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Dienstag, 29. September 2020

"Politik des Zuhörens"? - Nein, Tiefschlaf in Sachen Kultur!

Künstler sind keine Klimatechniker, vor allem Musiker nicht. Ich habe im Nachgang eines kleinen Literaturfestivals jedoch begonnen, bezahlbare technische Lösungen vor allem für kleinere und mittlere Räume im Internet zu suchen. Gerade kleine Veranstalter mit relativ kleinen Räumen klagen in der Corona-Pandemie über enorme Probleme bei Proben und Konzerten, Lesungen oder Theateraufführungen. Aber auch die Großen, die für ihre Angestellten sogar Kurzarbeitergeld bekommen, fordern: "Lasst uns wieder arbeiten!" So etwas wie Normalbetrieb würde hier sicher mehr Einnahmen als staatliche Zuschüsse schaffen und wäre finanziell wie psychologisch besser für alle Beteiligten. Das Thema hat mir Monate lang keine Ruhe gelassen, weil ich selbst begeisterter Amateur-Chorsänger bin. Als Lyriker arbeite ich bei Lesungen mit Vereinen, Bibliotheken und Buchhändlern zusammen.

Genau das aber scheint hier mit einer überschaubaren technischen Investition eigentlich ganz leicht möglich zu sein. Auch ich bin kein Klimatechniker, habe jedoch die Studien und Empfehlungen des Instituts für Musikmedizin an der Universität Freiburg gelesen und bei meinen Recherchen einen Ansprechpartner gefunden, der auch Beratung bietet. Die Firma, die ich den geneigten Lesern zu einer genaueren Prüfung empfehlen möchte (und die mir keine Provision bezahlt!), ist zertifiziert durch die Hohenheimer Institute und gerade erst dabei, Kontakt zum Institut für Musikmedizin an der Universität Freiburg zu suchen, weil dieses Institut vor Corona kein Mensch kannte). Außerdem spricht das Unternehmen gezielt Kirchen an, die aber meist noch nichts davon wissen - und wenn, dann warten sie auf eine Erlaubnis der Obermuftis, die Geräte auch zu benutzen! Selbst Kirchenchöre dürfen daher nur in Kleingruppen proben und kaum auftreten. Kleine Veranstalter mit zu kleinen Räumen bitten scharenweise die Großen um Asyl und zahlen Miete. Dabei wäre das alles vermutlich vollkommen überflüssig.

Die Neu-Ulmer Firma heißt Dinnovative. Sie produziert Luftreiniger in unterschiedlichen Größen (je nach Raumgröße), die auch Aerosolfilter haben und anscheinend die komplette Raumluft alle 10 Minuten (!) erneuern. Es gibt diese Geräte für Büro, Praxis, Bibliothek etc. Sie sind fast unhörbar leise und eignen sich für Friseure, Arztpraxen, Nagelstudios, Hotels, Kantinen, Kirchen und nicht allzu große Konzertsäle. Danach müssten 90 Prozent aller literarischen Lesungen in Buchhandlungen, Kulturhäusern und Stadtbüchereien anstandslos wieder möglich sein. Aber was ist? Angst und tote Hose, oder besser: volle Hose!

Mehr dazu gibt es unter Luftfilter - Made in Germany <http://www.dinnovative.de/>

Weiter führende Links:
Coronavirus und Luftreinhaltung: Neu-Ulmer Firma entwickelt Luftfilter gegen Viren | Südwest Presse Online <https://www.swp.de/suedwesten/staedte/neu-ulm/corona-coronavirus-luftreiniger-test-neu-ulmer-firma-luftfilter-ventilator-aerosole-viren-50441659.html>

Neuer Corona-Luftfilter entwickelt: "99,8 Prozent werden getötet" <https://www.infranken.de/ratgeber/gesundheit/coronavirus/neuer-corona-luftfilter-entwickelt-998-prozent-werden-getoetet-art-5024369>

Dinnovative Luftfilter erfolgreich gegen Corona-Viren - Gastronomie-Report <https://www.gastronomie-report.de/luftfilter-corona-viren/>

