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Sonntag, 19. Mai 2013

Vom Witz in den Wahnwitz: Otto A. Böhmers neuer Roman

Otto A. Böhmer: "Nächster Halt Himmelreich". Roman, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen, 214 S., 19,50 €


Der Titel sollte eigentlich "Letzter Halt Himmelreich" heißen, es würde dem scheinbar autobiographischen Bogen des herrlich verrückten Ich-Erzählers entsprechen. Immerhin zieht sich die Handlung seit den Romanen ("Der Wunsch zu bleiben" (1983) und seinem viel gelobten Freiburg-Roman "Das Jesuitenschlösschen" (1985) oder auch "Der Zuwender" (2006) jedes Mal enger um den Hals des Protagonisten. Aber ausschließen lässt sich natürlich eine weitere Fortsetzung dieses erzählerischen Flechtwerks nie; Autoren arbeiten ja bekanntlich bis ins hohe Alter.
Hier in Himmelreich, der Station nach Kirchzarten, wenn man mit der Höllentalbahn von Freiburg hinauf in den Schwarzwald fährt, hier gibt es am Ende des jüngsten Böhmer-Romans tatsächlich eine Art Himmelfahrt, zumindest metaphorisch-symbolisch. Da nämlich steht eine Freilichtkapelle, wo der gealterte Antiheld nach Anzeichen eines Schlaganfalls seine Wanderungen durch diverse skurrile Geschichten beendet. Hier schreibt er einen Abschiedsbrief an die verstorbene Generalswitwe Fernanda Henningör, bei der er sich nach seiner Entlassung aus der Psychiatrischen Anstalt "Jesuitenschlösschen" nicht ganz zufällig eingemietet hat.
Dem aufmerksamen Böhmer-Leser dämmert bald, dass er sich da auf einige Deja-vú-Erlebnisse gefasst machen kann: "Ich befand mich in der Martin-Heidegger-Straße. Richtig. Ich war richtig gegangen, nach fast einhundert Jahren war ich noch richtig gegangen, mit tränenden, halbblinden Augen, mit einer unnützen Tasche an der Hand und beschwert von Erinnerungen, die sich den Anschein von Leichtigkeit geben, es aber in sich haben".
So liest sich Böhmer, wenn es ernst wird. Noch ausgesprochen unernst ist die Begrüßung an der Tür des Zweifamilienhauses, an der er dann klingelt:
"Was wollen Sie denn?"
"Ich suche eine Frau Henningör. Oder so."
"Ich bin Frau Henningör. Oder so."
"Man hat mir Ihren komischen Namen und Ihre Anschrift aufgeschrieben. Es hieß, ich könnte bei Ihnen wohnen."
"So hieß das. Dann sind Sie der..."
"Ja, der bin ich."
"Ich habe nicht viel Schmeichelhaftes über Sie gehört", sagte Frau Henningör. "Es hieß, Sie seien nicht ganz richtig im Kopf. Im Prinzip aber harmlos."
Neu-Leser kommen nicht gleich auf die Iee, dass es sich hier um den Beginn einer wunderbaren, wenn auch nicht unbedingt langen Freundschaft handelt. Tut es aber. Der bösartige Rezensent hat eine alte Besprechung aus dem Zeitungsarchiv geholt und vergleicht die Autorenporträts von 1985 und heute: Ja, der Ich-Erzähler ist im passenden Jahrgang, um die Generalswitwe schließlich als "Liebe seines Lebens" (wieder) zu entdecken. Das geschieht auf Umwegen, durch das Erzählen selbst, sonst wäre kein Roman, sondern höchstens eine Erzählung daraus geworden. Erstens hat der Ich-Erzähler die Klinik zwar mit einer kleinen Erbschaft verlassen, nimmt aber zwecks sittlicher Festigung eine Arbeit auf: Als 1-Euro-Jobber in einem Schwarzwaldsanatorium erzählt er Komapatienten aus seinem Leben, um sie aus der Reserve zu locken; "Der Zuwender" lässt grüßen. Zweitens aber erzählt er seiner Zimmerwirtin in Freiburg nach Feierabend andere Episoden aus seinem Schelmenleben, als sie krank und bettlägerig wird.
Bevor er für längere Zeit im "Jesuitenschlösschen" aus der Welt verschwand, hat er trotz aller Charakterschwächen den Job als Geschäftsführer einer Stiftung zur Förderung junger Künstler bekommen. Neigungsgemäß und vorhersehbar, hat er nach seinem zeitlich begrenzten Irrsinnsregime Geld veruntreut und wurde nicht nur entlassen, sondern gleich wieder in der geschlossenen Anstalt kaserniert. Vorher aber hat er als Drehbuchautor gearbeitet und zuletzt einen Film über Friedrich Nieztsche gemacht. Das gibt Anlass zu den köstlichsten Verdrehungen und existenziellen Veruntiefungen, denn der Produzent und der Haupt-Interviewpartner (ein Nietzsche-Spezialist natürlich) sind ebenso verrückt wie der alternde Philosoph und der Ich-Erzähler selbst. Diese Romanfigur und ihre Geschichten verhandeln das Scheitern auf hohem Niveau - finanziell, gesundheitlich, intellektuell, emotional, rundum. Er hat Kilos angesetzt und Haare verloren, aber bleibt der unverkennbare, alte selbstironische Kauz, der sich oft nur noch in Sarkasmus retten kann, weil sonst Kitsch droht oder Depression. Diese Balance zwischen Witz, Melancholie und Wahnwitz beherrscht Otto A. Böhmer meisterhaft.
Das ist alles so wunderbar bekloppt, dass es schon wieder realistisch wird im Zeitalter der "nicht-linearen Erwerbsbiographien", bei denen traditionell Medienschaffende die Ranglisten anführen. Zwar ist "Der arme Poet" schon seit dem berühmten Spitzweg-Bild ein ironisches Klischee, aber zeitlos gültig und literarisch vielseitig abwandelbar. Gealtert also, nur begrenzt weiser und klüger geworden, aber umso glaubwürdiger sind Romanfigur und Autor heute. Denn das Erzählen selbst als Lebens- und Überlebensmittel steht im Zentrum dieses Romans. "Ich bin noch nicht gestrandet, sagte ich würdevoll, ich bin noch unterwegs", heißt es in der ersten Phase der Geschichte. Am Ende, d.h. nach dem Tod der geliebten Zimmerwirtin Fernanda Henningör, heißt es in einem Abschiedsbrief:  "Wo ich jetzt bin, gibt es keine Zufahrtsstraßen mehr, auch kein Wegerecht und keine Besuchszeit. Dennoch bin ich nicht allein, sondern gut aufgehoben". In Himmelreich eben, an der Grenze zum Kitsch vielleicht auch zuweilen, oder in dem Begriff "Heimat". Wohl dem, der etwas hat, was die Erinnerung lohnt. Das nämlich kann uns niemand mehr nehmen.
Was ist das jetzt: ein Bildungsroman, ein Schelmenroman, ein autobiographischer Roman? Wohl nichts von all dem und doch all dieses zugleich. Auf jeden Fall eine heitere, tief menschliche Lektüre voller Verständnis für ein Dasein, das so gar nicht zu meistern ist. Dieses Buch ist mit Esprit geschrieben, aber auch mit Herzenswärme, Poesie und einem untrüglichen Sinn für skurrile Volten des real existierenden Lebens.






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