Das erste ist länger liegen geblieben als ich wollte, und beim Lesen des zweiten Buches wurde mir klar, wie viel die beiden miteinander zu tun haben, obwohl der erste Augenschein das nicht vermuten lässt. Also stelle ich sie hier in dem Zusammenhang vor, in dem ich sie wahrnehme:
Navid Kermani: "Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime.", Verlag C.H. Beck München, 2009, 173 Seiten, 16,90 € - und
Navid Kermani: "Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt", Verlag C.H. Beck München, 2013, 253 Seiten, 19,95 €
Der Reihe nach: "Wir sind Murat Kurnaz" heißt ein zentrales Kapitel in dem Buch "Wer ist wir?", wo Kermani beschreibt, wie und warum deutsche Politiker und Richter (auch Teile der Presse) genau jene Grundprinzipien des Rechtsstaates verletzt haben und immer noch verletzen, die sie verteidigen sollen. Er weist darauf hin, dass das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen, Ethnien und Religionen nirgendwo konfliktfrei verläuft. Er verlangt das auch nicht. Aber er zeigt am Fall des deutsch-türkischen Bremers Murat Kurznaz, worum es geht: "Murat Kurnaz muss niemandem sympathisch sein. Sympathie darf überhaupt keine Rolle spielen. Er hat Rechte, Menschenrechte, die nicht verhandelbar sind und nicht von seinem Aussehen, seiner Religion oder seiner Reiseroute abhängen." Kurnaz war gerade mal 19, als er im November 2001 in Pakistan verhaftet und gegen Kopfgeld der US-Army überstellt wurde. Er saß über 5 Jahre in Guantanamo und wurde gefoltert, obwohl seit 2002 feststand, dass er unschuldig ist. Die damalige Bundesregierung und speziell Frank-Walter Steinmeier (SPD) haben aus Angst vor Islamisten dafür gesorgt, dass seine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland nicht verlänger wurde. So eine Schande darf nicht in Vergessenheit geraten, sondern muss Motiv für eine neue Politik sein.
Karmani begründet dies als Verfassungspatriot überzeugend und zugleich unterhaltsam. Urkomisch erklärt er z.B., warum er vom Jahrespreis der Helga- und- Edzard- Reuter-Stiftung ein altes, denkmalgeschütztes Haus in seiner Heimatstadt kaufen möchte: "Hätte ich ein Haus in Isfahan, würden unsere Freunde aus dem Westen es nutzen, sie würden die Stadt besuchen, eine Zeitlang dort leben und ihre westliche Kultur gerade dadurch verbreiten, dass sie die Größe der lokalen Kultur entdecken". In Isfahan leben Muslime, Juden, Christen, Zoroastrier und Bahai, die fünf verschiedene Sprachen sprechen. Aber trotz der Intoleranz, die vor allem die Angehörigen der Bahai-Religion nach der islamischen Revolution erleiden, bestimmt doch immer noch der sehr kölsche Grundsatz das Lebensgefühl, dass "jeder Jeck anders ist". Trotzdem werden die schönen alten Häuser reihenweise abgerissen, teils aus Geldmangel, teils aus schlichter Ignoranz gegenüber der eigenen Kultur und Geschichte. Das kommt Ihnen bekannt vor? - Soll es auch, und so ist es auch gemeint!
Kermani ist ein Muslim mit zwei Pässen und lebt im Kölner "Türkenviertel" Ehrenfeld, das ich während meines Studiums noch als Arbeiterviertel kennen gelernt habe. Seine gesprochene Muttersprache ist Persisch, seine schriftliche Deutsch, und die Poesie, mit der er aufwuchs, klingt spanisch, denn sie stammt von Pablo Neruda. Schon allein dafür könnte ich diesen Mann umarmen, aber außerdem hat er auch noch Witz. Über seine Frau sagt er, sie sei eine Aserbaidschanerin bzw. "türkische Iranerin", also eine Türkin mit iranischem Pass: "Ich kann vor solchen Doppelidentitäten nur warnen. Da besuche ich die Familie meiner Frau in Teheran, und meinen Sie, ich würde ein Wort verstehen? Die sprechen dort alle türkisch. Mitten in Teheran. Abgründe der Reformunfähigkeit tun sich auf. Eine erschreckende Parallelgesellschaft, vollständig integrationsresistent". Das sollte man Thilo Sarrazin und Claudia Roth mal unter die Nase reiben!