Am hilfreichsten für alle Kulturschaffenden wäre sicher eine pragmatische Allianz von Politik, Verwaltung, Kirchen, Verbänden und Kulturträgern bzw. Veranstaltern, um das Problem zu lösen. Deshalb diese Anregung, einen Ausflug in die Welt der Klimatechnik zu machen. Nur wenn alle wichtigen Entscheidungsträger das Thema erst einmal im Blick haben, kann man hoffen, das sich nicht erst etwas bewegt, wenn es einen Impfstoff gibt und die Hälfte aller Veranstalter nicht mehr existiert.

Das Institut für Musikmedizin an der Universität Freiburg versprach noch im April, seine Empfehlungen für Chöre und Orchester würden monatlich aktualisiert. Seit dem 20. Juli kam nichts mehr. Dabei war das die Musiker-Bibel, zumindest in meinem Bundesland! Ich habe am 14. September an das Institut geschrieben und nach einer Einschätzung gefragt, was solche Geräte betrifft: keine Antwort. Ich habe das Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg mit den gleichen Fragen und Recherchen konfrontiert: Schweigen im Walde. Seit Wochen.

Was mich jedoch wirklich wütend macht, ist die Arroganz, mit der Politiker und Behörden die Berichte von Fachleuten ignorieren: Cornelius Hauptmann, Chefdirigent der Stuttgarter Oper, schrieb schon vor Wochen einen langen Artikel über seine positiven Erfahrungen von den Salzburger Festspielen, wo 900 von 1200 Plätzen der großen Felsenreitschule mit einem Schachbrett-Muster besetzt (und verkauft!) werden konnten. Gestern berichtete Hans Christoph Rademann der "Stuttgarter Zeitung" vom Musikfest Erzgebirge mit fast vollen Kirchen. Aber niemand redet mit solchen Fachleuten, obwohl für beide Veranstaltungsreihen keine einzige Infektion bekannt ist. Stattdessen will Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann Musikunterricht und Schulchöre weiterhin verbieten und zwingt Symphonieorchester zu ruinösen Auftritten vor 500 Leuten in der 2000 Plätze fassenden Stuttgarter Liederhalle. Die "eiserne Schwäbin" Eisenmann (CDU) versteht zwar nichts von Musik und Theater, bleibt aber in Sachen Kultur stur bei Vorgaben vom Mai, obwohl das Publikum für Literatur und klassische Musik das disziplinierte Publikum überhaupt ist. Auf jeden Fall disziplinierter als die Kinder, die sie distanzlos in Kitas und Schulklassen schickt. Noch schlimmer ist wohl, dass es auf den Schulhöfen eine strikte Trennung von Klassen bzw. Lerngruppen gibt, aber nur eine Raucherecke für die Älteren. "Rauchen ist tödlich": Der Slogan bekommt da eine neue Bedeutung.

Langsam greifen seriöse Journalisten (z.B. beim BR) dieses Problem und mögliche Lösungen auf. Aber eine breite öffentliche Debatte gibt es darüber bis heute nicht. Corona-Regeln werden ja anscheinend nur für Wacken oder Disco-Clubs gemacht. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Die Grünen) wackelt dabei zustimmend mit seinem greisen Haupt und gibt ahnungslos den besorgten Landesopa. Dabei stammt der Slogan von ihm, er wolle eine "Politik des Zuhörens" machen. Doch hier hört er genauso wenig zu wie seine umstrittene Kultusministerin und Stellvertreterin. Derlei Unsinn richtet schweren finanziellen und psychischen Schaden bei vielen Kulturschaffenden und beim Publikum an. Die ganze Kulturlandschaft ist davon betroffen, von der Hochkultur bis hin zum Gesangsverein. Viele Amateure und Profis werden aufgeben, viele Veranstalter schließen. All das führt zu einem weiteren großen, unnötigen Vertrauensverlust in unsere Politik, die beharrlich schöne Sonntagsreden hält und im Alltag ignoriert, das Kunst und Kultur ein Lebensmittel - nein: ein Überlebensmittel sind. 

