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Mittwoch, 5. September 2018

Ein helles Licht aus "Dunkeldeutschland": Die Thomaner beim Musikfest Stuttgart

Die Thomaner mit dem Barockorchester Leipzig in der Stiftskirche

Der erste Thomaner, den ich am 5. September traf, war 81, nicht mehr ganz so gut zu Fuß, dennoch aus Biberach in Oberschwaben angereist und stand mit seiner Frau an der Stadtbahn-Haltestelle Albstraße in Degerloch. Die zwei hatten das Park-and-Ride-Parkhaus benutzt und fragten nach dem Weg. Wir hatten das gleiche Ziel und auch gleich einen Gesprächsstoff: das vorletzte Konzert der "Sichten auf Bach" beim Musikfest Stuttgart mit dem Leipziger Thomanerchor, seinem Leiter Gotthold Schwarz, dem Leipziger Barockorchester und Solisten in der Stiftskirche. Sie: "Wir sehen nachher unseren Enkel, der macht sein freiwilliges soziales Jahr im Hospitalhof und hat ganz begeistert von Herrn Schwarz erzählt, den er dort sprechen konnte. Ich habe als junges Mädchen zehn Jahre in Stuttgart gelebt, aber es hat sich viel verändert". Er: "Ich war selbst viele Jahre lang Thomaner, nicht nur im Chor, auch als Solist. Man konnte ja fast nur reisen in der DDR, wenn man Hochleistungssportler war - oder Thomaner auf Tournee."
So mancher hatte einen beschwerlichen Weg auf sich genommen, etliche Bachfreunde standen gar vergeblich in der Mittagssonne und versuchten, private oder Restkarten zu ergattern. Das Konzert war derart ausverkauft wie nur möglich. Das Stuttgarter Publikum hatte erkennbar auf dieses Gastspiel gewartet, und es wurde nicht enttäuscht. Einzig die "Stuttgarter Zeitung" zog es vor, bis zum Wochenende (einschließlich) kein Wort darüber zu berichten: Meiner Ansicht nach ein ausgewachsener Skandal - vermutlich wieder und nicht zum ersten Mal Berichterstattung nach Anzeigenlage! Guter Journalismus ist etwas anderes. Wenn unentgeltlich arbeitende Blogger die Ehre der bezahlten lokalen Kritikerzunft retten müssen, spricht das Bände.
Das Konzert selbst mit dem Titel "Gott als Helfer in der Not" war mit dem Festivalmotto "Krieg und Frieden" weniger verbunden als mit dem Kirchenjahr. Gott als Tröster ist gerade in diesen politisch aufgeregten Tagen mit fast täglichen Demonstrationen und Hasswellen nach einem Mord in Chemnitz ebenfalls sehr passend. Aktuelle Konnotationen waren nicht gesucht, aber unvermeidlich - wie etwa die sehr emotional aufgenommene Umarmung der beiden Jüngsten, die der Dirigent beim Schlussaplaus nach vorne rief: ein blonder Junge und ein schwarzhaariger mit asiatischen Gesichtszügen. Schon diese Kleinsten in dem Gymnasium "Thomasschule" mit seinen 800 Jahren Tradition singen ja wie die großen Profis - sie sind nur eben zum Teil noch so verblüffend klein (die jüngsten sind erst neun Jahre alt). Sie müssen nicht nur eine wunderbare Stimme haben und hoch musikalisch sein, sondern auch enorm fleißig und diszipliniert, um höchsten Ansprüchen einer regen Konzerttätigkeit gerecht zu werden.
Es war daher schon in jeder Hinsicht etwas Besonderes, diesen Chor zu erleben, der selbstverständlich auf Augenhöhe mit erwachsenen Berufsmusikern arbeitet. Aus dieser musikalischen Kaderschmiede ist Bach selbst hervorgegangen, aber auch Hans-Christoph Rademann als ehemaliger Sänger und Leiter des benachbarten Dresdner Kreuzchores ist ihr eng verbunden. Der Leiter der Bachakademie ist in seiner Sicht auf Bach von dieser mittel- oder ostdeutschen Schule geprägt. Sie vermittelt in einmaliger Ernsthaftigkeit und Schönheit die tröstliche Botschaft, dass Gott uns auf Erden schon Hoffnung gibt. Sie tut dies mit großer musikalischer der Kunst und spricht damit direkt zum Herzen der Zuhörer - ein strahlendes Licht aus "Dunkeldeutschland", das uns beglückt. Diese Sicht auf Bach ist so etwas wie das Original. So etwas kann man nicht kopieren, auch nicht mit Barockorchestern und Chören von Weltgeltung, die sich beim diesjährigen Musikfest Stuttgart die Klinke in die Hand geben.
Solisten in der Stiftskirche waren die Sopranstimmen der Thomaner, der Altus und Ex-Thomaner Stefan Kahle, der Bass Tobias Berndt, der seine Ausbildung beim Dresdner Kreuzchor begann und in Leipzig studiert hat, allesamt intonationssicher und souverän. Besonders bejubelt aber wurde der strahlende Tenor Wolfram Lattke, ein Eigengewächs der Thomaner wie Patrick Grahl, für den er einsprang.
Der Auftakt war mit der Bach-Kantate "Allein zu Dir, Herr Jesu Christ" (BWV 33) eher für das Orchester anspruchsvoll, für Chroristen, Tenor, Altus und Bass mehr ein Warmlaufen. Es folgten drei feine Motetten, bei denen dialogisch gebaute Chorsätze zunehmende Schwieigkeitsgrade erreichten, die aber auch eine enge Beziehung zu Bach oder zur Tradition der Thomaner haben. "Zion spricht: Der Herr hat mich verlassen" von Johann Hermann Schein aus dem Jahr 1623, "Der Gerechte kommt um" von Johann Sebastian Bach und "Das ist je gewisslich wahr" von Heinrich Schütz von 1648. Feierlicher Höhepunkt war die abschließende Bach-Kantate "Wer Dank opfert, der preiset mich" (BWV 17). Nach dem instrumentalen Vorspiel startet der Chor mit fulminanten Koloratur-Dialogen unter der Führung eines Duetts aus Alt und Tenor. Im Rezitativ presste der Altus leider ein paarmal die hohen Töne zu sehr, blieb aber in seiner schönen Stimmlage ansonsten stabil. In seiner Arie "Welch Übermaß der Güte" machte er alles wieder gut. Die Chor-Sopranstimmen schraubten sich in der Arie "Herr! Deine Güte reicht, so weit der Himmel ist" mit einer traumwandlerisch sicheren Dynamik in die Höhe herrlicher Choloraturen.
Nach dem Schlusschoral über das göttliche Erbarmen wollte der Applaus gar nicht mehr enden. Blumensträuße gab´s, Rote Rosen für die Damen des Orchesters und am Ende als Zugabe den bekannten Eingangschoral dere Kantate "Wer nur den lieben Gott lässt walten" (BWV 93). Ach, hätten wir Ohren zu hören.


2 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Die Überschrift ist absolut eine Katastrophe und habe mich nach einem langen Zögern entschieden, wegen dem lesenswerten Inhalt Ihren Artikel zu veröffentlichen. Von der desolaten Überschrift nehme ich absolut Abstand und kann Sie nicht verstehen, Sachsen so in den Schmutz zu ziehen

Unknown hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Widmar Pul!

Könnten Sie sich dazu durchringen, dieses Wort "Dunkeldeutschland" abzuändern? Viele
Leser Ihres Artikels sind sehr betroffen von diesem Wort, was einer Verunglimpfung
einer Region entspricht.

Ich Danke Ihnen sehr, wenn sie den Wünschen der Leser entgegenkommen könnten und das
Wort "Dunkeldeutschland" aus der Überschrift entfernen würden und durch ein anderes
normales Wort ersetzten würden.

Danke für Ihr Verständnis!

Herzliche Grüße
Karin Sommer