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Mittwoch, 17. August 2022

Ein vergleichender Kognitionsforscher stellt fest: Intelligenzbestien überall

Ein Kea (Neuseeland)
Ludwig Huber: Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche. 670 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 354,00 €, Suhrkamp Verlag 2021

Um des gleich zu sagen: Wir Menschen haben weder Intelligenz noch Moral gepachtet. Dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind, hat sich schon länger herumgesprochen. Aber erst Ludwig Huber von der Veterinärmedizinischen Universität Wien macht deutlich, dass man Intelligenzbestien im Tierreich an Land ebenso findet wie in der Luft oder unter Wasser. Sein Buch begründet sozusagen einen neuen, interdisziplinären Zweig der Naturwissenschaft, der Philosophie und Psychologie, Biologie und Verhaltensforschung umfasst. Als Gründer und Leiter des Messerli-Forschungsinstituts für Mensch-Tier-Beziehungen an der erwähnten Universität hat er sich der Erforschung sowohl der kognitiven als auch der emotionalen Fähigkeiten von Tieren verschrieben. So gesehen ist der Titel des vorliegenden Werkes von geradezu britischem Understatement geprägt. Huber tritt damit in die großen Fußstapfen von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Hatte der große Verhaltensforscher Lorenz eindrucksvoll Bindungen zwischen Tieren und Menschen beschrieben und demonstriert (legendär wurden seine Graugänse, bei denen er erfolgreich die Mutterrolle übernahm), so übertrug sein Schüler Eibl-Eibesfeldt dessen Erkenntnisse in die menschliche Verhaltenspsychologie und definierte universale kulturelle Konstanten der Wahrnehmung und der Ethik, die er in der Evolutionsbiologie verankerte. Eibls Expeditionen zu den Galapasgosinseln und seine eindrucksvollen Tierfilme, die er gemeinsam mit dem Meeresforscher und Zoologen Hans Hass drehte, zeigen ihn auch als Medienprofi und Schriftsteller. Huber geht mit seinen 58 Jahren so viel weiter, dass einem angesichts des angesammelten, systematisch strukturierten und ausgebreiteten Wissens  schwindelig werden kann.

Auf die Frage, ob man Tieren Geist zuschreiben könne, antwortet er eindeutig: "Ja, Tiere haben unzweifelhaft mentale Fähigkeiten, die über rigide, instinktgebundene Handlungskontrolle hinausgehen und damit flexibles Verhalten und vor allem das Lösen von neuartigen Problemen ermöglichen." Sprache und Bewusstsein, besonders von Philosophen, Anthropologen und Linguisten als Alleinstellungsmerkmale des Menschen herausgestellt, die ihn einzigartig machen. Huber zweifelt das an keiner Stelle an, weist aber nach, dass sich die einzigartigen Fähigkeiten des Menschen auf eine breite Palette biologischer Mechanismen stützt, die wir mit anderen Tieren teilen, die ebenfalls kommunizieren und Wissen wie auch Emotionen mitteilen. Er plädiert daher für eine abgestufte Sicht der Dinge. Menschenähnliche  Leistungen sind ja nicht nur bei Menschenaffen wie Schimpansen zu beobachten, sondern auch bei bestimmten Papageien und Rabenvögeln, ja sogar Fischen, Reptilien, Fröschen, Bienen und Tintenfischen. Sicher ist die menschliche Kultur nicht zuletzt in ihrer Vielfalt einzigartig, doch man sollte das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Obwohl die Gehirngröße eine gewisse Aussagekraft bezüglich der Intelligenz hat, ist doch die Struktur, der Aufbau des Gehirns und die Art der Verschaltung zwischen den Neuronen von großer Bedeutung. So kommen Keas oder manche Krähenarten mindestens so schlau weg wie Schimpansen. In der Spitzengruppe liegen auch Kraken, Wale und Delfine. 

Eine breite Öffentlichkeit begeisterte zudem der Bordercollie, der mit seinem enormen Gedächtnis und einer unglaublichen Gabe fürs Lernen von Wörtern vor einigen Jahren in der ZDF-Sendung "Wetten, dass..." mit Thomas Gottschalk. Ein Nebenraum war mit Hunderten von Plüschtieren gefüllt, und der Hund lief auf Zuruf "Bring..." los und holte etwa "Micky Maus". Zum Schluss löste ein kreativ eine richtige Denksportaufgabe: Die Tiertrainerin schickte ihn los, um ein neues Plüschtier zu holen, das er noch nie gesehen hatte. Er lief los, blieb eine Weile weg und brachte dann das richtige Tier. Es war das einzige, das er nicht kannte, und das hatte er im Ausschlussverfahren identifiziert. Das war schon beeindruckend, zumal Hunde sonst nicht für überragende Intelligenzleistungen aufgefallen sind.

