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Sonntag, 27. Mai 2012

Von meinem Bücherbord: aktuelle Sachbücher

Hölderlin-Haus in Lauffen am Neckar
Hölderlins Geburtshaus oder nur das Haus seiner Kindheit - das wird wohl ungeklärt bleiben. Das Haus steht unter Denkmalschutz, aber der Eigentümer lässt es verfallen, weil er  mit der Gemeinde um den Kaufpreis streitet.

So etwas kann man kaum als Liebe zu Literatur oder Heimat oder gar "geistigen Wurzeln" verkaufen. Das Fenster im Dachgiebel steht seit Jahr und Tag offen, Regen und Wind, Sonne und Frost, Fledermäuse und Vögel haben freien Zutritt, aber kein Leser Hölderlins. Vor knapp 10 Jahren hat die Gemeinde Lauffen am Neckar die Nordheimer Straße ausgebaut, an der das Hölderlinhaus liegt. Seitdem donnern täglich Busse und Schwerlastverkehr unmittelbar an dem Fachwerkhaus aus dem 17. Jahrhundert vorbei, das Hölderlins Vater als Verwalter des benachbarten Klosters bezog.
Die Erschütterungen durch den Verkehr belasten das Haus schwer. Vor etwas zwei Jahren krachte ein Laster bei der Bergabfahrt an die vorspringende Treppe zum Haupteingang, weil der Gehsteig an dieser Stelle nur noch ca. 50 cm breit ist. Mögliche Schäden an den Fundamenten wurden nie untersucht, die Treppe bloß optisch wieder gerichtet.
Die Stadt Lauffen erklärt, sie wolle das Haus kaufen und eine Begegnungsstätte für Literaturfreunde daraus machen. Das Haus soll Teile des städtischen Kulturamtes, eine Stipendiatenwohnung, Tagungsräume, ein Museum und einen gastronomischen Betrieb aufnehmen. So, wie es momentan dort aussieht, ein wenig plausibler  Plan. Das sollte im Hinterkopf haben, wer aktuelle Bücher über Hölderlin liest. Im März 2012 las im Veranstaltungsraum des benachbarten Stadtmuseums

Thomas Knubben "Hölderlin. Eine Winterreise" (255 S.,19,90 €, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen): Das Erbe Hölderlins taugt aber zu mehr als nur zur Einnahmequelle. Auch wenn die Arbeitsstelle für literarische Museen und Gedenkstätten beim Deutschen Literaturarchiv Marbach von hier ausgehend ein ganzes Netz von literarischen Radwanderwegen fördert. Ein Teil davon hatte es dem Kulturwissenschaftler Knubben auch als Fußweg angetan - erstaunlicher Weise sogar mitten im kalten Winter. Er vollzug Hölderlins Reise von Reutlingen über Stuttgart und Tübingen bis hin in die südfranzösische Weinhauptstadt Bordeaux nach, wo Hölderlin einige Zeit als Hauslehrer Arbeit gefunden hatte.
Im Dezember 2007 überquerte er die Schwäbische Alb und den Schwarzwald, marschierte über Straßburg, Lyon und die Auvergne bis Bordeaux. Er wollte wissen, ob es so Neues zu erfahren gibt über das Leben des Dichters, der krank, verwirrt und gebrochen von dieser Reise heimkehrte. Es war nicht viel. Viel aber konnte er tun, um den Lyriker vom Neckarstrand ein Stück weit in den Erfahrungshorizont der Gegenwart zurückzuholen - sogar in Lauffen am Neckar, wo der Großteil der Einwohner Hölderlins Erbe eher mit grober bäuerischer Verachtung gegenübersteht und nur Interesse am Erwerbsleben hat. Es ehrt den Bügermeister Klaus-Peter Waldenberger, dass er so eine "Unheimliche Begegnung der dritten Art" in Lauffen möglich macht.

Stéphane Hessell, "Empört Euch!" (30 S., 3,99 €) und "Engagiert Euch!" (60 S., 3,99), Ullstein-Verlag, Berlin: Ausgerechnet in dem konservativen Verlagsimperium von Axel Springer in deutscher Sprache erschienen - eine gute Tat zu einem wahrhaft demokratischen Preis! Zwei wichtige Büchlein über das Bürgerrecht zum Widerstand gegen eine Politik, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Gefahr bringt, soziale Standards abbaut und das Recht auf Bildung, medizinische Versorgung und Sicherheit bei der großen Mehrheit der Menschen nicht mehr anerkennt. Damit man vergleichen kann, wie das noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg international beurteilt wurde, ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Anhang von "Engagiert Euch!" abgedruckt, hinter deren Umsetzung in den Verträgen von Bretton Woods die Anhänger eines globalen Finanzkapitalismus weit zurückgefallen ist. So gesehen, ist Hessel, der im Widerstand gegen Hitler gekämpft und im KZ gesessen hatr, noch mit über 90 Jahren zum Vordenker der Occupy-Bewegung geworden: eine bewegende Lektüre.