Es mag ja sein, das Politiker, Fachleute, Großveranstalter, Verbände und Behördenleiter in Hinterzimmern bereits diskutieren, dass die Köpfe rauchen, und wirklich ernsthaft nach Lösungen suchen. Doch wenn sie dies tun, geschieht das nicht öffentlich. Und das ist nicht nur ein Skandal von erlesener Dummheit, sondern auch ein Misstrauensvotum in Richtung Volk. Für wie dämlich muss man uns halten und wie paranoid muss man sein, um zu befürchten, Aufklärung über Fragen und Probleme, die uns alle auf den Nägeln brennen, könnte gefährlich sein?! Es ist doch seltsam, dass wir inzwischen mehr über das Virus Corona Sars Cov 2 und Covid 19 wissen als über Klimanlagen, die im Vergleich zu diesem ganzen biologischen und medizinischen Fachwisssen geradezu simpel sind. 

Die Menschen können fast jede Wahrheit ganz gut vertragen, aber keine Ungewissheit. Und am wenigsten verstehen sie (mich eingeschlossen), dass sie sich mit künstlich erzeugten Unwissenheiten abfinden sollen. Wenn das Problem ist, dass wir gute Geräte haben, aber die Hersteller nicht genug liefern können, sagt es uns. So etwas lässt sich ändern, und dafür Millionen oder auch Milliarden in die Hand zu nehmen, macht jedenfalls Sinn. Wenn wir noch keine guten Geräte haben, dann sagt uns das! Wir verfolgen fast täglich im Fernsehen den Entwicklungswettlauf der Pharmaindustrie um Impfstoffe gegen Covid 19 und bekommen keinen Nervenzusammenbruch, weil die Sache sich hinzieht. Also, wenn Raumluftreiniger besser, billiger, besser verfügbar sein müssen, sagt es uns verdammt noch mal! Dann kann man herausfinden, wo die Probleme liegen, und sich an die Arbeit machen, um sie zu lösen. Und wenn wichtige wissenschaftliche Untersuchungen fehlen, dann macht sie endlich und tut die Ergebnisse allen kund! Aber wacht endlich auf. Die letzten sechs Monate habt Ihr fest geschlafen oder Öffentlichkeit lebenswichtige Informationen vorenthalten.

Montag, 21. September 2020

Lost Places der Kultur in Stuttgart: Die Villa Berg und das alte SWR-Fernsehstudio


Wir haben Lost Places in Stuttgart besucht: Die historische Villa Berg im gleichnamigen Park soll endlich saniert werden. Meine Bilder von heute zeigen noch ein letztes Mal 20 Jahre Stillstand und Verfall: Tiefgaragen, die seit langer Zeit keinem Auto mehr Parkraum bieten: einfach zu. Ein wunderschöner Park mit altem Baumbestand, der legendäre Sommerfeste, Open Air Konzerte und Produktionsfeten gesehen hat. 

 

 

 

 

 

Hier habe ich meine Frau kennen gelernt und ein ganzes Arbeitsleben verbracht.

Das einst schönste Casino Deutschlands mitten im Grünen soll abgerissen werden, ebenso die alten SDR-Fernsehstudios, damit ein Investor dort teure Eigentumswohnungen bauen kann.

Wir sahen Bauzäune, um die schon Efeu, Wein und Geschichten von Künstlerkarrieren, Amouren und Besoffenheiten ranken. Seit 2005 steht das Gebäude leer, gebaut 1853 als  Sommerresidenz des württembergischen Kronprinzen- und späteren Königspaares Karl und Olga. 1913 kaufte sie die Stadt, 1955 ging sie an den Süddeutschen Rundfunk (SDR) der einen Sendesaal für Live-Übertragungen und Konzerte einbaute. 2007 verkaufte er die Villa Berg und cdie dazugehöprigen Fernsehstudios an eine Investorengruppe. Als die in Konkurs ging und auch eine weitere Investorengruppe nur Stillstand produzierte und so den Verfall beschleunigte, kaufte die Stadt Stuttgart 2010 das Anwesen für 300 000 Euro zurück und will jetzt für 64 Millionen den Bau sanieren und zu erinem Kunst- und Kulturzentrum machen. Zehn weitere Jahre geschah nichts außer einer Bürgerbefragung über ein Nutzungskonzept. Es wird Neues entstehen - auf Ruinen.

