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Montag, 13. Mai 2019

Karl-Markus Gauß zum 65. Geburtstag

Karl-Markus Gauß wurde am 14. Mai 65 Jahre alt. Er ist ein Schriftsteller, den ich ganz besonders verehre, weil er so effizient und professionell wie bescheiden ist. Ich lernte den Salzburger Autor und Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik telefonisch kennen, nachdem mich 2009 sein Essayband "Die fröhlichen Untergeher von Roana" über ethnische Minderheiten in Europa begeistert hatte. Vor allem sein liebevoller, gut recherchierter Reisebericht über die Zimbern in den italienischen Bergdörfern Roana und Lusern bei Trient hatte es mir angetan. Diese Menschen stammen mitnichten von den germanischen Zimbern und Teutonen ab, die um 100 vor Christus Rom verwüsteten, sondern von einer deutschen Minderheit weit südlich der Sprachgrenze bei Salurn. Sie sprechen ein mittelhochdeutsches Bayerisch und haben ihren Namen davon, dass sie gute Zimmerleute und Waldbauern waren. Wie auch immer, sie wanderten vor gut 1000 Jahren während einer Hungersnot in Bayern in ein Gebiet aus, das ihnen der Erzbischof von Trient zur Verfügung stellte. Und weil sie während der Völkerwanderung als Wehrbauern plündernde Normannen fernhielten und der Flotte von Venedig Holz für deren Schiffe lieferten, mussten sie keine Steuern zahlen und blieben weitgehend autonom. Da ihre Dörfer so abgelegen sind, konnten sie ihre Sprache und ihre Sitten zu einem guten Teil bewahren. Aber was einmal 20 000 Menschen waren, ist heute bis auf einen Rest von vielleicht 300 Seelen geschrumpft. Ich wollte dieses vom Aussterben bedrohte Volk besuchen, um Tonaufnahmen zu machen und für das Kulturradio SWR2 einen großen Reisebericht zu produzieren. Denn Gauß hatte sehr eindrucksvoll einen alten Dichter der Zimbern beschrieben und einen alten Gastwirt, der mit seinen Freunden die alten Lieder sang und die alten Sagen und Märchen der Zimbern noch erzählen konnte. Das musste ja ins Radio, und ich wollte gemeinsam mit Karl-Markus Gauß hin. Doch er lehnte freundlich, aber bestimmt ab: Das Schreiben sei ihm schon Mühe genug, fürs Radio habe er weder Zeit noch Kraft übrig. Großzügig bot er mir jedoch an, seine Quellen und Informationen zu nutzen. Er gab mir sogar wichtige Adressen, die mir bei den Recherchen entscheidend weiter halfen. So kam die Radiosendung über die Zimbern tatsächlich zustande und erhielt ein großes Echo. 
Ich erzähle das, weil es typisch für die Art ist, wie Gauß wirkt. Auch als Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik ist er seit vielen Jahren ein Ermöglicher für andere. Schon 2005 hatte ich seine "Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone"  über Begegnungen mit Menschen in Ost- und Mitteleuropa gelesen, die von ihren Erfahrungen als neue EU-Mitlieder erzählten. 2007 waren mir seine tagebuchartigen Journale unter dem Titel "Zu füh, zu spät" durch ihre enzyklopädische Bildung und ihre umfassende Neugier aufgefallen. Seine Vorliebe für Reiseberichte zu Minderheiten kannte ich also schon, als bei Zsolnay der Essayband "Zwanzig Lewa oder tot" über die Situation auf dem Balkan erschien. Jetzt also folgt eine Reise gänzlich anderer Art: "Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer" (Zsolnay Verlag Wien, 220 Seiten, 22 Euro). In der Tat geht er da mit den kleinen Dingen seines Alltags genauso um wie mit den Menschen und Sachen, die er auf seinen Reisen durch die Welt antrifft.
Karl-Makus Gauß in seinem Zimmer

Abgesehen davon, dass dieses Buch eine faszinierende Einladung in den privaten Kosmos eines Schriftstellers ist, in dem ich wegen meiner Salzburger Jugendjahre viel Bekanntes wieder entdecke: Der Leser wird Zeuge, wie Dinge plötzlich Geschichten erzählen, weil der Autor ihnen nachgeht, sich damit auseinandersetzt, recherchiert. Da wird aus einem simplen Brieföffner eine ganze Welt. Auf dem schwarzen Griffplättchen des alten Brieföffners steht "Eternit-Schiefer - Patent Hatschek". Und aus dieser Winzigkeit entwickelt  Gauß die Welt des österreichischen Industriellen Ludwig Haschek, der im Jahr 1856 aus Mähren einwanderte, eine alte Fabrik in Vöcklabruck kaufte und mit einem Patent anfing, die ungeheuer erfolgreichen und später viel geschmähten asbesthaltigen Eternitplatten zu produzieren. Dieser weltweit beliebte, preiswerte Baustoff wird wegen seiner Langlebigkeit erst langsam zu Sondermüll, weil man herausgefunden hat, wie schädlich Asbest ist. Auch der Eternit-Erfinder starb vermutlich daran.
Klar: Wenn man so an eine Sache herangeht, braucht man ein ganzes Buch, um die Geschichten all der Alltagsdinge zu erzählen, die einen Menschen umgeben. Es ist eine Reise nach Innen, die jeder machen kann. Ich zum Beispiel wollte schon immer mal darüber schreiben, was es mit dem Bernstein auf zwei altmodischen Zierkorken auf sich hat, die ich geerbt habe, mit der kleinen roten Glasflasche aus Prag, in der meine Mutter immer den Rum aufbewahrte, den sie zum Backen brauchte, oder mit meiner zufällig entstandenen Sammlung antiker bis digitaler Schreibutensilien, die aber eine Geschichte der ganzen Kulturtechnik des Schreibens enthalten.
Gauß ist ein Meister dieser Art des Erzählens, ein Flaneur durch äußere wie innere Welten. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix Charles Veillon, dem Vilenica-Preis, dem Georg-Dehio-Preis, dem Johann-Heinrich-Merck-Preis, dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur und dem Jean Améry-Preis für europäische Essayistik. Möge noch viel von diesem Autor zu lesen sein!

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