Wer keine Adjektive und keine Redundanzen mag, sollte keine Romane lesen, erst recht keine so dicken. Nino Haratischwili hat einen großen Roman geschrieben, keinen Haiku. Und um das gleich zu sagen: Es ist in meinen Augen eine Frechheit, ihn als "gescheitert" zu bezeichnen wie Beate Tröger von SWR2 oder Stefan Kister von der Stuttgarter Zeitung. Der hat zwar manchmal Recht wie bei seiner Lobeshymne auf den Roman "RCE - remote code execution" von Sibylle Berg. Aber manchmal schreibt er auch unfassbaren Blödsinn wie etwa wenn er meint, irgendwann werde ein Autor erwachsen und lasse das "Poesiealbum der Lyrik" hinter sich, um einen Roman zu verfassen. Oder eben auch über Haratischwili und "Das mangelde Licht", den auch er als "gescheitert" bezeichnete. - Warum so viel Meta-Text als Vorrede? Weil ich behaupte, dass ein großer Roman auch Widerspruch auslöst. Ein Roman soll ja den Leser / die Leserin in sich hineinsaugen. Seine Bilder und Geschichten sollen in den Köpfen weiterleben. Und das tut er nicht nur, wie Unterhaltungsliterat Denis Scheck oberflächelnd kundtat, "weil er historische Hintergründe transportiert, psychologisch schlaue Einblicke gewährt und wirklich sehr süffig zu lesen ist...". Geschenkt. Das tut ein guter Roman sowieso. Doch es geht um sehr viel mehr.
Aber ich mag es dann doch etwas konkreter: Nino Haratischwili erzählt in diesem Roman die Geschichte von vier Frauen, die als Mädchen zusammenfinden. Als sich drei Überlebende 2019 zu einer großen Foto-Retrospektive der toten Vierten in Brüssel für einen Tag wieder treffen, hat sie das Leben fast 20 Jahre lang in alle Winde zerstreut. Die vier Frauen sind so unterschiedlich, wie es nur geht. Da ist die Ich-Erzählerin Keto, ein eher zurückhaltender Typ. Sie ist künstlerisch hoch begabt, traut sich aber keine eigene "Sprache" als Künstlerin zu. Sie wird eine gefragte Restauratorin. Die Rettung verblichener Fresken in mittelalterichen Klöstern und Kirchen zwischen Tbilissi, Istanbul und Kiew ist ihr Lebensunterhalt, aber auch Zuflucht und Ruhepol in sonst unruhigen Zeiten. Irgendwann hat sie angefangen, sich zu ritzen, bis ihre Oberschenkel nur noch aus Narben bestehen. Niemand darf Keto daher nackt sehen, auch nicht beim Sex. Umso intimer das Bild ihrer Freundin Dina, der sie sich eines Tages offenbart. Das ist mehr als intim, das ist schon exhibitionistisch, wenn dann das Foto in Brüssel an der Wand hängt.
Zunächst seltsam dünnhäutig, ist Keto hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht, ihre Lebensfreundinnen wieder zu sehen, und der Angst davor, was die Fotos auslösen könnten - oder die unvermeidlichen Gespräche über die traumatische Vergangenheit. Das sind nicht bloß "schlaue psychologische Einblicke". Ich vermute, solche Szenen sind ohne deutliche Spuren eigenen Erlebens nicht möglich. Hier, und nicht nur hier, offenbart die Autorin eine Dimension seelischer Verletzungen, die man wohl selbst erlebt haben muss, um so darüber schreiben zu können. Dass nach 20 Jahren Versöhnung zwischen den drei Überlebenden möglich sein soll, die sich so unversöhnlich getrennt haben, wirkt wie ein Märchen zwischen Hoffnung, Wutanfall und Psychoanalyse. Es ist schon ein Wunder der Freundschaft, dass alle drei nach Brüssel kommen und der Begegnung nicht ausweichen, die zu einer Retrospektive ihres Lebens wird.
Dann ist da die draufgängerische Dina, die andere immer mitreißt. Sie schläft mit einem Banditen, dem Bruder einer ihrer Freundinnen, der ihren Geliebten durch eine Intrige ins Gefängnis gebracht hat, um ihren Geliebten freizubekommen. Sowohl ihr Geliebter als auch dessen Erzfeind verachten sie dafür. Daraufhin wendet sie sich ganz ihren Bildern zu, wird Fotografin und dokumentiert in Abchasien und Tbilissi Krieg und Bürgerkrieg als Reporterin. Scheinbar unberührbar steht sie über allem, was sie erlebt, und wird doch schließlich das einzige Todesopfer in dieser Clique. Irgendwann, man ahnt es die meiste Zeit, ist die "Coole" dem nicht mehr gewachsen, was sie an Horror und Leid erleben muss, und erhängt sich.
Ira, Musterschülerin und Stanford-Juristin, ist bestens vernetzt und lässt nach ihrer Rückkehr als Staatsanwältin die ganze korrupte und kriminelle Herrschaft der Clans, Banditen und Milizen in Tblilissi hochgehen. Da die Brüder ihrer Freundinnen in führenden Positionen an diesem System beteiligt sind, gilt sie als Verräterin der Familienehre, nachdem der Fall publik geworden ist: Sie hat die Wohnung eines der Drogenbosses hinter dem Rücken ihrer Freudinnen verwanzen lassen und so das entscheidende Beweismaterial für Medien und Politiker erhalten. Ihre hoffnungslose lesbische Liebe zu Nene treibt sie als Studentin in die USA und später immer wieder in oberflächliche Affären. Dass die griechisch-orthodoxen Popen von Tbilissi noch vor wenigen Jahren eine Gay-Parade zum Anlass nahmen, um ein regelrechtes Progrom gegen Schwule und Lesben zu organisieren, zeigt das tatsächliche Risiko sexueller Selbstbestimmung in Georgien. Also: ein Buch über Männer und Frauen, aber echt auf die Spitze getrieben.
Nene, die vierte im Bunde, ist ein romantisches kaukasisches Vollweib: sexy, frivol, witzig, immer Mittelpunkt der Gesellschaft, mit Luxusklamotten und Kosmetik stets auf ihr Äußeres bedacht und "Handelsobjekt" ihres kriminellen Onkels, der sie mit Geschäftspartnern aus Russland verheiratet. Ihr Bruder ist der brutale Drogenhändler, dessen verwanzte Wohnung das System implodieren lässt. Ihr Kind kostet den nicht standesgemäßen Liebhaber das Leben und bringt Nene zwei Mal eine Zwangsheirat mit Mafiabossen ein. Doch obwohl sie im goldenen Käfig lebt, sich nie frei entfalten kann und immer unter Beobachtung steht, kann sie Iras Liebe nur verurteilen und rechtferigt sogar noch ihre Unterwerfung unter die kriminelle Männerwelt. Sie ist das herausragende Beispiel für Frauen, die in archaischen Rollenbildern feststecken und sich damit das Leben letztlich selbst zur Hölle machen. So etwas ist im arabischen Raum, in vielen religiös geprägten Ländern und eben auch im Kaukasus noch weit verbreitet: eine permanente Quelle reaktionärer "Erneuerung" frauenfeindlicher Zustände. Frauen wie Nene verteidigen selbst die kriminellen Männer und Vergewaltiger in ihren Familien bzw. Clans mit Zähnen und Klauen: eine georgische Art kollektives Stokholm-Syndrom nennt Ira dieses Verhalten einmal treffend. Dass sie den Freundinnen nichts von ihrer Arbeit als ermittelnde Staatsanwältin erzählt, ist daher auch reiner Selbstschutz.
Keiner der Charaktere in diesem Buch ist nur gut oder nur böse. Jeder
und jede hat Stärken und Schwächen, es gibt kein Schwarzweiß. Das macht
einen nicht geringen Teil des Umfangs aus, ist aber auch maßgeblich für
die Menschlichkeit des Buches und für die Glaubwürdigkeit des Versuches, den Menschen gerecht zu werden. Dazu
gehört auch das Wissen, dass sich alle im Lauf der Jahre verändern. Und doch teilen diese vier Freundinnen das Geheimnis, dass nach 20 Jahren fast alles ist wie früher, bis auf das Wissen um die Wunden, die man sich geschlagen hat. Man kennt sich nur allzu gut. Eine Frucht des Älterwerdens ist gewiss die Vorsicht, die bei der Balance zwischen Ehrlichkeit und Wahrheitsbedürfnis herrscht. Man reißt keine Narben auf, doch keine versucht, etwas unter den Teppich zu kehren. Ach, hätten die Deutschen ihre Vergangenheit mit den Diktaturen der Nazis und der SED so bewältigt! Sicher, die Zeit hilft, viele Wunden zu heilen. Aber wenn die Zeit der Sprachlosigkeit zu lang wird und das Schweigen andauert, verfälscht es Erinnerung. Lügen werden mit ins Grab genommen. Man hat als Leser nach 832 Seiten den Eindruck, dass hier nichts dergleichen passiert ist.
