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Sonntag, 12. September 2021

Prokofjew pur mit 2000 Menschen: ein Ereignis

Teodor Currentzis, Yulianna Avdeeva und das RSO

So sehen glückliche Musiker bei einem  tosenden Schlussapplaus von 2000 begeisterten Musikfreunden aus. Nach mehr als anderthalb Jahren Corona-Zwangspause gab das Radio Symphonieorchester Stuttgart des SWR am 9. und 10. September erstmals wieder ein Konzert im fast voll besetzten Beethovensaal der Liederhalle.

Es war ein Abonnementkonzert, aber doch keineswegs ein "normales" Konzert. Denn Zugang hatte nur, wer nachweislich geimpft, genesen oder getestet war. Und das wurde auch kontrolliert. So gab es dann lange Schlangen vor den Eingängen, die aber zügig abgebaut wurden. Ahnungslose Passanten werden sich wohl oft gefragt haben, ob es hier etwas umsonst gebe. Uns fragten Touristen, was denn los sei. Als sie es erfuhren, sagten sie, sie würden im Hotelzimmer den Stream anschauen. Das Publikum ist ausgehungert nach Live-Musik. Deshalb standen sie geduldig Schlange vor dem Einlass und trugen diszipliniert die vorgeschriebenen Schutzmasken - schon auf dem Vorplatz.

Erst zwei Wochen zuvor hatte die Politik "grünes Licht" gegeben und die bisher gültigen Einschränkungen der Besucherzahlen aufgehoben. Deshalb konnte es keinen normalen Vorverkauf geben, als Ersatz nur die Möglichkeit, an wenigen Tagen zwei Stunden am Tag telefonisch ein Ticket zu kaufen oder im Internet. Unsere gewohnten (guten) Stammplätze waren so nicht zu bekommen, wir mussten online laut Saalplan buchen wie jeder Nicht-Abonnent auch. Aber Termin und Buchungswege standen in der Zeitung, und die Leute kauften Karten wie verrückt. Besser: Die Leute sind verrückt nach Kultur! Und die Musiker auch. Noch eine Beobachtung am Rande: Die Besucher waren auffallend gut gekleidet. Die fanden wohl, das wer dem festlichen Anlass angemessen. Ich habe jedenfalls im Publikum nirgends die sonst inzwischen verbreiteten Schlabberjeans und Norwegerpullis gesehen.

Auch ein Blick in den Saal bestätigte diesen Eindruck, obwohl ich den Anblick von 2000 Menschen mit Corona-Schutzmasken schon bedrückend und gruselig finde.

Es war ein Programm, das Currentzis ganz Sergej Prokofjew (1891 - 1953) gewidmet hatte, einem der bedeutensten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der am gleichen Tag wie Josef Stalin und darum fast unbeachtet von der Öffentlichkeit in Moskau starb. Der Chefdirigent hatte für den Neustart mit seinen Musikern das Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur und die Sinfonie Nr. 5 B-Dur mit gewohnter Gründlichkeit einstudiert. Und sie müssen mit viel Freude und Hingabe geprobt haben, denn das Ergebnis war phänomenal. Den Anfang machte Yulianna Avdeeva mit dem schwersten Klavierkonzert, das ich je gehört habe. Und sie meisterte diesen Höllenritt über einen musikalischen Bodensee perfekt. Ein Kraftakt. Die vielen gnadenlos schnellen und komplizierten Läufe über Hand, die häufig extremen Tonsprünge über mehrere Oktaven, und dazwischen melancholische Pianissimo-Passagen hätten viele andere gekillt und rissen das Publikum von den Stühlen. Prokofjew war eine Art russischer Liszt, also auch ein begnadeter Pianist. Der Komponist war aber auch ein Hühne von Mann, fast zwei Meter groß und muskulös. Er hat dieses Klavierkonzert oft selbst als Solist gespielt, und Kritiker attestierten ihm "Finger aus Stahl".

So, und nun kommt dieses zarte Persönchen und nimmt es mit diesem Stück auf! So viel Kraft und so viel Technik bei so viel Gefühlt - das ist schon sensationell. Yulianna Adeeva ist keine Schönheit wie so viele andere im Promi-Zirkus. Sie konnte immer nur durch besondere Leistung bestechen, und das tut sie offenbar nicht nur bei Currentzis. 1985 wurde sie in Moskau geboren und lebt seit 2008 in der Schweiz, weshalb sie sehr gut Deutsch spricht und eine begehrte Interviewpartnerin ist. Sie startete nicht gleich mit großen ersten Preisen, sondern wurde oft genug Zweite, um Fleiß und Ehrgeiz wach zu halten. Mit dem ersten Preis im internationalen Chopin- Wettbewerb von Warschau aber kam 2010 der große internationale Erfolg. Zu Recht, wie man hören konnte. Am Flügel ist sie eine Urgewalt mit einem enormen Temperament. "Mit dem Flügel darf man nicht kämpfen", sagt sie. "Man muss ihn schon überzeugen".  SWR Symphonieorchester | SWR Classic | SWR.de

Currentzis dirigierte einen vollkommenen Dialog nicht nur der Instrumentengruppen innerhalb des Orchesters, sondern auch mit der Solistin. Sie müssen sich alle zusammen genug Zeit genommen haben, um da auch an den letzten Feinheiten der Abstimmung und der Dynamik zu feilen, was ja auch erst in den letzten zwei Wochen möglich war. Sie haben sich diese Freiheit gemeinsam erarbeitet: bei aller Präzision Raum für Spontaneität zu lassen, ein Zwinkern, ein Grinsen. Da war kein Ton Zufall. Es gab mehrere Zugaben, Bravo-Rufe (durch die Maske!) und Standing Ovations. Jeder im Publikum spürte: Wir waren Zeugen eines Ereignisses gewesen. Erschöpft und dankbar erreichten wir nach knapp zwei Stunden den Ausgang. Dankbar auch, die Maske endlich absetzen und durchatmen zu können.

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