann Sprache nicht verbieten, auch nicht ihre ekelhaftesten Bestandteile. Sonst landen wir bei einer Diktatur politisch oder religös motivierter Wortverdreher wie in den Romanen "1984" von George Orwell oder "Schöne jeue Welt" von Orson Wells.

Sonntag, 9. September 2018

Das Stuttgarter Kammerorchester und eine barocke Cleopatra

Dirigent Reinhard Göbel mit Sonia Prina und Sibylle Rubens (von links)
"Liebe in Zeiten des Krieges" ist das Thema der Serenata "Marc`Antonio e Cleopatra" von Johann Adolph Hasse, die das Stuttgarter Kammerorchester unter Leitung von Reinhard Goebel am 8. September 2018 im Mozartsaal der Liederhalle aufführte. Das Stück des jungen "Sachsen" und Scarlatti-Schülers Hasse in Neapel, uraufgeführt im Sommer 1725 als Opern-Einakter im Landhaus eines königlichen Rates, bringt das tragische Ende der großen Liebe zwischen der Ägypterin Cleopatra und dem römischen Feldherrn Marcus Antonius auf die Bühne. Es wäre wohl der Erwähnung nicht mehr wert, enthielte dieser barocke Einakter nicht einige der schönsten Arien und Duette des 18. Jahrhunderts. Denn das Libretto von Francesco Ricciardi ist voller Klischees und unglaublichster Widerspüche. Eine Handlung gibt es nicht, nur die Liebeserklärung des prominenten Paares vor seinem Selbstmord nach der verlorenen Seeschlacht bei Actium am 30. August 30 vor Christus. Das hindert die beiden aber nicht, in einer finalen Vision Glanz und Glorie des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation mit den Habsburger Kaisern zu Wien wieder zu beleben, die sich 1722 wie einst Rom den ganzen Mittelmeerraum zu unterwerfen suchten. Und das in ziemlich barocker Statik.
Musikalisch aber geschieht eine Menge. Johann Adolph Hasse (geboren 1699 in Bergedorf, gestorben 1783 in Venedig) schrieb schon als junger Mann eine unnachahmlich weiche, schmiegsame, melodienreiche Musik. Sibylla Rubens (Sopran) sang die Rolle der Cleopatra auch so: kräftig, innig, koloraturensicher und ausdrucksstark. Sonia Prina (Alt) in der Hosenrolle des Marcus Antonius jedoch stand herum, als hätte sie zu viel Pasta gegessen, schnaufte beängstigend und zerhackte ihre Koloraturen meist mit einem unangebrachten Stakato. Das sollte vermutlich "männlich" klingen, wirkte aber nur unfreiwillig komisch. Am Ende gelang es aber in den Duetten beiden Sängerinnen gemeinsam, auch kritische Zuhörer durch die sichere Dynamik in herrlichen Girlanden eines vorweggenommenen Belcanto zu versöhnen.

Das Stuttgarter Kammerorchester ist wie geschaffen für so eine Kammeroper. Die Musiker spielten mit gewohnter Präzision und Virtuosität, der Gastditigent Reinhard Goebel ist seit 2010 Nachfolger von Nicolaus Hanoncourt auf dem Lehrstuhl des Mozarteum Salzburg für historische Aufführungspraxis, entsprechend souverän war er am Pult. Schöne Musik war das, mit einigen Gänsehaut-Momenten und verdientem Applaus.


