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Donnerstag, 19. Januar 2023

"Alle Armenier heißen Armen": Ein armenischer Kafka erzählt

Sevak Aramazd: "Armen", Roman. Aus dem Armenischen von Levon Sargsyan. Pop Verlag, Kaukasische Bibliothek Band 27, Ludwigsburg, 366 Seiten, 24,50 €.

Sprache und Einfallsreichtum des Verfassers sind geschult an William Shakespeare, Edgar Allan Poe, den Gebrüdern Grimm, Franz Kafka und Alfred Hitchcock. Der Autor Sevak Aramazd oder Sevak Hovhannisyan wurde 1961 in Geghaschen (Armenien) geboren. Er hat Germanistik und Philosophie in Eriwan und Frankfurt am Main studiert und er hat Werke von Goethe, Heine, Rilke, Trakl, Böll und Hesse ins Armenische übersetzt. Irgendwann muss er wohl auch über die Märchennovelle "Die schöne Lau" von Eduard Mörike gestolpert sein, die als Nixe oder Wasserfrau die Donauquelle in Bad Urach bewohnt, die wegen ihres türkis-blaugrünen Wassers  "Blautopf" heißt. Aramazd hat Essays zu Literatur und Philosophie publiziert, Lyrik (2000 "Himmel und Erde", 2018 "Ein großer Sonnenaufgang"). Sein erster Roman "Selbst" erschien 1993; es folgten 2009 "Armen" und 2014 "Der Berg der Sonne". So weit eine Übersicht der Zutaten für eine Literatur, die zugleich Legende und Dokument ist, Parabel und Schauplatz einer Prosa, in der sich Realität und Übersinnliches spiegeln. Sie erzählt vom Schicksal einer Welt, in der es das Schwierigste und Gefährlichste ist, ein Mensch  zu sein. Aber was ist "Armen" nun für ein Buch? - Versuch einer Annäherung.
Wenn es scheinbar die Lebensgeschichte des jungen Armen erzählt, dessen Elternhaus bei einem Erdbeben eingestürzt ist und der auf der Suche nach Arbeit ist, um es wieder aufbauen zu können, geht es nicht einfach um die lineare Geschichte eines Wanderarbeiters, dem allerhand Prüfungen auferlegt sind. Das Buch ist vielmehr eine surreale Endlosschleife vieler schicksalhafter Begegnungen in einem namenlosen Land. Die Erzählstränge beginnen, brechen ab, zerfransen in Träumen und seltsam realistischen Episoden voller Sehnsucht, Begehren, Ängsten, Schuldgefühlen und Abenteuern. Dörfer haben keine Namen, die Stadt Kitak immerhin hat einen Bahnhof, wo aber anscheinend nie ein Zug hält, einen Fluss, ein Krankenhaus, ein Gasthaus und eine Art Verwaltung mit dem Sitz eines Gouverneurs. Autos gibt es, aber wohl nicht viel Verkehr. 

Auf der Suche nach Arbeit und einem Platz zum Schlafen kommt Armen an einem Müllberg vorbei, wo Obdachlose, Kranke, Arbeitslose, Trinker, Drogensüchtige und Behinderte nach Verwertbarem suchen. Abends landet er müde, hungrig und durstig in dem Gasthaus. Kurz bevor es schließt, kann er die Bedienung um ein Glas Wasser bitten. Für eine Mahlzeit reicht das bisschen Geld nicht, das er unterwegs für die Reinigung eines Dorfbrunnens bekommen hat. Die Kellnerin, die er zuerst als "Mütterchen!" anpricht, entpuppt sich als geheimnisvolle Schöne, die ihn mit nach Hause nimmt und in eine ebenso wilde wie sinnlose Affäre stürzt. Schon der Titel des Romans und der Name der Hauptfigur ist ein Symbol, dessen Bedeutung der Leser sich selbst erschließen muss. "Du bist wohl Armenier...", sagte die Frau lächelnd. "Und suchst Arbeit..." Armen trank und nickte dabei. "Und du heißt wohl ...Armen... Na, alle Armenier heißen Armen..." lachte sie. Armen lächelte und gab ihr das Glas zurück. "Und kein Platz zum Schlafen..."

