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Montag, 16. November 2020

Aus meinem Bücherregal: "Mortal Engines" von Philip Reeves

 

- Krieg der Städte (333 Seiten, 12 €)

- Jagd durchs Eis (360 Seiten, 12 €)

- Der Grüne Sturm (381 Seiten, 12 €)

- Die verlorene Stadt (574 Seiten, 14 €)

Irgendwann in einem Jahrtausend nach unserer Zeitrechnung hat der britische Autor und Illustrator diesen opulenten Vierteiler von SF-Romanen angesiedelt, deren flotte deutsche Übersetzungen von Nadine Püschel und Gesine Schröder bei Tor im S. Fischer Verlag erschienen sind. Teil I beginnt lapidar mit dem Satz: "Es war ein dunkler, böiger Nachmittag im Frühling, und im ausgetrockneten Bett der Nordsee eröffnete London die Jagd auf eine kleine Schürferstadt." Rein sprachlich steht diese Dystopie mit sachlichen Beschreibungen und sarkastisch.knappen Dialogen in der besten Tradition britischer Thriller. Schon Wetter und Landschaftsbilder rufen eine Stimmung hervor, die uns an den warmen Ofen ins warme Licht einer Leselampe auf den gemütlichen Lesesessel zieht. Grusel-Zeit im Corona-Herbst.

Nach dem 60-Minuten-Krieg, einem verheerenden Schlagabtausch mit satellitengesteuerten Atomwaffen und Designerviren, den nicht einmal die historischen Bücher und Medienarchive das Wissen aus den Zeiten davor überlebten, haben sich die Städte mit gigantischen Motoren und auf überdiemensionalen Raupenketten in Bewegung gesetzt: In etwa wie Disneyland-formatige Nachbauten der Originale mit symbolträchtigen Gebäuden auf fünf bis neun Decks, die sich aus statischen Gründen nach oben verjüngen, machen diese Gebilde Jagd aufeinander. Denn eine Volks- oder Betriebswirtschaft im heutigen Sinne gibt es nicht mehr, keine sichere Ernährung durch eine geregelte Industrie, Landwirtschaft, Tierzucht und Fischerei. Denn landwirtschaftliche Siedlungen sind statisch, weil Pflanzen und Tiere Land benötigen und sich niemals im großen Stil mobil organisieren lassen. Alle einst funktionierenden Ökosysteme sind beim Teufel, die Menschen leben von Raub, Plünderung, Abfallverwertung (auf höchstem Niveau!), Piraterie, Spionage und Kopfgeldjagd bzw. Sklaverei, Schmuggel und eine seltsame Untergrundwirtschaft. 

Das ist das System des "Städtedarwinismus", seit Jahrhunderten etabliert: Fressen und gefressen werden, eine Subsistenzwirtschaft mit Beute auf der Basis permanenter Kriege. So will es die "Liga", ein loser Verbund mobiler Städte ehemaliger Industriestaaten, der sich zum Schutz gegen die asiatischen, fanatisch islamistischen Truppen des "grünen Sturms" gebildet hat. Der entstand - ebenfalls vor Jahrhunderten - als Schutzmacht großer landwirtschaftlicher Siedlungen und Produktionsgenossenschaften auf dem eurasischen Festland. So heißt einer der großen, ideologisch überhöhten Gegensätze in Philip Reeve´s Universum Mobil gegen Stationär, ökologisches Leben gegen mechanisches, Freiheit gegen Tradition. Kommt Ihnen seltsam bekannt vor? - Richtig, das ist die Absicht des Autors.

Ähnlich wie bei Karl May Araber und Kurden, Indianer oder Banden weißer Gesetzloser leben die Menschen in Stammes- und Clanverbänden in permanenten Kleinkriegen um Ressourcen. Natürlich gibt es Cognayc und Whisky, Dosenfraß und Feinkostläden, Edelboutiquen sowie Waffen, Munition, Diesel, Benzin, Elektrizität, aber das kostet Unmengen. Es gibt Geld, es gibt Handwerk und Mechanik, aber alles nur auf einem vor-digitalen und vor-atomaren Niveau. Vereinzelt haben geniale Erfinder Funde aus den alten Zeiten wieder nutzbar gemacht und in den Dienst autoritärer Oberbürgermeister an der Spitze historischer Gilden gestellt. Am Tag der Jagd auf die kleine Stadt, die am Küstensaum nach Salz schürfte, lernen die Leser drei Hauptpersonen kennen: Tom, Historikerlehrling dritter Klasse, Londons Chefhistoriker Valentine, ein ebenso charmanter wie rücksichtsloser Machtmensch, und die junge Hester mit einem von Brandnarben entstellten Gesicht, die versucht, sich mit einem Messer für den Mord an ihrer Mutter an Valentine zu rächen. Und sie lernen ein gnadenloses Klassensystem kennen, das in London herrscht.

Denn Valentine ist nicht nur der berühmteste Archäologe und oberste Historiker der Stadt, er ist es auch deshalb, weil er seine bedeutendsten "Old-Tech Funde" aus prähistorischer Zeit als "Plunderer" erbeutet und dabei eine ganze Familie ausgelöscht hat - die Familie von Hester mit dem verbrannten Gesicht. Die hat sich fangen lassen, um an Valentine heran zu kommen. Tom, der die Zusammenhänge nicht ahnt, wird zufällig Zeuge des Attentats, rettet Valentines Leben und wird von diesem Halunken gleich mit in den Abfallschacht geworfen, den Hester zur Flucht benutzt hat. Im "Draußen", im Roman gleichbedeutend mit Hunger, Dreck und Gefahr, kann angeblich niemand überleben. Doch Hester hat genau das gelernt, und damit beginnt eine ungewöhnliche symbiotische Beziehung. Sie überleben, indem sie trotz anfänglicher Aversionen zusammenhalten und ihre Vorurteile überwinden. Dialogprobe:

"Er hat dich runtergeworfen, oder? Bloß weil du mit mir gesprochen hast." 

"Das ist gelogen!" sagte Tom wieder.

"Ach ja?", fragte Hester. ... Dann wandte sie sich ab und marschierte weiter.

Tom beeilte sich, sie einzuholen. "Ich komme mit! Ich muss auch wieder nach London! Ich kann dir helfen!"

"Du?" Hester lachte heiser und spuckte vor seinen Füßen aus. Ich dachte, du bist Valentine treu ergeben. Und jetzt willst du mir helfen, ihn umzubringen?"

Das kann ja heiter werden. Im Lauf von 1.648 Buchseiten werden Tom und Hester nicht nur ein Paar, sondern erleben auf dem Weg in ihr labiles Glück eine Menge haarsträubender Abenteuer. Besonders gruselig sind die Episoden mit dem Killer-Roboter Shrike. Der Android mit künstlicher Intelligenz hat einst Hesters Mutter als Leibwächter gedient, wurde dann als Beute stillgelegt und ganz neu auf die Menschenjagd programmiert - eine richtige Armee auf nur zwei Beinen. Als Luftschiffer und Händler lernen Tom und Hester den ganzen Planeten kennen - von den Eiswüsten des Nordens bis zu den Dschungeln Südostasiens und den Freihäfen der Himmelsfahrer oder den Unterwasserstützpunkten den "verlorenen Jungs", einer besonders üblen Piratenbande. Der manipulative Chef dieser Truppe hat Waisen aufgenommen und geschult, deren Eltern bei seinen Raubzügen nach Old-Tech ums Leben gekommen sind. Für sie ist er der einzige Halt, Ernährer, Lehrer, Heilsbringer und Oberguru. Die Kindersoldaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas lassen grüßen. 

Tom uns Hester verbringen glückliche Jahre in Kanada, in den Ruinen einer kleinen landwirtschaftlichen Siedlung am Ende eines Fjordes, bauen Wein an, gehen fischen, führen eine Reparaturwerkstatt. Aber als ihre Tochter von den "verlorenen Jungs" entführt wird, müssen sie ihr kleines Paradies noch einmal verlassen. Schluchz. Aber gut geschrieben. Mehr wird aber nicht verraten. Man muss bloß wissen, worum es geht. Und mehr als eine grobe Orientierung kann diese Rezension auch nicht sein. Es ist übrigens ein großer Gewinn, dass der Brite Philip Reeves, der mit seiner Familie im Dartmore National Parl lebt, seine Romane mit sprechenden Cover-Zeichnungen selbst illustriert. Das riecht ein bisschen nach dem Stil alter Landser-Heftchen, hat aber einfach Charme. Das rein Mechanische solcher Abbildungen überfordert die Phantasie nicht, sondern bringt das Kopfkino erst richtig zum Laufen.

 


 












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