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Samstag, 19. September 2020

Verlorener Komponist & Teufelsgeiger, weiblich

Das erste Konzert des SWR Symphonie Orchesters nach sieben (7) Monaten in der Stuttgarter Liederhallle begann in einder unwirklichen Atmosphäre: Die Politik erlaubt nur 500 Zuhörer in einem Raum mit 2000 Plätzen, obwohl wir das seit den Salzburger Festspielen besser wissen. Das Publikum war kulturell dermaßen ausgehungert, dass man ihm gestern vermutlich auch Christian Lindner als musikalische Messias hätte vorsetzen können. Das Programm, das Chefdirigent Teodor Currentzis mit einem Teil der Musiker bot, war mit Helmut Lachenmann (2. Bild) zunächst leider nur orchestriertes Gestammel und Theatermusik ohne auch nur eine einzige Harmonie. Was der 85jährige als "Zwei Gefühle - Musik mit Leonardo für Sprecher und Ensemble" rezitierte, war leider nur verhackstückte Sprache. Das konnte Kurt Schwitters schon vor 100 Jahren besser. 

Warum man ausgerechnet Leonardo da Vinci braucht, um Irritation und scheinbare Aktualität zu formulieren, ist mir ein Rätsel. Doch dann kam Patricia Kopatchinskaja und rettete den Abend. Mit der Auftragskomposition "Possible Places For Violin And Ensemble" von Dmitri Kourliasnski ( * 1976) zeigten Solistin und Orchester, dass Neue Musik mehr ist als akustische Umweltverschmutzung bzw. der Missbrauch ungeeigneter Instrumente zur Erzeugung ohrverletzender Geräusche.

Vor allem mit der barocken "Battaglia für Streicher und Basso Continuo" von Ignaz Franz Biber verführte die Kopatchinskaja Orchester und Publikum zu Lust und Spielfreude voller Rhythmus und Tempo jenseits musikalischer Altersgrenzen. Teils als lockendes Weib, teils als Amazone, die Geige und Bogen wie Schwert und Schild führte, zeigte sie echtes Musiktheater und mitreißend viel Spaß an der Freude. Wie groß ihre musikalische wie darstellerische Bandbreite ist, war in dem rührenden Duett mit Teodor Currentzis zu sehen und zu hören, mit dem das lyrische Poem "Anahit" von Giacinto Scelsi begann (1905 - 1988): Sie sang, wie der Dirigent am Boden sitzend, zur zarten Melodie eines alten Kinder- oder Liebesliedes. Ihre Körpersprache ganz Kind, ganz mädchenhafte Unschuld in Weiß. Auch dann, als alle Harmonie und Träumerei längst abgestreift war und sie die Geige wie um ihr Leben spielte. Man muss Currentzis lassen, dass es ihm immer wieder gelingt, Solisten ganz sie selbst sein und Neues ausprobieren zu lassen. Da flog nicht nur die Haartolle des Chefs, sondern auch sein Schal. So wurde, was in humorlosem teutschen Bierernst begann, doch insgesamt ein großartiger Konzertabend.


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