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Dienstag, 6. April 2021

Anton Sterbling - ein rumänischer Kafka

Anton Sterbling: "Die versunkene Republik". Roman, Pop Verlag, Ludwigsburg, 280 Seiten, 18,50 € (D).

Anton Sterbling ist ein angesehener Wissenschaftler, Autor und Herausgeber deutscher Abstammung aus Rumänien. Die deutsche Minderheit in diesem südosteuropäischen Land ist seit weit über 100 Jahren ein Land der Dichter. Das hat auch mit den engen kulturellen Beziehungen zwischen dem deutschen und dem jüdischen Bildungsbürgertum in der Region der ehemaligen K.u.K. - Monarchie zu tun, die man auch Galizien nennt. Sie liegt heute in Ungarn, der Westukraine und Rumänien, so weiß man spätestens seit ausgiebigen Berichten über den deutsch-jüdischen Literatencluster Bukowina mit der regionalen Hauptstadt Czernowitz. Literarische Fixsterne dieser untergegangenen Welt sind, um nur einge stellvertretend zu nennen, so große Namen wie Joseph Roth, Alfred Margul-Sperber, Itzig Manger, Paul Celan, Rose Ausländer oder Herta Müller, die 2009 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Sterblings Erzählband "Die versunkene Republik" verhandelt wie der vorherige Band "Klimadelirium und andere furchtbare Erzählungen" diese politisch, historisch und kulturell komplizierten, aber extrem inspirationsträchtigen Kosmos. Er meint also nicht bloß die untergegangene Welt des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn (die Region wurde auch pupulär durch den Film und das Musical "Anatevka" nach dem Roman "Tewje, der Milchmann" von Scholem Elejchem). Untergegangen ist auch die Welt der "Donauschwaben" und das Erbe des real existierenden Sozialismus. Aus diesem Grund ist die deutsche Minderheit aus dem Banat nach Deutschland ausgewandert. Darunter sind immer noch erstaunlich viele Dichterinnen und Dichter. Anton Sterbling ist einer der Vielseitigsten von ihnen und hat sich, anders als andere, die sich dafür zu schade waren, als Wissenschaftler immer selbst ernährt.

Im Vorwort des Autors heißt es: "Das Anliegen dieser Erzählungen ist die künstlerische Erfindung des eher Unwahrscheinlichen, aber doch nicht ganz Unmöglichen". Das trifft recht gut den Tenor des gesamten Bandes, dessen Titelgeschichte schon mit dem erstern Satz sprachlich sehr an Franz Kafka erinnert: "Man hatte mich zum Stadtschreiber bestellt und mir nahezu unbegrenzte Rechte und Arbeitsmöglichkeiten zugesagt. Das war wahrscheinlich ein Fehler." Eine trockene, nüchterne Sprache, mehr Kanzleistil als Poesie schreibt Sterbling. In ihrer gelegentlich geradezu altmodischen Umständlichkeit liegt manchmal Ironie, häufiger aber List. Sie könnte täuschen über die brillante Intelligenz dieses Autors, ebenso wie die scheinbare Naivität des Ich-Erzählers. Dessen sachliche Sprache erzeugt Distanz, bewirkt aber auch so etwas wie Objektivität.

Das Skurrile hält schon mit dem Beschluss des Stadtschreibers Einzug, den Kirchturm für einen Monat als Wohn- und Arbeitsplatz zu wählen, weil er von dort aus das ganze Gebiet überblicken kann, über das er schreiben will. Wie zur Erfüllung eines Gelübdes erlegt er sich auf (vergeblich, wie sich rasch zeigen wird), sich weder zu rasieren noch den Kirchturm zu verlassen, bevor er seinen Auftrag erledigt hat. Der Takt der Turmuhr und die Aussicht sollen dazu beitragen, "in der Zeit und doch zugleich jenseits von ihr, konzentriert und trotzdem immer wieder abschweifend, nachzudenken und Folgendes zu schreiben...". Es soll eine Art soziologische Abhandlung werden über die historische Entwicklung seiner Heimatstadt, die er vor langen Zeit verlassen hat. Das Ergebnis ist eine grandioyse Metapher für seelische Verwüstungen, die Populismus und politischer Fanatismus hinterlassen.