Wie Kermani eine Bürgerversammlung in Ehrenfeld zum Thema "Moscheebau" beschreibt, ist Demokratie- und Integrationsunterricht pur. Und eben davon, nur mit dem Blick in die große Welt der religiösen und ethnischen Koflikte, handelt auch das zweite Buch, Kermanis gesammelte Reportagen über eine Welt im Ausnahmezustand. Ob er die brutal niedergeschlagene Revolte der iranischen Jugend gegen die Wahlfälschungen von 2009 beschreibt, die antimuslimischen Pogrome und Massaker im indischen Bundesstaat Gujarat, den Kaschmitkonflikt oder eine Reise zu den Sufis im angeblich vom Steinzeitislam beherrschten Pakistan: Kermani geht hin, wo es Fragen gibt. Er bohrt nach, wo es unbequem wird, und tritt unermüdlich für die Unteilbarkeit von Grundwerten wie Demokratie und Menschenrechte ein. In Afghanistan, wo auch die abziehende Bundeswehr dabei ist, ihre Helfer und Dolmetscher hilflos der Rache der Taliban zu überlassen. In Syrien, wo das Outsourcen des Terrors und die Stellvertreterkriege um die Macht im ganzen Nahen Osten das Volk bei lebendigem Leibe zerreißen, während die Welt zuschaut und Veto-Mächte der UNO ihre Hände in verlogener Unschuld waschen.
Oder auf der italienischen Insel Lampedusa, wo sich die ganze Doppelzüngigkeit einer EU offenbart, die das Ideal offener Grenzen verkündet und zugleich die brutale Gewalt der gemeinsamen FRONTEX-Truppe beim Umgang mit Bootsflüchtlingen aus Afrika nicht verhindert. An dieser Grenze sind inzwischen mehr Menschen gestorben als an der Schandmauer zwischen DDR und Bundesrepublik. In Palästina, wo der gemeine Gutmensch schon lange kapituliert vor den Tsunamis aus Hass und Gewalt zwischen Juden und Arabern, die sich gegenseitig nicht mehr als Menschen wahrnehmen. Unsere alte, aus historisch schlechtem Gewissen her rührende Israel-Solidarität bröckelt vor Kermanis Blick ebenso wie das Verständnis für jede Toleranz gegenüber der Intoleranz. Die Hamas ist zwar im Gaza-Streifen demokratisch an die Macht gekommen, verhält sich jedoch undemokratisch. Wie finde ich da eine ethische Position, ohne die eigenen Standards zu verletzen?
Deutschland und Europa als Paradies der Elenden und Verfolgten oder als "Festung": der rechte Weg liegt in der Mitte zwischen diesen beiden Vorstellungen. Wir sind Einwanderungsland und Einwanderungskontinent. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen. "Lupenreine Demokraten" dürfen eben nicht alles, das wissen wir schon seit Putin und Berlusconi über die politische Bühne toben. Dass "der Westen" mit gespaltener Zunge spricht und seine Repräsentanten in Wirtschaft und Politik permanent anders reden, als sie handeln, hat uns "Westlern" ja den Hass vieler Muslime erst eingebracht. Navid Kermani ist Westler und Musilim zugleich. Er schreibt keine einfachen Bücher mit einfachen Lösungsvorschlägen wie Thilo Sarrazin oder Olaf Henkel. Das will er auch nicht. Er hilft uns, genauer hinzuschauen. Das ist sehr wichtig in diesem Land. Aber wie er das macht, das ist auch eine Bereicherung für unsere Literatur. Unbedingt kaufen und lesen!!!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen