Seiten

Donnerstag, 9. Mai 2019

Fasil Iskander: ein großartiger Erzähler

373 Seiten, die 1987 noch 36 D-Mark kosteten: 

Aus meinen Bücherregalen ziehe ich manchmal reuevoll Sachen, zu denen ich als Literaturkritiker nie gekommen bin und die mir dann ungeahnte Freuden bereiten. Jeder Bücherfreund kennt das Gefühl beim Durchblättern der Verlagsprospekte und beim Sammeln der Schätze, wenn die Augen und die Lust größer sind als das Zeitbudget oder die Überredungskünste bei Rezensionsangeboten. Dabei stimmt es wirklich, wie ich mich jetzt überzeugen konnte: Fasil Iskander (geboren 1929 in Suchum, Abchasische SSR, heute ein abtrünniger Teil des NATO-Möchtegernmitglieds Georgien, gestorben 2016 in Moskau) war einer der beliebtesten Schriftsteller der Sowjetunion und ist eine der ganz großer Erzähler der Weltliteratur. 1987, als der erste Band seiner Romantrilogie "Sandro von Tschegem" bei S. Fischer in deutscher Übersetzung erschien, war das traurige Normalität. In der UdSSR konnte diese wunderbare Prosa niemals vollständig erscheinen, sondern nur stark gekürzt. Denn der Autor hat nicht bloß einen satirischen Blick auf untergegangene Zeiten, Zustände und Realitäten, sondern auch eine große Liebe zu seiner Heimat zwischen Kaukasus und dem Schwarzen Meer, sowie den Schrullen, Sitten und Bräuchen ihrer Bewohner.
Verblüfft liest man da von einem Vielvölkerstaat im Vielvölkerstaat: In Abchasien leben bis heute Griechen, Türken, Abchasen, Russen, Armenier, Georgier, Endursker und Juden, nur sind letztere fast sämtlich dem "großen Schnauzbart" und Georgier Jossip Stalin und seinen Vernichtungsphantasien zu Opfer gefallen, die kaum kleiner waren als die des deutschen Adolf Hitler. Man liest davon, wie die jüdischen Händler in Zeiten der Kollektivierung um 1936 keine Läden mehr haben durften und deshalb als (sehr erfolgreiche) fliegende Händler mit diplomatischen Fähigkeiten und Sprachtalent Land und Leute erst kennen lernten und dann auch glücklich machten. Denn irgendwie schafften sie es, alles aufzutreiben, was die Planwirtschaft der Sowjets nicht hinbekam.
Man war Selbstversorger in diesen Ländern irgendwo rund um den Kaukasus, aber auf jeden Fall am Arsch der Welt. Man war tolerant in wichtigen und nachtragend in unwichtigen Dingen. Man war arm und liebte das Leben und die Blutrache in diesem schönen Land, das Iskander mit pastoraler Poesie so wunderbar beschreibt. Man hatte dort schon immer ein sehr spezielles Verhältnis zum Staat und zu seinen Behörden - vor allem in Zeiten der Zwangskollektivierung, als alle selbständigen Bauern Kolchosbauern werden sollten und nichts mehr funktionierte, weil sich ahnungslose Parteisekretäre in landwirtschaftliche und handwerkliche Entscheidungen einmischten.
Klar, so etwas hätte ich als Stalinist auch gestrichen: Nicht nur die humorvoll erzählten Eigenwilligkeiten der Bauern in der Kolchose, sondern auch noch der zum Brüllen komische Dialog, mit dem der gerissene, wortgewandte Held "Onkel Sando", seines Zeichens Tänzer im Volkstanzensemble der Abchasischen Volksrepublik, sich aus einem gefährlichen Dialog mit dem "großen Schnauzbart" herauszureden weiß. Dabei hat er sich diesen Schlamassel nur eingebrockt, weil er nach großartigem Vortanz bei einem Essen der Kreiskomissare der Region Westgeorgien, wo Stalin als Urlauber den Vorsitz führte, eine Spur zu witzig und zu besoffen und zu selbstbewusst auftrat. - Herrlich!
Für mich absolute Weltklasse ist der Abschnitt "Das Maultier des alten Chabug erzählt". Man stelle sich die Rosinante von Don Quijote im 20. Jahrhundert im Kaukasus vor. Das kluge Tier weiß nicht nur, warum Maultiere besser als Pferde und klüger als Hunde sind, es weiß auch um das lose Mundwerk seines Herrn Onkel Sando. So erfährt der Leser auch gleich von den erzählerischen Fähigkeiten des Fabelerfinders Iskander. In loser Folge fügt er Episoden aneinander, die von einer untergegangenen Zeit erzählen und doch von (guten wie schlechten) menschlichen Gewohnheiten, die uns bekannt und zugleich vollkommen fremd sind. Mir hilft dieses Buch auch auf freudig-erschreckende Weise, besser zu verstehen, warum die Abchasen heute die russische Armee im Land haben - aus Angst vor der Übermacht eines Georgien, zu dem sie formal noch gehören und das am liebsten der NATO betreten würde. Solche "Lösungen" sind den Abchasen allemal lieber als Grüne Männchen wie auf der Krim. Da werden dann die alten Geschichten plötzlich ganz aktuell.

Keine Kommentare: