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Donnerstag, 1. Juli 2021

Und jede Zeile ist auch Poesie: Das Buch der Pandemie schlechthin!

 

Marica Bodrožić

Pantherzeit

Vom Innenmaß der Dinge

Otto-Müller-Verlag Salzburg 2021

262 Seiten,€ 22,-

E-Book: € 18,-

ISBN 978-3-7013-1287-0

 

Foto: Otto Müller Verlag


 

 

 

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt  

(Rainer Maria Rilke)

Als im Frühling 2020 die Welt zum Stillstand kam und auch die Erde durchzuatmen schien, las Marica Bodrožić zwei Monate lang auf ihrem Balkon jeden Abend Rilkes Gedicht „Der Panther“. Hab en Sie je so ein Tier im Zoo beobachtet? Wilder als alles Vergängliche, schreibt Boxdrozic, der eigenen Eingesperrtheit zum Trotz, sei der Wunsch des Menschen, in Freiheit zu leben. Was aber können wir tun, wenn wir gar nichts mehr tun können? Man kann tun, was Autoren in der Zelle eines Klosters, in Schreibklausur oder in Gefangenschaft schon seit Jahrhunderten tun, von Miguel de Cervantes und Martin Luther bis hin zu Alexander Solschnizyn und Can Dündar: Die Freiheit in der eigenen Seele suchen, mit Reisen durch die Erinnerung, in der Meditation, im Lesen und Lernen, in der Naturbeobachtung des Mikrokosmos vor dem Fenster bzw. einer Topfpflanze auf dem Fensterbrett, in Phantasiewelten. In allen Formen der Kreativität natürlich, im Philosophieren, Schreiben oder Malen, mit Mathematik und mit dem Erlernen von Sprachen. Ganz zu schweigen von dem ganzen Phantasiefutter, das Urlaubsfotos, CD-Regale, Filme und Bücher schon als Konserven für uns bereithalten.

Dieser teils aktuelle Erfahrungen reflektierende, teils beobachtend-erzählende und immer sehr persönliche Text tastet die seelischen Landschaften ab, die nur ein radikaler Rückzug möglich macht. Offenbar werden dabei nicht nur die eigenen schmerzverzahnten Lebensthemen, sondern auch die daraus funkensprühende Sprache der Transzendenz. Marica Bodrožić war immer schon eine Autorin, bei der auch jede Zeile Prosa die Sprache der Poesie atmete. In diesem Essay ist sie schreibend den Weg der Mystiker und Philosophen gegangen und hat ihre „innere „Burg“ gefunden, mit starken Trutzmauern und Wehrtürmen nicht nur gegen das Virus, sondern auch gegen Depression, Einsamkeit, Verschwörungsmärchen und Lagerkoller. Sie tut dies auf den geistigen Spuren der altgriechischen Mythologie, und des römischen Dichters Ovid, u. a. von Teresa von Avila und Meister Eckhart, aber auch Johannes vom Kreuz und Mechthild von Magdburg. Ebenso lässt sie lässt sich vom Psychologen C.G. Jung oder dem amerikanischen Architekten Richard Buckminster Fuller inspirieren, den man eher als Erfinder der "Buckyball-Moleküle" in der Nanotechnologie kennt, weniger aber als Denker.

Leitmotiv und Grundmelodie des Buches ist das Gedicht „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke oder, das sie zwei Monate lang während des ersten Lockdowns jeden Abend vom Balkon für ihre Hausgemeinschaft laut vorlas bzw. rezitierte. Ein bisschen exzessiv wirkt das, wie möglicherweise ihr ganzes bisheriges Leben. Kaum jemand hielt so lange durch, die Zuhörer wechselten. Aber sie ließ ihre Zuhörer auch teilhaben an den Gedanken dazu, die ihr täglich kamen. Und das können schon sehr viele sein, wie man an diesem Buch sieht. Darüber hinaus ist die ganze Poesie, Literatur und Philosphie ihr Steinbruch. Nicht alles daran ist gleich gut durchdacht oder elegant gesagt. Manche Sätze erinnern an das Geschwurbel eines Kant oder Heidegger mit Begriffen wie "Ursprungskern", "Lebensgebet", "Vorauskraft", "Herzsprechen" oder Herzkern". Doch es ist gar nicht nötig oder wichtig, ihren Gedanken und Formulierungen in jede Verästelung zu folgen. Jedem Aber steht als großer Trost gegenüber, dass sich die Autorin immer bemüht und es meistens schafft, allgemein verständlich zu bleiben.