Tiere gebrauchen Werkzeuge und stellen sie her, verstehen logische Zusammenhänge beim Verstecken von Futter und Stehlen, beim Austricksen körperlich überlegener Konkurrenten oder menschlicher Zoowärter. Jeder, der ein Haustier hat, kann ein Lied davon singen. Je verspielter, desto mehr sind Hindernisse auf dem Weg zum Leckerbissen nur eine kreative Herausforderung. Tiere können wir wir planen (etwa wie man Vorräte anlegt), sie haben ein Gedächtnis und können in gewissen Weise "Gedanken lesen", d.h. sich in ein Gegenüber hineinversetzen und dessen Handlungen voraussehen. Sie nutzen eine Vielzahl von "Sprachen", von Warnrufen angefangen bis hin zu komplizierten Balz-Choreographien oder dem "Schwänzeltanz" der Honigbienen, die den Kolleginnen genau mitteilen, wo sie eine neue oder besonders ergiebige Futterquelle entdeckt haben.

Ein Wermutstropfen bei dieser lehrreichen Lektüre ist für meinen Geschmack ein Übermaß an Metastudien. Ich muss nicht die Entwicklung jeder Etappe der Forschung durch jede Schule von Lehrmeinungen in allen beteiligten Disziplinen ausführlich im Für und Wider diskutieren (auch wenn sie inzwischen überholt bzw. widerlegt sind). Da wäre es eine Hilfe gewesen, bei jedem der neun Schwerpunktkapitel eine kurze Zusammenfassung zu haben. Das Buch ist schon so dick geworden, da hätte das wohl kaum geschadet, aber der Lesbarkeit einen einen großen Dienst erwiesen.

Huber beendet seine faszinierende Reise durch die Kognitionsforschung mit einem wirklich übersichtlichen Resümee in 7 Punkten und einer Plädoyer für mehr Verantwortung gegenüber Tieren. Er will nicht nur zeigen, was wir heute üben den Geist von Tieren wissen und wie die Forscher das herausgefunden haben, sondern auch, wozu das gut ist: "Um sie zu retten, müssen wir uns kümmern und kümmern können wir uns nur, wenn wir sie verstehen", sagt er über die oft irrationale und ethisch fragwürdige Einstellung gegenüber Tieren. Beim Italiener muss man ja nicht immer Tintenfisch essen, es gibt auch sehr leckere Pasta-Gerichte. Rühren kann uns auch, was Huber über seine Schweine-Versuchsfarm schreibt: Hausschweine gibt es indessen ja schon häufiger. Wer eins hat, weiß, wie schlau und reinlich die netten Kerlchen sind. Mäuse und Ratten ebenfalls. Das Buch ist also weit mehr als nur eine manchmal etwas mühsame Fleißlektüre zur Befriedigung der Neugier. Ihn treibt auch ein moralischer Imperativ besonders bei Tieren, die wir essen oder bei Tierversuchen einsetzen. Damit ist Huber nicht nur auf der Höhe der Zeit, er sagt Grundsätzliches. Sein Buch dürfte ein Klassiker seiner noch jungen Wissenschaft werden.
 

 

 

Freitag, 12. August 2022

Peter Frömmig: Sedimente der Zeit. Essays und Erzählungen. Reihe Fragmentarium Bd. 25, 361 Seiten, ISBN 978-3-86356-344-8, €[D]21,00

 "Ich bevorzuge Brücken, über die man ohne Beeinträchtigung gehen kann, die auch zum Verweilen einladen. Solche Brücken können ein Gefühl von Leichtigkeit vermitteln und Inspiration hervorrufen. Luftig über dem Wasser, das kraftvoll strömt oder gemächlich dahin fließt, dabei einen festen Halt haben, aufs Geländer gelehnt und die Gedanken dem Fließen überlassen". So schreibt Peter Frömmig zu Beginn seiner "Reflexionen über Brücken", die den Erzählband eröffnen. Wäre er Ingenieur geworden, so der Autor, hätte er sich wohl am liebsten dem Bau von Brücken gewidmet. Und dann erzählt er exemplarisch von der Brücke, die in Tübingen über den Neckar und den Hölderlinturm in die Altstadt führt, der Brücke über die Mulde nahe seiner Geburtsstadt Eilenburg bei Leipzig oder die große Rheinbrücke bei Speyer, deren Einweihung er 1956 als Kind erlebte.