Ab dem kommenden Jahr soll gebaut werden bzw. abgerissen, und dann wird nichts mehr so aussehen sie heute. Eine zentrale Stätte der Stuttgarter Kulturgeschichte wird verschwinden. Mit blutet das Herz, wenn ich daran denke.

Jetzt, in der Übergangszeit, zieren Porträts von Musikern, Sängern, Schowmastern und Schauspielern die großen vernagelten Fenster, weil sie hier gearbeitet haben. Vor allem meine Frau hat viele von ihnen als Studiofotografin abgelichtet und auch privat kennen gelernt. Von Harry Belafonte konnte sie gar nicht mehr aufhören zu erzählen. Es war einmal und wird nicht mehr. Aus die Maus. Babala.

Ein denkmalgeschützter und trotzdem einsturzgefährdeter Sendesaal, in dem viele Weltkarrieren begonnen haben, unter anderem von Wolfgang Dauner und Harald Schmidt. Ein verwunschener Studiobau, wo heute noch das SWR Vokalensemble und das SWR Symphonieorchester mit Teodor Currentzis proben. Wie viele Interviews habe ich hier gemacht? Wie viele Arbeitsbesprechungen mit Detlef Clas, dem Leiter der Hörfunkredaktion "Wissen", und seinen Kolleginnen & Kollegen?


Kostbare Art-Deco-Leuchten stehen im Park um die alte Villa, mit Farbe beschmiert oder durch Hydranten "verziert" wurden. Tröge für Pferde, die hier nicht mehr saufen. Studiogebäude, die der Park langsam überwuchert. 

 

 

 

 

 

Die Terrassen zur Stadt hin sind gesperrt und verfallen weiter. Nur wo früher Rentner mit großen Holozfiguren auf einem Schachbrett im Boden spielten, sah ich noch einen einsamen Bodybuilder mit einer schweren Steinplatte trainieren. Er muss irgendwo über den Zaun geklettert sein, um in Ruhe seinem Sport frönen zu können.

Von den Beeten und Blumenrabatten sind nur noch die steinernen Umfassungen zu sehen. Es stehen sogar noch einzelne verwitterte Sitzbänke. Für uns Ort vieler Mittagspausen.

Auf der Rückseite der Villa sieht man, dass schon Bäume auf dem Dach Fuß gefasst haben. Noch augenfälliger: Der Park wird wohl auch für polizeilich unerwünschte abendliche oder nächtliche Partys während der Corona-Pandemie genutzt.

Tagsüber sind Radfahrer, Jogger und Badminton-Spieler zu sehen, aber auch Familien mit kleinen Kindern.

Ich will gar nicht wissen, wer sich nachts hier herumtreibt. Der Mann vom Betriebssschutz, der sich mit einem Elektroauto anschleicht, könnte dazu wohl einiges erzählen.

Hier haben wir ein ganzes Arbeitsleben verbracht. Und überall das Stuttgarter Wahrzeichen des 21. Jahrhunderts: Bauzäune. Irgendwie, ich kann mit nicht helfen, ist das für mich zu einem Symbol für die Entwertung kreativer Arbeit in den letzten 20 Jahren geworden.

In diesem Park wohnt eine große Schar lauter Gelbkopfamazonen. Die Fachleute rätseln, ob die ersten der akklimatisierten Tropenvögel aus der nahen Wilhelma in die Freiheit flogen oder aus einem Käfig geflüchtet sind.

Auf dem Hof der so genannte Ü-Garage parken keine Übertragungswagen mehr, sondern Baumaschinen. Hier bin ich als Videotext-Redakteur wohl tausend Mal durch einen heute zugeschütteten Tunnel den Hügel hinunter in den Hörfunk gelaufen, wenn ich etwas aus der Nachrichtenredaktion holen musste oder einen Nebenjob im Studio hatte.