Galerie der Erinnerungen
Der erste Teil des Romans heißt "Wir" und erzählt viel von der wunderbaren alten Stadt Tbilissi und ihren Bewohnern. Erinnerungen an das Leben in einem traditionellen Hofhaus in der historischen Altstadt mit enger Nachbarschaft wechseln sich mit Bildern der Ausstellung in Brüssel ab, die in einem strengen Schwarz-Weiß das Leben der Mädchengang in den Mittelpunkt stellt. Sie sind chronologisch geordnet und lösen schöne oder schmerzliche Erinnerungen aus. Es ist eines der Verdienste des Buches, dass diese nicht nur benannt, sondern wirklich erzählt werden. Dadurch kriechen die Bilder in den Kopf des Lesers, wo sie sehr bald ein intensives Eigenleben führen. Das Buch macht greifbar - gerade durch die Unterschiedlichkeit der vier Freundinnen und ihrer Familien - was Zeiten großer Umbrüche ganz konkret für die einzelnen Menschen bedeuten.
Teil zwei heißt "Die Hundejahre" und verhandelt die Liebe in Tbilissi, die Geschichte der Clans, die archaischen Traditionen, den Mangel und Warteschlangen. Teil drei heißt "Heroin" und erzählt, wie Nenes Bruder das bis dahin unbekannte Rauschgift nach Georgien importiert und eine steile Unterweltkarriere macht, der auch sein eigener und Ketos Bruder zum Opfer fallen. Von alten und neuen Harrschaften erzählt dieser Teil drei, von Festen und Verrat in diesem Teufelskreis Georgien, in einem Land mit 3,5 Millionen Einwohnern, das es heute so nicht mehr gibt.
Teil vier heißt "Gott deiner selbst", und da geht es darum, auf den eigenen Beinen zu stehen, um die Selbstermächtigung, sich selbst treu zu bleiben auf der Suche nach dem persönlichen Glück und einer gefestigten Persönlichkeit. "Das mangelnde Licht" ist hier weniger ein Bezug auf den dunklen Park in Brüssel, wo das Trio nach der Vernissage mit Google Maps ein illegales Bad in der heißen Sommernacht ansteuert. Das titelgebende Bild meint viel mehr die Mühen und Schmerzen der Erinnerung: "Ich habe Lücken, wie schwarze Löcher im Hirn". Es enthält finale Lebensbeichten der Freundinnen am Rand des Bassins, Fragen an das Leben, an die Geschichte. Doch nicht um Antworten geht es, sondern darum, all diese Zumutungen als Geschenk einer Freundschaft anzunehmen, die allen Stürmen trotzt.
Der Roman ist ein großes Buch über die Liebe, die zur Überraschung der Protagonistinnen nicht nur beim ersten Mal weh gut, sondern jedes Mal wieder, immer. Die Sprache der Autorin bewegt sich zwischen zupackendem Realismus und purer Poesie: "Keto,
wie kann es sein, dass das Herz, einmal herausgeschnitten, wieder
nachwächst? - Keto, wie kann es sein, dass man sich selbst nicht
beherrschen, aber jemand anderen über sich herrschen lassen kann? -
Keto, wie kann es sein, dass ich in Zotnes Nähe aus Versehen glücklich
wurde, während ich das Glück an Ratis Seite der Welt so mühevoll
abtrotzen musste? - Keto, wie kann es sein, dass der Mensch im Laufe
seines Lebens nicht gegen Leid immun wird, aber gegen die Liebe?" Fragen, die das Buch vermutlich anstelle der toten Dina stellt. Kitsch? - Nur für einen ziemlich abgebrühten Zyniker.
Zu den Stürmen, denen die Freundschaft trotzt, gehören die erste große Liebe, die wegen der "Familienehre" nur heimlich ausgelebt werden darf, die wachsende Gewalt vor allem unter den Männern der Clans, die zunehmende Spaltung der ganzen Gesellschaft in einer noch jungen, nicht gefestigten Demokratie (mit all dem dazu gehörenden Nationalismus, den man auch heute noch in der Ukraine beobachten kann), die Demonstrationen und Straßenkämpfe, die Brutalität einer russischen Armee, die jeden Separatismus gnadenlos für die eigenen Interessen nutzt, der Streit in den Familien (köstlich: die radikalisierten Großmütter der Erzählerin Keto) die Stromausfälle, das Frieren und Hungern im Winter und bei den explodierenden Preisen. Der Preis des Überlebens besteht in Form von Mittäterschaft durch Schweigen oder kleine Gegenleistungen aus dem Obst- oder Gemüsegarten. Das alles können wir heute in Deutschland wieder aktuell nachempfinden, selbst wenn man zu jung ist, um es schon selbst erlebt zu haben. Das ist ein weiteres großes Verdienst dieses Romans, der eben viel mehr als "historische Hintergründe transportiert": Er macht sie erst lebendig, fühlbar und spürbar. - Dieses Buch ist ein großer Wurf.
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