Ähnlich wie Stefan Heyms Roman "Schwarzenberg" ist der Text ein Gedankenexperiment über eine winzige umstrittene Region rund um eine Kleinstadt, die nach dem letzten großen Krieg keiner der Siegermächte eindeutig zugeschlagen wurde und daher eine Zeitlang zur Enklave der Anarchie wurde. So könnte ein Schlüsselroman über den Banat anfangen, aber es ist keiner. Kaum dass die einzelnen Volksgruppen beginnen, sich selbst zu organisieren, beginnt der Zerfall. Jede Gruppe wählt Schulen in ihrer Sprache, baut eine eigene Verwaltung auf, zieht Steuern ein und stellt eine Miliz auf, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Dennoch: "Die Zahl der Vernünftigen und auf Verständigung ausgerichteten Persönlicheiten nahm im gleichen Umfang ab wie die der Hitzköpfe und auf Feindseligikeiten eingestellten Personenkreise zunahm". Vor allem Intellektuelle auf allen Seiten fachen nationalistische Leidenschaften mit demagogischen Parolen und Erfindungen an. Misstrauen, religiöse Konflikte und die Manipulation der Schulbücher tun ihr Übriges. Als Höhepunkt des Zerfalls tritt eine neuartige, unbekannte Seuche auf den Plan, die sich rasend schnell ausbreitet: Die Patienten sind verwirrt, können ihre Sprache nicht mehr und beherrschen stattdessen fließend drei andere. Ein deutsches Mädchen sprach plötzlich nur noch ungarisch, rumänisch und serbisch. Ärzte und Honoratioren finden keine Erklärung und suchen sie sogar in allerhand Varianten des Aberglaubens. Ein Schelm, war dabei an die Corona-Pandemie und diverse virulente Verschwörungsmärchen denken muss. 

Nach zwei Wochen taucht plötzlich eine ehemalige Schulfreundin auf, die bei der Stadt einen Bürojob hat und deren Mann als ehemaliger kommunistischer Funktionär den Veränderungen der "Wende" nicht gewachsen war und in der geschlossenen Psychiatrie sitzt. Sie gibt sich ungewöhnlich vertraulich, obwohl er sie längst vergessen hatte. Eines Abends lädt sie ihn zum Essen ein, er verlässt den Turm mit ihr (gegen sein Verprechen sich selbst gegenüber). Es kommt wie es kommen muss, die Sache endet in ihrem Schlafzimmer. Doch vor ihrem Bett liegt "...eine schwarze Katze, wohl ein kastrierter Kater, der mich mit einem scharfen Blick aus grünen Augen anfauchte. Und nicht nur das, er wollte keineswegs weichen, sondern schien plötzlich in drei oder vier fremdartigen Sprachen mit mir zu reden oder vielmehr mich zu bedrohen und zu beschimpfen". So schön die nachfolgende Liebesnacht, so seltsam die Atmosphäre des Unheimlichen. Das undurchschaubare Tier taucht auch später immer wieder an unerwarteten Orten auf. So überraschend die unbekannte Krankheit auftaucht, so rätselhaft bleibt auch ihr ebenso plötzliches Verschwinden. Mit der Übernahme der Region durch Rumänien endet die politisch-gesellschaftliche Instabilität, obwohl durch Polizei und Behörden, wie der Autor bedauert, die typisch balkanische und im Grunde noch osmanische Mentalität der Korruption "eingeschleppt" wird. Nachdem die Erzählung diese Wendung genommen hat, gibt der Autor sein Manurkript ab, beendet sein Stipendium überstürzt und bricht trotz der erotischen Versuchung ohne Abschied nach Hause auf.

Eine weitere Erzählung über das grausame Schicksal eines erfolgreichen serbischen Kaufmanns im kommunistischen Rumänien, der dummerweise auch ein Menschenfreund war, enthüllt Verlogenheit und Nationalismus im Vielvölkerstaat Rumänien. Die Geschichte eines jungen Mannes, Sohn des Ersten Parteisekretärs, der sich mit der Waffe seines Vaters aus Liebeskummer erschoss, legt strukturelle Korruption unter den Funktionären bloß. Ein Banater Schwabe reist nicht mit seiner Familie nach Deutschland aus, um mit einer Armeemannschaft Fußballprofi zu werden. Besonders kafkaesk ist die Erzählung über einen Studenten der Geschichtswissenschaften, den die übliche Geschichtsklitterung angesichts seiner wissenschaftlichen Interessen ims Gefängnis bringt. Ebenso landet ein jungen Deutscher unschuldig für Jahre hinter Gittern, weil die Securitate ihn mit falschen Papieren und Versprechungen gegen einen verurteilten Mörder austauscht, der wohl einer der ihren ist. Noch krasser vielleicht wirken Erlebnisse eines Exilschriftstellers in der Bundesrebublik mit dem Auslandsgeheimdienst der Securitate. Versöhnlich nach so viel Lug und Trug ist schließlich doch das Ende der Erzählung "Spielwunderwelt", wo ein am System gescheiterter Wissenschafter tatsächlich ein neues Glück als beruflicher Quereinsteiger findet. Meisterhaft lässt Sterbling die Balance in der Schwebe, bis zuletzt das gründlich zerstörte Vertrauen durch einen guten Menschen wieder hergestellt wird.