Natürlich nimmt sie ihn mit nach Hause, und er trägt ihre Einkäufe. Die Sprache der Begierde, mal plakativ und mal subtil (als ihr Hauskleid in scheinbar absichtsloser Natürlichkeit verrutscht, erhascht er einen Blick auf Schenkel, die zu den "verbotenen Teilen ihres Körpers" gehören). Diese Sprache lässt psychologisch vermuten, dass Armen in einer traditionellen Welt mit orientalischen Rollenbildern von Mann und Frau lebt, die zwar reflektiert, aber nicht wirklich überwunden werden. "Armen spürte, dass in seinem Innern die Begierde aufkam, ein unerwartetes Verlangen ihn packte, und er bekam plötzlich Angst. Wie ein Lasttier beladen folgte er dieser unbekannten Frau, als sei er ihr Sklave. Es gab der ganzen Sache etwas Demütigendes, einen schlichten Betrug. Sie beide wussten wohin und warum sie gingen und es war eine offensichtliche Unverschämtheit, zu schweigen." Die Schöne heißt Sarah, und Armen ist ihr sofort verfallen. Sie erzählt viel, aber alles könnte gelogen sein: Der Mann, der ihr Vater sein könnte, ein Unhold ist und im Gefängnis sitzt. Das künstlerisch begabte Kind, das im Krankenhaus liegt und nicht mehr spricht, seit der Vater im Gefängnis sitzt. Die Episode endet abrupt und gewaltsam, als der Mann plötzlich in der Tür steht und Sarah ihn wüst beschimpft und verprügelt, um ihn anschließend demütig um Verzeihung zu bitten. Nichts ist hier, was es zu sein scheint.

Viele Klischees des Gruselromans werden erst bedient, um alsbald widerlegt zu werden. Die Flussufer sind sumpfig, der Wald undurchsichtig finster, das Mondlicht matt und die Schatten körperlos. Die wenigen Menschen, die ihm begegnen, reden kaum oder wie die Bürokraten in Kafkas "Schloss". Das Gesetz tritt auf in Gestalt zweier mehr als merkwürdiger Polizisten, die ihn unsanft aus dem Schlaf reißen und zum Verhör schleppen. "Es machte ihm Angst, dass die Macht kein Gesicht hatte, sondern unendlich viele Masken, die atmende Menschen waren, wie er selbst, doch über die Schicksale ihresgleichen entscheiden durften. Die Macht konnte seine Extstenz gestatten oder eben auch nicht."

Der Leser fühlt sich wie gefangen in einer Kette unzusammenhängender Alpträume. Schon bald begegnen ihm unheimliche Dinge: Drei Männer versuchen, Armen zu erschlagen, weil er ein Fremder ist und ein Fremder irgendwo in der Gegend den Sohn eines Ortsvorstehers getötet haben soll. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, glaubt aber den Vorwürfen am Ende selbst. Mal ist er himmelhoch jauchzend optimistisch und strotzt vor Kraft, im nächsten Augenblick nagen Zweifel an allem und jedem und selbstzerstörerische Minderwertigkeitsgefühle an diesem seltsamen Antihelden. Armen findet mehrmals Arbeit, wird aber nie bezahlt, sondern jedes Mal um seinen Lohn betrogen. Er begegnet einem Geschichtslehrer, einem Schriftsteller offensichtlicher Nonsens-Bücher, einer Müll-Händlerin und einem Philosophen, der das neue Gesetz, das alle studieren, als "ein Meisterwerk menschlicher Dummheit" bezeichnet, ohne etwas davon zu erklären. Armen begegnet dem Gouverneur einem veilchenblauen Mädchen (was auch immer das ist), einem alten Heiler, einem Lastenträger und einem Waldgeist. Er findet eine Quelle, an der sich alle Bedürftigen, Kranken und Elenden versammeln, ohne Heilung oder Trost zu finden. Wie Armen irren die Menschen zwischen der Sehnsucht nach Liebe und der Bedrohung durch den Tod ziellos durch sinnlose Leiden wie durch ein Fegefeuer, dem niemand ausweichen kann. Er findet sogar die Liebe, muss sie aus unerfindlichen Gründen aber wieder aufgeben. Es gibt wohl Rechtfertigung, jedoch keine Erlösung. Einen heiligen Gral wie Parzival findet Armen nirgends. 


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