Nicht erzählt er von den Salzburger Brücken über den reißenden Gebirgsfluss Salzach. Über den Mozartsteg, der mit seinen Holzbohlen und seiner luftigen, eleganten Tragekonstruktion ganz seinem Ideal entspricht, sind wir in unserer Jugend beide viele hundert Male hin und her gelaufen zwischen der verwinkelten touristischen Altstadt mit den Stätten der Salzburger Festpiele, dem Dom, dem Café Tomaselli, der Getreidegasse und der alten Universität, wo früher ein Gymnasium war. Thomas Bernhard, Peter Handke und später auch ich teilen schmerzhafte Erinnerungen daran. Peter lief aus der Altstadt über den Mozartsteg wohl oft in die Steingasse am anderen Ufer, wo er einige Jahre lang wohnte. Sie schmiegt sich eng an den Felshang des Mönchsberges und endet hinter dem Hotel Stein, in dem Carl Amery sich das Leben nahm, unweit der Staatsbrücke, über die der Autoverkehr rauscht und über die man aus der Altstadt zum Mozarteum und zu Peters Lieblingscafé Bazar gelangt. Für mich war der Mozartsteg Teil des Schulwegs. Doch Peters Brückenmetapher hat mich in den Strudel eigener Erinnerungen gerissen. Von den unterschiedlichen und gemeinsamen Erinnerungen haben wir 2001/2002 in dem dialogischen Hörbild "Zwischen Getreide- und Steingasse. Salzburg in der Erinnerung" erzählt.

Die "Sedimente" sind nach Art eines Tryptichons aufgebaut: Ein stark autobiografischer Mittelteil "Weg ins Offene", der Etappen von Frömmigs künstlerischen und schriftstellerischen Werdegangs präsentiert, ist eingebettet in seine sehr eigene Bücherwelt. Da umgibt er sich mit allen Autoren, die ihm zeitlebens wichtig waren und sind: Christoph Meckel, Nicolas Born, Peter Handke, Hermann Lenz, Robert Walser und C.H. Artmann, auf dessen Spuren wir in Salzburg gemeinsam unterwegs waren, sind nur die wichtigsten. Sie wurden zu seinen Vorbildern und teils auch seinen persönlichen Mentoren. Der erste Teil bzw. linke Flügel des Tryptichons heißt "Vor und zurück". Er beschreibt die geografischen und intellektuellen Suchbewegungen eines jungen Menschen, der seine Identität und Bestimmung noch nicht gefunden hat. Der dritte Teil oder rechte Flügel mit dem Titel "Vertraute der Schrift" enthält viele neue Texte, die in früheren Publikationen noch fehlen. Es sind in der Hauptsache Porträts von Schriftstellern mit Würdigungen ihrer Werke. Die Auseinandersetzung damit ist nicht theoretisch wie bei vielen Kritikern, sondern praktisch und handwerklich, aus der Sicht des Schreibenden. So gesehen ist das vorliegende Buch weit mehr als ein erzählender Sammelband. Es ist das Buch eines Künstler- und Dichterlebens.

Peter Frömmig, 1946 in Eilenburg bei Leipzig geboren, lebt und arbeitet als Schriftsteller und bildender Künstler in Marbach am Neckar. Schreibt Erzählungen, Essays, Kurzprosa und Gedichte. Zuletzt erschienen u.a. die Bände Im Lichtwechsel. Vier Geschichten zwischen Tag und Nacht (2002), Anderswo. Novelle aus diesen Tagen (2005), Der Strand gehört dem Strandgut. Gedichte und Lieder (2007), Auf langen Wegen in kleiner Stadt, Essay (2010), Am Leben sein. Gedichte und Collagen (2012) sowie Das Rumoren am Rande der Ereignisse. Erkundungen auf Nebenschauplätzen. Prosa-Miniaturen und kurze Geschichten. 2014.

