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Montag, 30. März 2020

Ritt über den Bodensee

174 Seiten, 18,80 €

Ein wichtiges Buch - trotz erheblicher Schwächen

Als "Ritt über den Bodensee" bezeichnet der Volksmund ein extrem riskantes Unternehmen, nach einer Ballade von Gustav Schwab über einen Mann, der den großen See einmal zu Pferd überquert haben soll, als der See zugefroren war (was ohnehin sehr selten vorkommt). Es ist ein enormes Verdienst des Ludwigsburger Verlegers Traian Pop, zur Frankfurter Buchmesse 2018, als Georgien das Gastland war, eine ganze georgische bzw. kaukasische Bibliothek mit 26 Bänden veröffenlicht zu haben. Er hat damit den Blick mit einer Intensität, Breite und Tiefe auf dieses Land und seine Literatur gerichtet, zu der keiner der großen deutschsprachigen Verlage fähig war. Doch vor mir auf dem Tisch liegt zum Einlesen die "zweite, überarbeitete und ergänzte Ausgabe dieser "kurzen Einführung in die georgische Literatur", die Stärken und Schwächen hat. Ich plädiere dafür, die Schwächen zu verzeihen, weil die Stärke dieses Buches für mich klar überwiegt: Es gibt dergleichen (noch) nicht in deutscher Sprache. Dabei beleuchtet dieses Buch das Entstehen und die Vielfalt einer Literatur am Rand Europas, wo einmal seine Mitte war.
Die eine Schwäche, die wohl am meisten ins Auge fällt, ist rein sprachlicher Natur. Das Buch hätte meines Erachtens eine sorgfältigere redaktionelle Überarbeitung verdient. Die bisherigen Arbeitsdurchgänge waren wohl doch zu sehr von Eile geprägt. Vielleicht haben auch zu viele Köche bzw. Köchinnen den Brei verdorben: Auffallend ähnlich sind jedenfalls die Armut des Vokabulars bei allen Autorinnen und Autoren und einige geradezu "typische" Stilmängel dieses Sammelbandes. An den Autoren liegt das kaum.
Dr. Maka Elbakidse ist als Komparatistin, stellvertretende Direktorin des Schota Rustaweli Instituts für georgische Literatur der Universität Tbilissi und Chefredakteurin einer wissenschaftlichen Zeitschrift hervorragend qualifiziert. Ähnlich würde ich ihren Kollgen Gaga Lomidse einschätzen, der am gleichen Institut promoviert hat, oder Irma Ratiani, die Leiterin des Instituts. Auch die Referenzen von Dr. Miranda Tkeschelaschwili, wissenschaftliche Sekretärin an eben diesem Institut, oder Dr. Marine Turaschwili, Leiterin des Folklore-Archivs am Schota Rustaweli Institut, lesen sich makellos. Doch schon die Bezeichnung "Folklore-Archiv" lässt nicht an seriöse Volkskultur denken, sondern eher an Oktoberfest-Sänger wie DJ Ötzi oder den kunsthandwerklichen Kitsch, den bayerische Souvenierläden anbieten. - Eine Kleinigkeit, gewiss. Aber durch solche Petitessen gerät hier permanent Großes in ein völlig falsches Licht. Die Wortwahl ist eben nicht egal. Ich vermute sogar angesichts der häufigen nationalen und historischen Bezüge der beschriebenen Literatur, dass es um nationale Identität durch Literatur geht, und dafür ist "Folklore" wirklich kein passender Ausdruck.
Dazu kommen Probleme mit Syntax und Semantik. Ein (harmloses, kleines) Beispiel dafür mag genügen. Der letzte Satz im sonst guten Vorwort von Irma Ratiani lautet: "Wir hoffen, dass die Mission dieser im Rahmen des Projektes geleisteten Arbeit erfolgreich sein wird". Dabei geht es um die durchaus verdienstvolle und legitime Aufgabe, "einerseits nicht-georgischen Studierenden der georgischen Kultur deren spezifische Natur aufzuzeigen, andererseits die Stellung der georgischen Literatur in der literarischen Welt zu definieren." - Selbstverständlich ist diesem Anliegen Erfolg zu wünschen, aber welcher "Mission" bitte? Auch dass die Texte vom erwähnten Schota-Rustaweli-Literaturinstitut als Teil eines Projekts "Rolle und Stellung der georgischen Literatur in der Weltkultur" für ein Programm "Georgisch als Fremdsprache" entstanden sind, ist eine sinnvolle Information. So erhalten die Leser eine Einordnung des Niveaus, das erwartet werden darf.
Da alle AutorInnen des Sammelbandes ausgewiesene Spezialisten mit eindrucksvollen Publikationslisten sind, vermute ich die Übersetzerinnen Manana Paitschadse und Maja Lisowski als Urheberinnen der sprachlichen Schwächen. Beide Germanistinnen stammen aus Tbilissi, sind also keine deutschen "native speaker". Da ist es keine Schande, wenn ihre Texte vor dem Druck in deutscher Sprache einer gründlichen Korrekturdurchsicht bedürfen. Hätte es die gegeben, dann stünde im ersten Kapitel mit der interessanten Beschreibung der Entstehung Georgiens im Spiegel georgischer Schriften nicht "Die Mehrheit der Quellen behauptet, das Goldene Vlies sei ein auf Fell geschriebenes Buch". Korrekt dürfte es wohl heißen "ein auf Tierhaut oder Pergament geschriebenes Buch." Doch Schluss mit der Beckmesserei.