Mittwoch, 5. September 2018

Ein helles Licht aus "Dunkeldeutschland": Die Thomaner beim Musikfest Stuttgart

Die Thomaner mit dem Barockorchester Leipzig in der Stiftskirche

Der erste Thomaner, den ich am 5. September traf, war 81, nicht mehr ganz so gut zu Fuß, dennoch aus Biberach in Oberschwaben angereist und stand mit seiner Frau an der Stadtbahn-Haltestelle Albstraße in Degerloch. Die zwei hatten das Park-and-Ride-Parkhaus benutzt und fragten nach dem Weg. Wir hatten das gleiche Ziel und auch gleich einen Gesprächsstoff: das vorletzte Konzert der "Sichten auf Bach" beim Musikfest Stuttgart mit dem Leipziger Thomanerchor, seinem Leiter Gotthold Schwarz, dem Leipziger Barockorchester und Solisten in der Stiftskirche. Sie: "Wir sehen nachher unseren Enkel, der macht sein freiwilliges soziales Jahr im Hospitalhof und hat ganz begeistert von Herrn Schwarz erzählt, den er dort sprechen konnte. Ich habe als junges Mädchen zehn Jahre in Stuttgart gelebt, aber es hat sich viel verändert". Er: "Ich war selbst viele Jahre lang Thomaner, nicht nur im Chor, auch als Solist. Man konnte ja fast nur reisen in der DDR, wenn man Hochleistungssportler war - oder Thomaner auf Tournee."
So mancher hatte einen beschwerlichen Weg auf sich genommen, etliche Bachfreunde standen gar vergeblich in der Mittagssonne und versuchten, private oder Restkarten zu ergattern. Das Konzert war derart ausverkauft wie nur möglich. Das Stuttgarter Publikum hatte erkennbar auf dieses Gastspiel gewartet, und es wurde nicht enttäuscht. Einzig die "Stuttgarter Zeitung" zog es vor, bis zum Wochenende (einschließlich) kein Wort darüber zu berichten: Meiner Ansicht nach ein ausgewachsener Skandal - vermutlich wieder und nicht zum ersten Mal Berichterstattung nach Anzeigenlage! Guter Journalismus ist etwas anderes. Wenn unentgeltlich arbeitende Blogger die Ehre der bezahlten lokalen Kritikerzunft retten müssen, spricht das Bände.
Das Konzert selbst mit dem Titel "Gott als Helfer in der Not" war mit dem Festivalmotto "Krieg und Frieden" weniger verbunden als mit dem Kirchenjahr. Gott als Tröster ist gerade in diesen politisch aufgeregten Tagen mit fast täglichen Demonstrationen und Hasswellen nach einem Mord in Chemnitz ebenfalls sehr passend. Aktuelle Konnotationen waren nicht gesucht, aber unvermeidlich - wie etwa die sehr emotional aufgenommene Umarmung der beiden Jüngsten, die der Dirigent beim Schlussaplaus nach vorne rief: ein blonder Junge und ein schwarzhaariger mit asiatischen Gesichtszügen. Schon diese Kleinsten in dem Gymnasium "Thomasschule" mit seinen 800 Jahren Tradition singen ja wie die großen Profis - sie sind nur eben zum Teil noch so verblüffend klein (die jüngsten sind erst neun Jahre alt). Sie müssen nicht nur eine wunderbare Stimme haben und hoch musikalisch sein, sondern auch enorm fleißig und diszipliniert, um höchsten Ansprüchen einer regen Konzerttätigkeit gerecht zu werden.
Es war daher schon in jeder Hinsicht etwas Besonderes, diesen Chor zu erleben, der selbstverständlich auf Augenhöhe mit erwachsenen Berufsmusikern arbeitet. Aus dieser musikalischen Kaderschmiede ist Bach selbst hervorgegangen, aber auch Hans-Christoph Rademann als ehemaliger Sänger und Leiter des benachbarten Dresdner Kreuzchores ist ihr eng verbunden. Der Leiter der Bachakademie ist in seiner Sicht auf Bach von dieser mittel- oder ostdeutschen Schule geprägt. Sie vermittelt in einmaliger Ernsthaftigkeit und Schönheit die tröstliche Botschaft, dass Gott uns auf Erden schon Hoffnung gibt. Sie tut dies mit großer musikalischer der Kunst und spricht damit direkt zum Herzen der Zuhörer - ein strahlendes Licht aus "Dunkeldeutschland", das uns beglückt. Diese Sicht auf Bach ist so etwas wie das Original. So etwas kann man nicht kopieren, auch nicht mit Barockorchestern und Chören von Weltgeltung, die sich beim diesjährigen Musikfest Stuttgart die Klinke in die Hand geben.
Solisten in der Stiftskirche waren die Sopranstimmen der Thomaner, der Altus und Ex-Thomaner Stefan Kahle, der Bass Tobias Berndt, der seine Ausbildung beim Dresdner Kreuzchor begann und in Leipzig studiert hat, allesamt intonationssicher und souverän. Besonders bejubelt aber wurde der strahlende Tenor Wolfram Lattke, ein Eigengewächs der Thomaner wie Patrick Grahl, für den er einsprang.
Der Auftakt war mit der Bach-Kantate "Allein zu Dir, Herr Jesu Christ" (BWV 33) eher für das Orchester anspruchsvoll, für Chroristen, Tenor, Altus und Bass mehr ein Warmlaufen. Es folgten drei feine Motetten, bei denen dialogisch gebaute Chorsätze zunehmende Schwieigkeitsgrade erreichten, die aber auch eine enge Beziehung zu Bach oder zur Tradition der Thomaner haben. "Zion spricht: Der Herr hat mich verlassen" von Johann Hermann Schein aus dem Jahr 1623, "Der Gerechte kommt um" von Johann Sebastian Bach und "Das ist je gewisslich wahr" von Heinrich Schütz von 1648. Feierlicher Höhepunkt war die abschließende Bach-Kantate "Wer Dank opfert, der preiset mich" (BWV 17). Nach dem instrumentalen Vorspiel startet der Chor mit fulminanten Koloratur-Dialogen unter der Führung eines Duetts aus Alt und Tenor. Im Rezitativ presste der Altus leider ein paarmal die hohen Töne zu sehr, blieb aber in seiner schönen Stimmlage ansonsten stabil. In seiner Arie "Welch Übermaß der Güte" machte er alles wieder gut. Die Chor-Sopranstimmen schraubten sich in der Arie "Herr! Deine Güte reicht, so weit der Himmel ist" mit einer traumwandlerisch sicheren Dynamik in die Höhe herrlicher Choloraturen.
Nach dem Schlusschoral über das göttliche Erbarmen wollte der Applaus gar nicht mehr enden. Blumensträuße gab´s, Rote Rosen für die Damen des Orchesters und am Ende als Zugabe den bekannten Eingangschoral dere Kantate "Wer nur den lieben Gott lässt walten" (BWV 93). Ach, hätten wir Ohren zu hören.