Ossip Mandelstam und seine Frau Nadedshda gehören zu geistigen Schutzwall von Marica Bodrozic, Albert Camus und die Balkonpflanzen ebenso wie Hilde Domin, Lidia Ginsburg, die Wiederentdeckung von Langsamkeit und Stille etwa oder eine Freundin, die ihr während der 1425 Tage langen Belagerung von Sarajewo unter ständigem Beschuss schrieb: „Es geht mir gut. Ich übe mich in Geduld und innerer Sammlung“. Der Beginn der Pandemie liegt erst anderthalb Jahre zurück. Da wirkt alles Gejammer über Einschränkungen oft unerwachsen, egoistisch und kleinlich. Mit diesem Buch ist eine philosophische Reflexion über die Kraft der Grenze und des Schweigens entstanden, über Nähe und Liebe, über die Erfahrung von körperlichem Schmerz und die hinter dem Schmerz (oder durch den Schmerz) sprechende Syntax der Heilung. Dieser Essay ist zugleich Anrufung und Gebet, eine Feier der Langsamkeit und Genauigkeit, ein Niederknien vor der Gnade und den Verwandlungen des Lebens.

Hellfühlig, rigoros, poetisch und politisch zugleich erzählt dieser Text davon, auf welche Weise jeder einzelne Mensch zählt und dass sein Wert nicht verhandelbar ist. Sie schreibt über Achtung vor den Tieren, Dankbarkeit und darüber, wie die Pandemie unsere Gier ausbremst, den sinnlos-irrsinnigen Shopping-Wahn, die Ausbeutung von Menschen und Natur, Billig-Klamotten und Billig-Flugreisen, ihre Hoffnung auf ein Umdenken und mögliches Umsteuern. Da schreibt sie auch selbstkritisch über ihre atemlosen ständigen Reisen zu Lesungen, Festivals, Vorträgen, Gastdozenturen in der halben Welt. Da wird sich wohl nachhaltig etwas ändern. Wie anders ist solche Offenheit als die von Greta Thunberg!  Wie wünscht man ihr, dass sie Recht behalten möge: "Es ist jetzt die Zeit, in der alles neu wird und neu werden muss". Es kann. Es ist ein Buch gegen die Gleichgültigkeit und für die Empathie, das kaum einen Leser kalt lassen dürfte.

Das Buch wird vermutlich ähnlich mit Auszeichnungen überschüttet wie die Autorin; im April bereits stand „Pantherzeit“ schon auf der Bestenliste des ORF. Und Marica Bodrožić wurde trotz ihrer jugendlichen 48 Jahre im Mai für ihr Gesamtwerk den Manès Sperber-Preis für Literatur 2021 zuerkannt. Der mit € 8.000 dotierte Preis wird seit 1985 alle zwei bis fünf Jahre verliehen. Die Jury würdigt hier "das literarische Schaffen einer bedeutenden Autorin, die in Lyrik, erzählender Prosa und Essayistik sowie als Ãœbersetzerin aus dem Englischen und Kroatischen einen herausragenden Beitrag zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur leistet. Ihre inzwischen in dreizehn Sprachen übersetzten Werke zeichnen sich durch ein hohes Maß an Reflektiertheit aus, die eine betont expressive neoromantisch grundierte Sprachkunst ebenso einschließt wie eine von sinnlicher Anschaulichkeit geprägte Form der Darstellung." (aus der Jury-Begründung). Der Termin der Preisverleihung wird coronabedingt erst zu einem späteren Zeitpunkt bekanntgegeben.

Marica Bodrožić, 1973 im Hinterland von Split in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über, lebt und arbeitet heute in Berlin. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen, Essays, die sich stets im Resonanzraum von Ethik und Ästhetik bewegen und aus einem geistig ausgerichteten Sprachbewusstsein schöpfen. Seit ihrem Debüt „Tito ist tot“ (2002) sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich mit Gedächtnis und Erinnerung, Philosophie und Mystik auseinandersetzen. Dafür wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem European Prize for Literature (2013), dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2015) und zuletzt (2020) mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk. Marica Bodrožić lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie ist Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums. Zuletzt veröffentlicht im Otto Müller Verlag: "Das Auge hinter dem Auge" (Betrachtungen, 2015), "Quittenstunden" (Gedichte, 2011), "Lichtorgeln" (Gedichte, 2008) und "Ein Kolibri kam unverwandelt" (Gedichte, 2007).

 

 

 

 

 

 

 

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