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Freitag, 17. Juli 2020

Gedichte von Amiran Swimonischwili: Der Sound reiner Poesie

Band 22 der Kaukasischen Bibliothek im Pop Verlag Ludwigsburg ist eine repräsentative Auswahl und gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: "Amiran Swimonischwili - Gedichte" (192 Seiten, 19,50 €), übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Thomas Häussermann.

Das Buch ist eine Kostbarkeit - nicht nur weil es zweisprachig ist und dadurch auch einen Blick auf die Schönheit der georgischen Schrift erlaubt. Es ist auch die Frucht der geradezu symbiotischen Freundschaft zwischen dem Dichter aus Tbilissi (1974 - 2014) und dem Germanisten, Slawisten und Pianisten Thomas Häussermann aus Zürich (geboren 1947). Der Sprachwissenschaftler und Musiker hat ein Gehör dafür und merkt schnell: Swimonischwilis Gedichte sprechen nicht bloß, sie singen geradezu. Im georgischen Original, so kann man lesen, spielt der Dichter souverän mit dem großen Konsonantenreichtum der Sprache, der zahlreiche Assonanzen und damit sehr verschiedene Reimformen erlaubt, ganz zu schweigen von den opulenten Metaphern, Anpielungen und Zitaten. So etwas lässt sich in Übersetzungen nicht abbilden. Dafür bemühte sich Häussermann konsequent um eine gleichmäßige Metrik, die ebenfalls "klingt". Von Beginn an erkennt der Leser hier die Tradition einer Lyrik, die sich im Gegensatz zur europäischen nie ganz von hergebrachten Formen gelöst hat, sondern sie vielmehr weiter entwickelt wie auch den christlichen Hintergrund des kleinen Landes am Kaukasus. Der feierliche "hohe Ton" gehört genauso dazu wie ein bewusst eingeplanter Rest rätselhafter, archaischer Dunkelheit:

MAN FEIERT DEIN FEST auf dem großen, grünen Feld - 
vom Morgengraun bis zum Frühlicht rötet der Biss
des Löwen das Kleid des Tods, den verlorenen Mond,
und zur Grabstätte bringst du Zeichen des Frühlings.

Weich lässt das Feld den Schopf Adams erschauern,
sprachlos folgt die Erde jedem deiner Schritte.
Gipfeln wendet sich der gute Hirte zu,
unten breiten Unwetter Wolkenstränge aus.

Häussermann betont mehrfach, dass der Dichter sich stets weigerte, seine Texte zu erklären oder zu kommentieren. Da mag ein wenig Koketterie im Spiel sein, doch das ist ja in der Poesie so selten nicht. Mit seinen Gedicht-Kommentaren und im Nachwort versucht der Übersetzer - wie ich finde, sehr erfolgreich - "einem interessierten Leser helfen, die Distanz zwischen Georgien und dem deutschsprachigen Raum, zwischen dem (vor Corona, Anm d. Autors) in einigermaßen geordneten Bahnen dahinlebenden Euopa und dem von der aktuellen Geschichte gebeutelten Kaukasus wenn nicht überwindbar, so doch erkennbar zu machen."
Auffallend häufig sind die christlichen Motive und biblischen Anspielungen oder Zitaten. Das hat sicher mit einer Rückbesinnung auf christliche Traditionen zu tun, die für Georgien seit Jahrhunderten untrennbar mit der nationalen Identität verbunden sind. Im real existierenden Sozialismus, als Georgien Teil der Sowjetunion war, erlebte das Kind Amiran, dass Gottesienstbesuche, Taufen oder kirchliche Hochzeiten gefährlich sein und böse Folgen für die soziale und berufliche Stellung der Gläubigen haben konnten. Doch schon seit dem 7. Jahrhundert war Georgien ringsum vom islamischen Staaten umgeben, die mehr als einmal das Land eroberten. Da war die Fahne der Freiheit immer christlich. Manchmal pathetisch. Aber auch von einer großen Bildgewalt, wie in dem Gedicht "Andere Kraft":

Die Satan auf die Hauer tretende Wut, ich fürchte sie nicht,
fühl ich dich, den in die Handfläche geschlagenen Nagel.