Lieferbare Titel von Peter Frömmig

– „Das Rumoren am Rande der Ereignisse. Erkundungen auf Nebenschauplätzen. Prosa-Miniaturen und kurze Geschichten. Mit einem Nachwort von Rainer Wochele. edition monrepos Band 5.ISBN 978-3-86356-066-9142 Seiten, €[D14,50

– „Das Haus, in dem die Wörter wohnen.“ Gedichte und Bilder für Kinder und Erwachsene. edition monrepos Band 13. 144 Seiten, ISBN 978-3-86356-143-7, €[D15,50

– „Die Wörter gehen ein und aus„. Gedichte und Bilder. Kids Samlung Bd. 3, 45 Seiten, ISBN 978-3-86356-245-8, €[D]9,90

 

Donnerstag, 4. August 2022

Und wieder die Abgründe der Geschichte: Spionage im Dienst der Aufklärung

Martin von Arndt: Autor, Musiker
Martin von Arndt: "Wie wir töten, wie wir sterben": Roman, Verlag ars vivendi, 296 Seiten, 19 €

Er hat es wieder getan: einen genialen Mix aus skandalöser Enthüllungsstory und Politthriller geschrieben, dieser Martin von Arndt. Ein Fahrradfahrer, Punkmusiker und Romancier aus Leidenschaft. Sein Name klingt wie von altem Adel, sehr deutsch, führt aber in die Irre. 1968 wurde dieser freundlich lächelnde Mann als Sohn ungarischer Eltern geboren, die vor den Kommunisten über den eisernen Vorhang getürmt waren. Und weil Spionage wohl auch in der Verwandtschaft vorkam, sollte der Name ein wenig Schutz bieten und ein unbelastetes Leben im freien Westen ermöglichen. Das Ergebnis ist eine Existenz zwischen Essen und Stuttgart, Literatur und Musik. Aber immer im Clinch mit den großen historischen Traumata der Deutschen und ihrer Opfer. Die Folgen des Ersten und Zweiten Weltkrieges für Europa und die Welt haben es von Arndt angetan. Seine Antihelden waren immer (und sind noch heute) "freie" Ermittler und Ex-Polizisten oder Geheimdienstler, gezeichnet von den Schrecken des Krieges, und sie jagen die Profiteure des Schreckens. 

Diesmal ist es vor allem der abgehalfterte US-Agent und Preisboxer Dan Vanuzzi. 1961 wird er in Bonn vom französischen Auslandsgeheimdienst angeheuert, weil der sich in Deutschland nicht so frei bewegen kann, weil er unter Beobachtung durch die Siegermächte steht. Vanuzzi soll zwei Mitglieder der algerischen Befreiungsarmee finden und den Franzosen ausliefern, die ihnen Verbrechen im seit sieben Jahren tobenden Algerienkrieg vorwerfen. Um die beiden aufzuspüren, muss Vanuzzi seine ganze Erfahrung aus 20 Jahren Agentendienst einsetzen. Doch schnell wird klar, dass er nur die Drecksarbeit für zwielichtige Figuren machen soll. Niemand ist der, der er zu sein scheint. Und niemand sagt ihm die Wahrheit. 

Daher kontaktiert Vanuzzi seinen alten Kampfgefährten Rosenberg vom Mossad, der als Nazijäger in der BRD hinter dem ehemaligen KZ-Kommandanten Arthur Florstedt her ist, den er nach Israel entführen soll. Die beiden helfen sich gegenseitig, vor allem bei Beschattungen. Florstedt ist bestens vernetzt im politischen Bundesdorf und geht im Kanzleramt ein und aus. Doch auch beim Mossad regieren Kameradenschweinerei und Verrat. Weshalb sich Rosenberg am Ende mit sämtlichen Unterlagen in die US-Botschaft flüchtet und um Asyl bittet. Vanuzzi dagegen erkennt, dass seine französischen Auftraggeber die eigentlichen Kriegsverbrecher sind, koloniale Motive haben und gern Zeugen ihrer eigenen Verbrechen beseitigen wollen.

Martin von Arndt bringt hervorragende Ortskenntnisse aus der Region zwischen Bonn und Essen mit, recherchiert wieder einmal brilliant und hat ein famoses Gespür für die Feinheiten des geheimdienstlichen Versteckspiels. Da er Sportbox-Amateur ist, sind auch seine fachlichen Beobachtungen bei Vanuzzis Boxkämpfen vom Feinsten. Passt alles. Man muss nur höllisch aufpassen, dass man die vielen ineinander verwebten Handlungsfäden aus französischer Kolonialgeschichte und Holocaust nicht durcheinanderbringt.