Sterbling präsentiert keine autobiografischen Erzählungen. Aber seine Biographie scheint an vielen Stellen durch. Anton Sterbling wurde 1953 in Groß-Sankt-Nikolaus (Sânnicolau Mare) geboren und war ab 1972 Gründungsmitglied der regimektitischen Aktionsgruppe Banat. Ihren Ursprung nahm die Gruppe in einem Literaturzirkel, den die Deutschlehrerin Dorothea Götz am Lyzeum (Gymnasium) ins Leben gerufen hatte. Auch Rolf Bossert, Johann Lippet, William Totok, Richard Wagner und Ernest Wichner waren dabei. Die meisten studierten Germanistik in Timisoara, Sterbling studierte zunächst Elektrotechnik für Betriebsingenieure. Die Mitglieder der Aktionsgruppe Banat gehörten zur deutschen Minderheit im zumeist dörflichen Banat und waren zwischen 1951 und 1955 geboren. Maßstab war, so Sterbling, nicht der sozialistische Realismus, sondern "das Selbstgeschriebene, das uns immer wichtiger wurde“, „zunächst auf der Schülerseite der Neuen Banater Zeitung, später in anderen Zeitungen und Zeitschriften“ wie Universitas“. Horst Weber, damas Redakteur und Rezensent der Zeitung Die Woche aus Hermannstadt (Sibiu), nannte die Autoren nach einer Lesung „Aktionsgruppe junger Schriftsteller“. 1975 wurde die Gruppe vom Geheimdienst Securitate aufgelöst. Wie andere Mitglieder fürchtete Sterbling Repressalien und reiste aus. Lose befreundet waren mit der Gruppe auch Herta Müller, Oskar Pastior, Horst Samson und Werner Söllner. 

In Mannheim studierte Anton Sterbling Soziologie, Volkswirtschaft und Wissenschaftslehre und machte seinen Abschluss als Diplom-Soziologe 1981. Danach arbeitete Sterbling bis 1997 an der Bundeswehr-Universität Hamburg, zuletzt als Oberassistent und Privatdozent. In Hamburg promovierte er 1987 mit einer Dissertation über Eliten im Modernisierungsprozess. 1993 folgte seine Habilitation im Fach Soziologie. Von 1993 bis 1994 übernahm Sterbling eine Professurvertretung an der Universität Heidelberg, von 1996 bis 1997 ebenfalls vertretungsweise den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Bonn. Von 1997 bis zu seinem Ruhestand (2019) lehrte Sterbling als Professor für Soziologie und Pädagogik an der Hochschule der Sächsischen Polizei und betreute von 2006 bis 2016 das Graduiertenkolleg Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Erfurt. Sterbling kennt also die unsteten Wechselfälle des teils prekären akademischen Wanderlebens hierzulande ebenfalls aus Erfahrung.

Die wissenschaftlichen Publikationen Anton Sterblings weisen ihn als Kenner der komplexen geopolitischen Verhältnisse und Geschichte zwischen Ost- und Westeuropa aus. Modernität und Rückstündigkeit, Zuwanderung und Integration, Nationalismen und multikulturelles Zusammenleben haben ihn zeitlebens interessiert.

Sterblings literarisches Debüt erschien erst 2019 beim Pop Verlag Ludwigsburg: der Band Entrückung in den Kopfstand. Gedichte und Texte 1968 bis 2019. ISBN 978-3-86356-283-0.

Mehr zum vielseitige Werk dieses Autors und Grenzgängers ist zu finden in der Monographie Über deutsche Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle aus Rumänien. Pop Verlag, Ludwigsburg 2019, ISBN 978-3-86356-251-9.

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