Dennoch ist Georgien keineswegs eine Insel, an der die Strömungen der Moderne und der Weltliteratur vorbei gegangen wären. Schon im Elternhaus nahm der Dichter persische Kunst und Literatur auf (seine Mutter war Orientalistin), an der Schule las man russische Autoren. Wichtig wurde ihm auch die deutsche Philosophie und Literatur. Er hat Gedichte von Goethe, Hölderlin, Rilke, Brentano, Mörike, Gottfried Keller, Trakl, Gottfried Benn, Johannes Bobrowski und zuletzt Rose Ausländer übersetzt. All dies ist wiederzufinden in Swimonischwilis Versen. Trotz dieser Weltläufigkeit, Bildung und Traditionsliebe sind seine Gedichte aber aus georgischer Sicht wegen ihrer assoziativen Bilderketten und Metaphern neuartig und stehen für sich.
Dass er nicht nur georgische Volksmusik und Klassik liebte, sondern auch die Musik von John Cage, zeigt die Offenheit Amiran Swimonischwilis auch für Radikal Neues. Das findet sich vor allem in Gedichten, die gar nicht unbedingt etwas bedeuten müssen, sondern von ihrem "Sound" leben, dessen Bilder sich im Kopf des Lesers verselbständigen und jedes eine eigene "Geschichte" für sich erzählen, in der auch Ironie ihren Platz hat:

AUS FERNEN BERGEN vernimmt man Donner,
und während der Trauer um den Erwählten
hält auf dem Hügel einen Augenblick inne
der Mai: er gewittert mit Frauenanmut.

Im Hof hat Garben gebunden der Herr,
du sprichst dem Abend ein letztes Beileid,
und Kirchen fühlen am heißen Atem,
wohin der Sternenwagen schwimmt.

Nach Grundschule und Mittelschule besuchte Amiran Swimonischwili bis 1990 die "Sechste autorisierte Grundschule" in Tbilissi. In diesem Jahr erschien auch der erste seiner insgesamt vier Gedichtbände. Von 1991 bis 1997 studierte er "Kulturologie" (Kulturwissenschaften) und Germanistik in Tbilissi.1993 kam er mit einem Stipendium zum ersten Mal nach Zürich, 1994 begann er an der Guram-Ramishvili-Schule in Tbilissi, deutsche Literatur zu unterrichten.
1995 erschien sein zweiter Gedichtband, und er studierte als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Bamberg neue deutsche Literaturgeschichte. Im Jahr 2000 erschien sein dritter Lyrikband, und er begann ein Philosophiestudium in Zürich. Weitere Reisen führten ihn nach Minsk, Weimar, Marburg, Vilnius (Litauen), Lwiw und Kiiw (Ukraine) oder auch Wien. 2010 veröffenlichte er seinen vierten Gedichtband und beteiligte sich an einer Filmdokumentation des Russischen Überfalls auf Georgien im Jahr 2008. 2012 gründete Amiran Swimonischwili zusammen mit Freunden, seinem Bruder und anderen Lehrern die "Sechste autorisierte Schule" in Tbilissi, wo auch sein Übersetzer Thomas Häussermann unterrichtet. Dieser hatte 1990 begonnen, sich mit der georgischer Folklore zu beschäftigten, Konzertreisen für georgische Ensembles zu organisieren und Georgisch zu lernen. Ohne die Begegnung dieser beiden Menschen, die zu einer engen Freundschaft wurde, hätte es das vorliegende Buch niemals gegeben.
2013 erkrankte Amiran Swimonischwili, ließ sich in Istanbul behandeln und widmete sich noch bis zu seinem Tod 2014 der Übersetzung von Gedichten. Seine Mutter half Häussermann bei seinen ersten Übersetzungsversuchen und besorgte ihm fachkundige Hilfe beim Abgleich der Originalgedichte mit Häussermanns Übersetzungen in Tbilissi. Deren kritische Durchsicht übernahmen Mana Topadez Gäumann in Bern sowie Esther Scheidegger und Rona Maria Diem in Zürich. Yara Gisler gestaltete den Buchumschlag mit Fotos der Familie Swimonischwili. Den Kontakt zum Verleger Traian Pop stellte Dato Barbakadse her. Und so wurde dieses Buch mustergültig lektoriert und ediert. Mehr Sorgfalt bei der Vermittlung fremdsprachlicher Literatur erscheint mir kaum möglich: noch ein Glücksfall. Amiran Swimonischwili, so sein Übersetzer, war ein Lehrer, dessen größtes Ziel es war, die Schüler das Staunen zu lehren, und er war als Dichter ein unermüdlicher Sucher nach Schönheit. Dieses Buch ist ein Schatz, der uns das Staunen über den Sound der georgischen Poesie lehren kann.
Auf dem Titelbild scheint der Dichter dem Leser die ausgstreckte Hand entgegenzuhalten. So finster die enge Gasse der Altstadt von Tbilissi auf dem Schwarz-Weiß-Foto auch wirken mag: Trotz der dunklen Figur mit Kapuze am Fuß der Treppe (allegorisch der Tod?), auf der Swimonischwili steht, überwiegt für mich die Geste der freundlichen Einladung, sein Werk, seine Kultur, seine Stadt kennen zu lernen. Der Dichter scheint zu sagen: "Komm, fürchte dich nicht!"


Donnerstag, 2. Juli 2020

Dunkel, schön und anstrengend wie eine Liebesnacht

"Roter Schein". Gedichte. Pop Verlag Ludwigsburg, Kaukasische Bibliothek Band Nr. 21, 82 S., 16,50 € (D)

Der Dichter und Übersetzer Nika Jorjaneli (Sprich Dschordschaneli) wurde 1978 in Tbilissi geboren. Dort hat er an der Fakultät (heute: Institut) für Westeuropäische Sprachen und Literatur der staatlichen Universität Germanistik studiert. Von 1999 bis 2008 war er Deutschlehrer an einer deutschen deutschen Schule in Tbilissi, später unterrichtete Jorjaneli Georgisch an der Staatlichen Linguistischen Universität Moskau. In Tbilissi veröffentlichte er mehrere Gedichtbände: "Die Empfindung von Samt" (2003), "Der Atem bei der Erstickung" (2008), "Lieder für zerrissene Saiten" (2010) und "Mexican Standoff (2010). Jorjaneli wurde 2008 in Moskau mit dem mit dem internationalen Preis „Sodruschestwo debiutow“ (Gemeinschaft der Debüts) ausgezeichnet.
Der Lyrikband "Roter Schein" besteht aus Gedichten, die man als Kette allegorischer Darstellungen des menschlichen Lebens nennen könnte. Schon der erste Text ("Vöglein") beginnt mit einer Natur-Idylle, die das lyrische Ich jäh zerstört: Im Sommer fliegen fast täglich kleine Vögel in seine Küche, berichtet der Dichter, ein kaum hörbares Geräusch auf dem Linolumboden "und ich - weiß auch nicht warum - scheuche die Vögel nach draußen." Doch dann fragt er:

"Warum bloß stören sie mich? Mögen sie doch reinkommen, 
                                                 hier sein. Dies lässt mich denken,
dass wir ebenso auch unser Leben tagtäglich unbewusst 
von uns wegstoßen..."

Er schreibt über die Zeit wie ein Philosoph und nennt sie unerheblich, weil vergänglich: "Das ist es, warum wir immer so gerne über die Ewigkeit debattieren." Für seine Liebeslyrik bemüht der Dichter den alten Mythos vom Sänger Orpheus, der seine Eurydike sucht, gibt jedoch der Geschichte eine originelle, ironische Wendung:

"Ich warte in allen Menschenmengen, die ich sehe, auf dich.
...
Ich aber sehe mich sicher nie um,
damit ich dich auch ja hinter mir spüre."

Lust und Last der irdischen Existenz hat für diesen Dichter immer auch ein Potenzial zur Erlösung, selbst in den schrecklichsten Augenblicken der Aktualität. "An die Geisel, der man den Kopf abgeschnitten hat" schreibt er eine Bitte um Entschuldigung dafür, dass er sich just im Augenblick des Geiseltodes

"- unwissentlich -
Hals und Gesicht mit Wasser kühlte.
Vergib mir für meine Nichthilfe, 
dafür, dass ich auf meine Art
auch zu jener Realität gehöre,
die dein Schicksal bestimmt hat..."

Voraussetzung für diese kathartische Erlösung durch Poesie ist die Reflexion der Gegenwart, schonungslos, mit offenen Augen. In anderen, balladesken Erzählgedichten   greifen seine Verse das Bild eines Flusses für das Leben auf. Da entsteht eine Dystopie über "Wälder voll ausgestorbener Primaten" an den Ufern. Dann kentert das Boot, und "Wir haben kaum eine Wahl: / Den Tod an den Steinen oder der Strömung zu folgen." Während menschlicher Besitz strudelnd im Fluss versinkt, treiben die Überlebenden davon. Alle Hoffnungen schluckt der Fluss, auch die Ufer haben nichts außer Hoffnungslosigkeit zu bieten, weil es keine Erlösung gibt außer der Erkenntnis: "Vielleicht ist auch die Strömung selber die Erlösung." 
Wie ein Schiffbrüchiger taucht der Autor immer wieder ein in den Fluss der Geschichte und des Lebens, mal hat er den Kopf über Wasser, mal nicht. Er taucht ein in seine innere Welt und ist ständig auf der Suche nach einem Ausweg aus einer Leere, die nur durch kreatives Denken überwindbar zu sein scheint. Dieser Ansatz des Denkens und Schreibens ist nicht frei von Rätselhaftem. Er feiert das Dunkel geradezu.
Rätselhaft ist schon der Titel dieses Buches: "Roter Schein". Und wer so naiv ist zu glauben, er könne beim Lesen der Verse im Titelgedicht dann die Auflösung" (siehe Erlösung!) finden, muss am Ende feststellen: Lyrik ist kein Sudoku. Je weniger dieser Lichtschein beachtet wird, desto intensiver ist er:

"Seine Herkunft ist unbekannt.
Unklar ist sein Ursprung.
Bei manchen alten Cabriolets findet man Schlusslichter, 
die ihm ähnlich sind.
...
Ihr könnt ihn nur sehen.
Ihr seid nur dafür da,
um auf diesen roten Schein zu schauen.
Um am Ende 
auf einen roten Schein zu schauen."

Es hat etwas Hypnotisches, wie das Gedicht in zahlreichen Wiederholungen und Varianten dieses Verses ein rotes Licht im Dunkeln anstarrt. Es könnte auch einfach eine rote Ampel sein. Die Beleuchtung eines Etablissements für käuflichen Sex. Oder ein ewiges Licht der Andacht. Aber es ist kein Sudoku. Daran muss ich beim Lesen noch viele Seiten später denken bei einem Vers, der mich anspringt wie einer der Merseburger Zaubersprüche, so unmittelbar, mit einem dermaßen enormen Sog. Da ist er wieder, der Fluss: "Kehr bloß nicht in die Stadt zurück, wenn du sie mal verlassen hast." Und wer es doch tut, wird sehen, es ist alles ganz anders.
Dieser Gedichtband ist mit 82 Seiten kein dicker Wälzer, aber er hat es in sich. Poetischer Existenzialismus, würde mein Sudokuhirn vorschlagen. Aber ich bleibe skeptisch. Dieses Buch ist so viel mehr. Es ist dunkel, schön und anstrengend wie eine Liebesnacht.