Richtig spannend ist zu lesen, wie eng die Verbindung mit Griechenland durch die Sagen um Jason, Medea und das Goldene Vlies war - eine Sagenwelt, die auch hier jeder einmal wahrgenommen oder doch wenigstens gestreift hat. Mythen und Märchen Georgiens sind  eng mit denen anderer Kulturen verzahnt. Märchenerzähler und mündliche Traditionen, wie sie in orientalischen Ländern immer noch verbreitet sind, spielen in der Grenzregion zu arabischen und ehemals osmanischen Kulturen eine große Rolle. Dass die vielfach preisgekrönte Autorin Nino Haratischwili aus Tbilissi nach der Heiligen Nino benannt ist. Soie war die erste Missionarin, eine große Gelehrte und Klostergründerin. Die griehisch-orthodoxe Kirche nennt sie "Erleuchterin Georgiens" und stellt sie den Aposteln gleich. Das kann in der Macho-Kultur dieser Region nicht genug betont werden. Ihrem Wirken und desen Folgen ist das Kapitel über die Ursprünge der georgischen Schrift im 5. Jahrhundert gewidmet. Der Einfluss griechisch-orthodoxer Missionare und Missionarinnen im Land am Kaukasus war enorm, wovon noch viele denkmalgeschützte Kirchen erzählen. Bedeutende Zeugnisse georgischer Klöster als Kulturzentren gibt es außerdem in der griechischen Mönchsrepublik auf dem Berg Athos, im berühmten Katharinenkloster auf dem Sinai und im Kreuzkloster zu Jerusalem.
Wie im 12. und 13. Jahrzundert nach dem Muster der Heiligenbiographien die ersten weltlichen Ritter- und Liebesromane entstanden, beschreibt Maka Elbakidse. An erster Stelle steht hier das bekannte Epos "Der Recke im Pantherfell" von Schota Rustaweli. Der Autor dieses Buches, der Wesir (Finanzminister) der für ihn unnahbaren Königin Tamar, schaffte es mit seinem Werk auch in europäische Übersetzungen. Vielleicht war die Hauptursache die sprachliche Qualität und die Ähnlichkeit mit der höfischen Kultur des europäischen Mittelalters. Von dieser Arbeit aus den Jahren 1189 - 1207 gibt es etliche Abschriften, die als besondere Beispiele schönen georgischen Schrift und Buchkunst gelten. Darin zeigt sich drucksvoll, wie sich vor allem im "goldenen Zeitalter" der georgischen Literatur (12./13. Jh) westliche und östliche Traditionen verbinden. Höhepunkte der höfischen Literatur in Georgien waren darüber hinaus Werke der Dichterkönige Teimuras I. und Artschil, die beide starke Einflüsse aus Persien aufnahmen und politisch erfolglos blieben.
Vom 13. zum 17. Jahrhundert lebte Georgien unter mongolischer bzw. persischer Herrschaft, weshalb der georgische Buchdruck erst im 17. Jahrhundert begann. Kurios: Das erste auf Georgisch gedruckte Buch kam aus Italien, weil König Teimuras beim Papst nach Verbündeteen suchen ließ, als die Perser sein Land überfielen. Er fand keine Hilfe, weckte aber das Interesse von Missionaren, die neben der Bibelübersetzung auch ein Wörterbuch in Auftrag gaben. Auch eine romantische Literatur entstand im 19. Jahrhundert in Georgien, doch die Namen ihrer doch recht heterogenen Vertreter sagen uns hierzulande nichts, und ihre Vorbilder waren kein Deutschen, sondern Russen oder Briten. Gemeinsam war allen nur ein Nationalismus, der sich zwar in der Abgrenzung gegen osmanische, persische und russische Besatzungen historisch erklärt, aber für sich genommen noch kein Qualitätsmerkmal ist.
Die georgische Moderne, die Sowjetzeit und die postsowjetische Literatur in Georgien wären für hiesige Leser vielleicht besonders interessant. Leider bräuchte es dazu mehr Informationen als schier endlose Aneinanderreihungen von Namen. Die Vertreter nahezu aller Stilrichtungen werden lediglich erwähnt, nicht einmal Lebensdaten oder Zitate geben eine Kostprobe oder einen Eindruck davon, was diese Autorinnen und Autoren eigentlich zu bieten haben. Schade, könnte man meinen. Aber vielleicht ist gerade das ein Grund, weitere Bücher der "kaukasischen Bibliothek" beim Pop-Verlag genauer unter die Lupe zu nehmen. Da schlummern sicherlich noch einge Schätze.

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