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Montag, 20. Mai 2013

Orientalischer Pfälzer: Neue Gedichte von Hasan Özdemir

Hasan Özdemir: "Geschälte Sätze". Gedichte. Verlag Hans Schiler, Tübingen / Berlin, 2013, 75 S., 16 €.


Schon der Titel verrät: Dieser Dichter sucht den Blick hinter die Oberfläche der Sprache, sucht die Frucht, die Süße, das nackte Innere, den wahren Kern. Hasan Özdemir ist einer, der seine Sätze wirklich schält wie Obst: "Male die Zeit / In Merlot". Er ist 1963 in Büyükkisla / Sorgun geboren, kam als Student nach Ludwigshafen, studierte in Heidelberg und lebt seitdem in Ludwigshafen und Freisheim.
Er ist ein poeta doctus, ein gelehrter Dichter, denn er hat Germanistik und Philosophie studiert. Und obwohl er natürlich seine türkische Muttersprache nicht vergisst, schreibt er (fast) ausschließlich in deutscher Sprache. Er ist ein echter Pfälzer geworden - "mit Migrationshintergrund" meint hier hauptsächlich, dass seinem Blick und seinem Denken die orientalische Kindheit und Jugend nicht abhanden gekommen ist. Er liebt den Wein und den Rhein und die Wortspiele zwischen zwei Kulturen:

"ich özdemire mich hasan
An solchen Tagen
In Worte"

"Geschälte Sätze" ist Özdemirs sechster Gedichtband, dazwischen sind Erzählungen und ein Theaterstück erschienen. Und immer mehr hat er sich auf seine neue Heimat, seine Umgebung eingelassen, für die er originelle Bilder findet und die er stilistisch in Bewegung setzt, indem er sie personalisiert. "Morgens spucken die Häuser ihre Träume /Aus dem Fenster", heißt es da, oder "Der Wind macht einen Spaziergang / Über die Dächer der Stadt". Dieser Poet ist ein genauer Beobachter - nicht nur der äußeren Umgebung, sondern auch der eigenen Wahrnehmungen und durchaus zwiespältiger oder unterschiedlicher Gefühle:

"Sonntagnachmittag im Café überfällt mich ein Gefühl
Am Fluss umarmt es meinen Körper
Das muss es sein, was von Jahr zu Jahr das Leben verlängert
...
Die Einsamkeit spricht eine andere Sprache
Am verdichteten Tag
Regne ich der Erde zu und will ins Weite
Aber meine Brust
Ist eng"

Deutlich hörber ist eine ist den Jahren als Grundtönung mit der Reife wachsende Melancholie ("Seit Stunden schlagen die Kirchturmuhren / Ins Nichts"), der aber als Gegengewicht eine gleichbleibende, lebensbejahrende, zuweilen fröhliche Sinnlichkeit entspricht: "Die Mädchen laufen die Straße hinunter / Sie tragen kurze Röcke und lächeln sommerlich". Erinnerung wächst mit den Jahren für den Dichter an Bedeutung, und damit auch die Erkenntnis, was wir an schönen Zeiten bereits hinter uns haben. Besonders schön zeigt sich dieses scheinbar widersprüchliches Miteinander der Gefühle bei dem Gedicht "Zeit im Auge":

"Wir gehen entlang der Sommerwege
Und erzählen von vergangenen Tagen
Die Zeit nimmt unseren Vätern das Leben
und unseren Augen die Kraft

Jetzt wachsen 
Söhne und Töchter heran. Sie werden
Besseres Augenlicht haben
Als wir

Im Garten Deutschlands steht ein Baum
Er trägt saftige Früchte komm
Wir bauen uns dort ein Haus
Und wischen ab die Haut der Zeit"

Kein Philosoph und kein Dichter ist, der sich nicht mit dem Tod beschäftigen würde. Doch Hasan Özdemir tut das mit einer ungewöhnlichen, herzerwärmenden Grandezza: "Jetzt lasse ich / Mein Ich gen Himmel steigen". In den Atem dieser Sprache fügen sich auch Widmungsgedichte: für José F. A. Oliver, mit dem er vor vielen Jahren einen dreisprachigen, deutsch-türkisch-spanischen Lyrikband herausgab, ein wunderbares Mosaik der Kulturen, oder für seine Schwestern in der Türkei und andere Frauen. Darin spielen Erinnerung, Zeit und Vergänglichkeit wichtige Rollen, aber auch das Bewusstsein einer engen Verbindung, ja Einheit mit der Natur.
Der Sommer, bei Özdemir eine zentrale Metapher für die Liebe, inspiriert ihn zu einigen Texten, die ins Buch der schönsten Liebesgedichte deutscher Sprache gehören. Und nur weil hier schon so viel zitiert wurde, wähle ich als Beispiel das kürzeste von ihnen aus, das "Sommergedicht":

"Wenn eine Schwalbe keinen Sommer macht
Machen zwei Schwalben
Liebe irgendwo wo Sommer ist"

Ein schmales Bändchen, diese "Geschälten Sätze", aber man kann es immer wieder zur Hand nehmen und wird jedes Mal Neues darin entdecken. Nimmt man die zweite und oft auch dritte Bedeutungsebene dieser Verse hinzu, wird das Büchlein im Kopf ungefähr drei Mal so dick wie im Regal. Das soll Lyrik sein: Dichtung, verdichtete Sprache mit dem Prägestempel "Aufbewahren für alle Zeit!".

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