In der Ü-Garage roch es immer nach Holz und Leim, weil nebenan die Kulissenwerkstatt lag. Auch Busse mit Studiogästen kamen oft hier an, weil die Wendeplatte frei bleiben musste.


Samstag, 19. September 2020

Verlorener Komponist & Teufelsgeiger, weiblich

Das erste Konzert des SWR Symphonie Orchesters nach sieben (7) Monaten in der Stuttgarter Liederhallle begann in einder unwirklichen Atmosphäre: Die Politik erlaubt nur 500 Zuhörer in einem Raum mit 2000 Plätzen, obwohl wir das seit den Salzburger Festspielen besser wissen. Das Publikum war kulturell dermaßen ausgehungert, dass man ihm gestern vermutlich auch Christian Lindner als musikalische Messias hätte vorsetzen können. Das Programm, das Chefdirigent Teodor Currentzis mit einem Teil der Musiker bot, war mit Helmut Lachenmann (2. Bild) zunächst leider nur orchestriertes Gestammel und Theatermusik ohne auch nur eine einzige Harmonie. Was der 85jährige als "Zwei Gefühle - Musik mit Leonardo für Sprecher und Ensemble" rezitierte, war leider nur verhackstückte Sprache. Das konnte Kurt Schwitters schon vor 100 Jahren besser. 

Warum man ausgerechnet Leonardo da Vinci braucht, um Irritation und scheinbare Aktualität zu formulieren, ist mir ein Rätsel. Doch dann kam Patricia Kopatchinskaja und rettete den Abend. Mit der Auftragskomposition "Possible Places For Violin And Ensemble" von Dmitri Kourliasnski ( * 1976) zeigten Solistin und Orchester, dass Neue Musik mehr ist als akustische Umweltverschmutzung bzw. der Missbrauch ungeeigneter Instrumente zur Erzeugung ohrverletzender Geräusche.

Vor allem mit der barocken "Battaglia für Streicher und Basso Continuo" von Ignaz Franz Biber verführte die Kopatchinskaja Orchester und Publikum zu Lust und Spielfreude voller Rhythmus und Tempo jenseits musikalischer Altersgrenzen. Teils als lockendes Weib, teils als Amazone, die Geige und Bogen wie Schwert und Schild führte, zeigte sie echtes Musiktheater und mitreißend viel Spaß an der Freude. Wie groß ihre musikalische wie darstellerische Bandbreite ist, war in dem rührenden Duett mit Teodor Currentzis zu sehen und zu hören, mit dem das lyrische Poem "Anahit" von Giacinto Scelsi begann (1905 - 1988): Sie sang, wie der Dirigent am Boden sitzend, zur zarten Melodie eines alten Kinder- oder Liebesliedes. Ihre Körpersprache ganz Kind, ganz mädchenhafte Unschuld in Weiß. Auch dann, als alle Harmonie und Träumerei längst abgestreift war und sie die Geige wie um ihr Leben spielte. Man muss Currentzis lassen, dass es ihm immer wieder gelingt, Solisten ganz sie selbst sein und Neues ausprobieren zu lassen. Da flog nicht nur die Haartolle des Chefs, sondern auch sein Schal. So wurde, was in humorlosem teutschen Bierernst begann, doch insgesamt ein großartiger Konzertabend.


Sonntag, 13. September 2020

Wild, bunt, lebendig: Grafitti-Kunst im Stuttgarter Hauptbahnhof

Eben zurück vom Hauptbahnhof Stuttgart. Dessen für S21 verwüstete Große Halle hat das Kunstmuseum jetzt für eine internationale Street Art Ausstellung (Grafitti-Kunst) genutzt. Nach meiner Meinung ist die das Beste, was diesem Bonatz-Bauwerk seit Jahren geschieht: eine aktuelle Demonstration von Weltoffenheit, Vielfalt, Humor und Lebensfreude inmitten von Destruktion, Chaos, Hass und Corona. Bis zum, 31. Januar 2021 kann man sehen, was Künstler aus aller Welt hier machen und gemacht haben. Schon jetzt, noch vor der offiziellen Eröffnung, ist die Schau ein beliebter Selfie-Treffpunkt nicht nur für junge Leute und Durchreisende. Das Publikum ist so bunt gemischt wie die Stile und Bilder. So viel Leben in einem für tot erklärten Bau ist einfach eine Wucht und haut mich aus den Socken, obwohl das überhaupt nicht meine Kunstrichtung ist.

Wer genau hinschaut, entdeckt die beliebten Comic-Figuren der hintersinnigen Dialekt-Cartoons Äffle und Pferdle neben einer mittelalterlichen Pestmaske aus Venedig, teils witzigen und teils melancholischen Blicken auf das, was die Menschen seit dem Lockdown durch die Pandemie beschäftigt: Die Suche nach einem Impfstoff in einem tierischen Labor, das anmutet wie die Karikatur der Suche nach dem Stein der Weisen durch mittelalterliche Alchimisten. Das Horten von Klopapier. Mutter-Kind-Dramen mit Maske. Sehnsucht. Sex und Distanz. Gewalt, Albträume, aber auch Phantasiegestalten aus dem Pandämonium der Surrealisten, arabische Kalligraphie. 

 

 

 

 



 

 

 

Dienstag, 8. September 2020

FREIHEIT FÜR MARIA KALESNIKAVA - ein offener Brief von Kulturschaffenden an Merkel

Hier ein ein Offener Brief von Kulturschaffenden an die Bundeskanzlerin bezüglich der Verschleppung von Maria Kalesnikava.

Jochen Sandig, Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele, war dieser Tage mit Maria Kalesnikava im Austausch über eine künstlerische Zusammenarbeit im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele 2021.

Mit herzlichen Grüßen,

Christine Diller, 

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

 

OFFENER BRIEF – „FREIHEIT FÜR MARIA KALESNIKAVA“

 

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

 

am frühen Morgen des 7. September 2020 ist Maria Kalesnikava im Stadtzentrum vom Minsk von maskierten Männern in einem schwarzen Lieferwagen entführt worden. Seither fehlen gesicherte Informationen über ihren Verbleib. Agenturmeldungen zufolge wurde von staatlicher weißrussischer Seite am heutigen 8. September der Versuch unternommen, sie und ihre Kollegen Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow in die Ukraine abzuschieben. Rodnenkow und Krawzow befinden sich demnach mittlerweile in der Ukraine. Maria Kalesnikava soll sich jedoch einer Abschiebung durch Zerreißen ihres Reisepasses widersetzt haben. Man muss davon ausgehen, dass sich Frau Kalesnikava jetzt in Gewahrsam der weißrussischen Sicherheitskräfte bzw. des Geheimdienstes KGB befindet.

Frau Kalesnikava ist eine belarussische Musikerin, Kuratorin, die Art-Direktorin des Minsker Kulturprojektes „Ok16“ und ein führendes Mitglied des Koordinationsrats der Belarussischen Opposition. Zuvor hatte sie 12 Jahre in Stuttgart studiert und gearbeitet, u.a. als PR-Managerin des renommierten Neue-Musik-Festivals ECLAT. Sie leitete mehrere Projekte in Stuttgart und Minsk u.a. in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut.

Diese Entführung hat sich vor dem Hintergrund der massiven Zivilproteste in Belarus ereignet, die seit den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 andauern und jede Woche Hunderttausende Menschen im ganzen Land auf die Straßen bringen. Maria Kalesnikava war die Vertreterin des Wahlkampfstabs des Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko, den das Lukaschenko-Regime hinter die Gitter gebracht hat. Zusammen mit der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanovskaja, die nach unabhängigen Schätzungen die Wahl gewonnen hat, sowie mit Veronika Tsepkalo, der Frau des Präsidentschaftskandidaten Valeri Tsepkalo, bildete Maria Kalesnikava die Spitze der Protestbewegung. Ihre Mitstreiterinnen Tichanowskaja und Tsepkalo wurden beide von den belorussischen Geheimdiensten gezwungen, das Land zu verlassen. Tichanowskaja berichtete, man habe sie und ihre Kinder bedroht. 

Da es seit Wochen Berichte über Folter, Gewalt und Entführungen in Belarus gibt, sind wir zutiefst besorgt über das Schicksal von Maria Kalesnikava.

Wir begrüßen, dass Bundesaußenminister Heiko Maas sich gestern sehr deutlich öffentlich zu diesem Fall geäußert hat. Frau Bundeskanzlerin, wir appellieren heute mit höchster Dringlichkeit an Sie, dass Sie persönlich – auch vor dem Hintergrund Ihres Vorsitzes in der Europäischen Union – gemeinsam mit Ihren europäischen Amtskollegen alle politischen Möglichkeiten ausschöpfen, um den Verbleib von Frau Kalesnikava schnell aufzuklären, ihre Sicherheit zu gewährleisten und ihre sofortige Freilassung zu erwirken.

Mit herzlichem Dank im Voraus und freundlichen Grüßen

Christine Fischer, Intendantin Musik der Jahrhunderte, Leiterin Festival ECLAT

Prof. Martin Maria Krüger, Präsident Deutscher Musikrat e.V., Vorsitzender Musikfonds e.V.

Gerhart R. Baum, Bundesminister a.D., Vorsitzender des Kulturrats NRW

Petra Olschowski, Staatssekretärin Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg

Dr. Julia Cloot, Präsidentin Internationale Gesellschaft für Neue Musik, Deutsche Sektion

Viktor Schoner, Intendant Staatsoper Stuttgart

Jochen Sandig, Intendant Ludwigsburger Schlossfestspiele

Sasha Waltz, Choreographin

Sergej Newski, Komponist

Katja Petrowskaja, Schriftstellerin 

Manos Tsangaris, Direktor der Sektion Musik der Akademie der Künste Berlin, Künstlerischer Leiter Münchener Biennale

Björn Gottstein, Künstlerischer Leiter Donaueschinger Musiktage

Dr. Regula Rapp, Rektorin Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart

Paul-Georg Dittrich, Regisseur 

Miron Hakenbeck, Dramaturg 

Titus Engel, Dirigent

Viktoriia Vitrenko, Vorstand InterAKT Initiative e.V.

Jasmin Schädler, Vorstand InterAKT Initiative e.V.

Vincent Stefan, Musiker, Regisseur, Komponist 

Steven Walter, Leiter Podium Esslingen

Hanns Zischler, Schauspieler, Schriftsteller

Samir Odeh-Tamimi, Komponist, Stellv. Direktor Sektion Musik Akademie der Künste Berlin

Julia Gerlach, Sekretär der Sektion Musik Akademie der Künste

Rainer Pöllmann, Musikredakteur und Co-Leiter Festival Ultraschall Berlin

Lucia Ronchetti, Komponistin

Katharina Raabe, Lektorin, Suhrkamp Verlag

Ilma Rakusa, Übersetzerin

Jens Cording, Kulturmanager

Elke aus dem Moore, Direktorin der Akademie Schloss Solitude

Martina Grohmann, Intendantin Theater Rampe

Paula Kohlmann, Dramaturgin Theater Rampe

Dr. Lydia Jeschke, Redaktionsleitung Neue Musik und Jazz im SWR

Dr. Stefanie Stegmann, Leitung Literaturhaus Stuttgart

Kerstin Preiwuß, Schriftstellerin 

Thorsten Schütte, Filmakademie Baden-Württemberg

Ulrike Groos, Direktorin Kunstmuseum Stuttgart

Hans-Georg Kaiser, Intendant Freiburger Barockorchester

Hans D. Christ, Direktor Württembergischer Kunstverein

Iris Dressler, Direktorin Württembergischer Kunstverein

Prof. Martin Schüttler, Komponist, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart

Prof. Angelika Luz, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart

Franz Martin Olbrisch, Vizepräsident Internationale Gesellschaft für Neue Musik, Deutsche Sektion