Brian Greene, "Die verborgene Wirklichkeit. Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos" (448 S., 24,99 €, Siedler Verlag,München): Viele SF-Autoren haben darüber spekuliert, wie Parallelwelten aussehen könnten oder wie Weltraumreisen durch "Wurmlöcher" zwischen perallelen Galaxien entscheidend vereifacht und mit mehr als Lichtgeschwindigkeit möglich wären. Jetzt geht ein Physiker und Bestsellerautor hin und stellt das Ganze auf den Prüfstand. Ein Gedankenspiel, das sich die meisren seiner Kollegen als realitätsfremd verbieten. Das macht Greene sympathisch. Allerdings ist auch er ein Gläubiger, der gern über unsere graue alltägliche Realität hinausdenkt. Schön wär´s, allein mir fehlt der Glaube. Kein neues Argument unter der Sonne macht das alles wahrscheinlicher.

Peter L. Bergen, "Die Jagd auf Osama Bin Laden. Eine Enthüllungsgeschichte" (368 S., 19,99 €, DVA München): Der Autor hat schon drei Bücher über Bin Laden und al-Quaida geschrieben, er ist in den USA Mitglied diverser Sicherheitsberatungsgremien, unterrichtet an Hochschulen und kann schreiben. Er verfügt über Insiderwissen und recherchiert solide, aber er macht auch schrecklich viel Wind um sein Thema. Wer wirklich genau wissen will, wie es um die Verwandtschaftsverhältnisse, die Wanderbewegungen, die Netzwerke und die des Mannes bestellt war, der bis zu seiner Tötung durch ein US-Sonderkommando in Pakistan 2011 Staatsfeind Nr. 1 für die USA war und dem weltweiten Terror gegen die Industrienationen des Westens Auftrieb gab, der sollte dieses Buch lesen. Der Mann hat das Grauen zu seinem Beruf gemacht. Mir genügt die Zeitung.

Roman Maria Koindl, "Blender. Warum immer die Falschen Karriere machen" (260 S., 16,99 €, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg): Der Autor ist bekannt für seine scharfe Zunge seit dem Bestseller "Scheißkerle", aber nicht unbedingt für den Neuigkeitswert seiner Mitteilungen. Er ist sprachlich kreativ wie ein Comedian, wenn er von "Schlipswichsern" spricht, er verfügt bei der Analyse bekannter Zusammenhänge durchaus über analytischen Scharfsinn und zeigt Zusammenhhänge deutlich, die sowieso jeder kennt. Aber die meisten verdrängen, dass die schlechter ausgebildeten, sozial weniger kompetenten und intriganten schon immer die Karriere machen statt sie den gut ausgebildeten, sachlich kompetenteren, netten und menschlich wertvolleren Kollegen zu überlassen. Bloß ändert sich daran nichts,wenn man dieses Buch liest. Andernfalls wäre die Arbeitswelt ein Paradies und weder Haifischbecken noch Hamsterrad. Kein Chef-Arsch wird angstvoll furzen und sich vor dem harmoniesüchtigen Kritiker fürchten, kein Goldstück und keine Perle wird sich für Intrigen auch nur interessieren oder Kraft und Zeit auf Gemeinheiten verschwenden wollen. So what?

Alexander Neubacher: ÖKOFIMMEL (272 S., 19,99 €, DVA München): Wie wir versuchen, die Welt zu retten, und was wir damit anrichten bzw. wie man uns damit verarscht, zeigt manchmal durchaus witzig ein Autor, der schon beim Nachrichtenmagazin SPIEGEL das Maul wetzen lernte. Neben durchaus berechtigter Kritik an der aktuellen Umweltpolitik steht das lustvolle Schlachten Heiliger Kühe auf seinem Programm. Dass etwa Biodiesel und Maisdanbau für E10 technisch Blödsinn ist und den Hunger in der Dritten Welt verschärft, wissen wir aber schon. So gesehen rennt der Autor mit Getöse manche weit offene Tür ein (z.B. der Unsinn der Energiesparlampe, die Negativfolgen falschen Wassersparens, die Gefahren einer Energiewende ohne neue Netze und Speichertechnik, der Quatsch mit dem ewigen Gerede von "Wachstum", die Unerträglichkeit ökologischer Oberlehrer, die gern Menschen gängeln). Bio contra Öko, DDT, Gut gegen Böse, Gentechnik-Phobie: da gibt es durchaus echten Diskussionsbedarf; denn Neubacher provoziert, damit Probleme auch zu Ende gedacht werden. Bemerkenswert sind vor allem einige konkrete und gar nicht dumme Vorschläge im Schlusskapitel "Was tun?" Jede Umweltpolitik gehört ab und zu reformiert und durchgerüttelt. - Kein übler Gedanke.





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