"Da ich zu denen gehöre, die lieber beobachten als reden, fahre oder fliege ich am liebsten allein, um andere beim Reden zu bebachten." So charakterisiert sich der Ich-Erzähler ziemlich zu Anfang, um gleich ins Räsonnieren und Kommentieren zu fallen, weil sich der Abflug verzögert (wie üblich an einem Freitag Abend, meint der Vielflieger). Er ist extra lang festgehalten "an einem Nicht-Ort, den man normalerweise betritt, um schnell wegzufliegen". Die vorherrschende Tonart ist also Sarkasmus.
Mit diesem Sarkasmus führt der Ich-Erzähler innere Monologe, die bei seiner Cousine anfangen, mit der er eine Künstleragentur in Paris betreibt. Es geht weiter mit deren Sekretär Raul, der ihn zum Flughafen gefahren hat, an dem er aber sonst kein gutes Haar lässt, die Karawane der Anzugträger mit Rollkoffer und Laptop-Tasche, Gruppen exotisch gewandeter Afrikaner und anderer Passagiere. Mittendrin im Gewimmel fällt ihm ein älterer Mann auf, ein komischer Vogel mit dem Aussehen einer überfressenen Vogelscheuche, der offensichtlich die Orientierung verloren hatte: "Er machte drei Schritte, hielt inne, ging wieder zurück, kramte aus seiner Manteltasche das Ticket hervor, hielt es sich vor die offenbar kurzsichtigen Augen und steckte es wieder zurück. Mein Blick blieb an ihm hängen, weil er der Einzige war, der nicht so aussah wie die anderen." - Sie ahnen es schon, werter Leser: Der Typ ignoriert die aufgetakelte Damenwelt ringsum und steuert zielgenau den Ich-Erzähler an, der in einem hilflosen Akt der Selbstverteidigung automatisch seine zerfledderte Tasche auf den linken und seinen Mantel auf den rechten Nebensitz fallen lässt, damit dieser Mensch vorübergehen möge. "Warum weiß man instinktiv, neben wem man auf keinen Fall sitzen will?"
Zu spät. Der Namenlose sagt (und fragt nicht etwa) "Ist hier noch frei, ...und hatte schon meinen Mantel in der Hand, den er, ohne eine Antwort abzuwarten, einfach auf den nächsten Sitz warf." Es folgt zwar keine pflichtbewusste Minimal-Konversation, aber eine eingehende Beobachtung des besitzergfreifenden Orson-Wells-Verschnitts nebst psychologischer Begutachtung. Wer oder was könnte das sein? Ein Schriftsteller? Ein Schauspieler? Ein Philosoph? Jeder scheint ihn zu kennen, aber niemand weiß, wie er heißt. Und wer ihn noch nicht kennt, will unbedingt seine Bekanntschaft machen. Im Flughafen hat er sich aufgedrängt, und dann im Hotel, das sie beziehen mussten, weil der Flug wegen einer technischen Panne erst am nächsten Morgen gehen würde, seine Minibar leergetrunken, ohne bezahlen zu können. Der Ich-Erzähler, statt den Quälgeist loszuwerden und der Polizei zu überlassen, begleicht die Rechnung von weit über achtzig Euro, ohne die Zumutung zurückzuweisen, er sei der Sohn des angegammelten Verschnitts aus Marlon Brando und Orson Wells, der angeblich seine Brieftasche mit allen Dokumenten und Scheckkarten verloren hat. Er übernahm Verantwortung für einen maximal verantwortungslosen Schmarotzer und hemmungslosen Proleten im Herrenmenschen-Gestus - ein folgenschweres Eigentor.
Es gibt diverse Märchen über die Bestrafung der Gutherzigkeit mitleidiger Menschen durch einen Dibbuk oder Dschinn. Am besten gefällt mir eine Variante in den Erzählungen von Sindbad dem Seefahrer aus der Sammlung "1000 und eine Nacht". Da kommt Sindbad als Schiffbrüchiger auf eine scheinbar unbewohnte Insel und trifft am Ufer eines Flusses auf einen Zwerg, der ihn um Hilfe beim Überqueren des Gewässers bittet, da er nicht schwimmen könne. Hilfsbereit nimmt er ihn auf seine Schultern - und kommt nur knapp mit dem Leben davon, weil der hinterhältige kleine Kerl mit jedem Schritt schwerer wird und seine Beine mit unmenschlicher Kraft um den Hals seines Helfers schlingt.
In München logiert der Typ in der Wohnung des Erzählers, in dessen Agentur besetzt er ungefragt den Schreibtisch Chefs und bereitet als "Produzent" einen großen Film vor, fängt an Strippen zu ziehen und Hebel in Bewegung zu setzen, hält Hof in Restaurants, deren Rechnungen er nicht bezahlt, schreibt gnädig unleserliche Autogramme in hingehaltene Bücher und bringt allein durch seine Anwesenheit als Großvater des Chaos alles durcheinander. Am Ende, als man ihm gerade auf die Schliche kommen könnte, gibt er den Löffel ab und geht mit dem Spitznamen "Jona" in die ewigen Jagdgründe ein - unter Hinterlassung angemessener Nachrufe auf eine unersetzliche Künstlerpersönlichkeit. Die Beerdigung ist eine gesellschaftliche Sensation, der Leichenschmaus reißt ein letztes ordentliches Loch in den Kontostand des Erzählers und wird ein rauschendes Fest.
Die Moral von der Geschicht ist möglicherweise, dass viele von uns insgeheim auf die Ankunft einer Figur warten, die sie aus dem Tritt bringt. Und voilá: Michael Krügers aberwitzige "Chronik der laufenden Ereignisse" zeigt, dass unsere Alltagsgewissheiten und Sicherheiten höchst unsicher sind sowie dass entsprechende Erwartungen geradezu zwangsläufig nach Täuschung und Enttäuschung schreien. Michael Krüger (Jahrgang 1943) war langjähriger Lektor des Carl Hanser Verlags, vielen Lesern ist er besser bekannt als Lyriker und Erzähler.
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