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Sonntag, 16. September 2018

Ein unvergessliches Konzert: Currentzis zum ersten...

Alyona Rostovskaya, Teodor Currentzis, SWR Symphonieorchester
Das "Surprise Concert" des Neuen, exklusiv für Freunde und durch Los ermittelte Teile der Abonnenten aus Stuttgart, Freiburg und Mannheim hatte es wirklich in sich: Der erste Auftritt von Teodor Currentzis als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters am 10. September (noch vor dem offiziellen Antrittskonzert am 20.) war etwas völlig Neues. Neu war die äußere Form, mit der hier Musik inszeniert wurde, neu war das Engagement der Musiker - vom Einmarsch und teilweise auch Spiel im Dunkeln über die abgesenkte Bühne (um näher beim Publikum zu sein und möglichst nicht von oben herab), neu war aber vor allem die Art der musikalischen Interpretation, die sich hier exemplarisch vorstellte, und ganz neu auch die Begeisterung der Zuhörer, die sich eher gebärdeten wie bei einem Pop-Konzert. Currentzis, der russisch sozialisierte Grieche, der schon von Sibirien, aus dem Permafrost, heiße musikalische Wellen einer ungewöhnlichen Begeisterung und Gemütserschütterung durch die Welt sandte, dieser Mann will bei aller Genauigkeit (Man sagt ihm nach, bei Proben ein Fanatiker technischer Perfektion zu sein) vor allem eins: Leidenschaft für Musik und durch Musik. Und die war absolut zu spüren, abgesehen von seinen zwei durchgeschwitzten Hemden.
Das Programm erfuhr man erst nach dem Konzert - und auch, wer die blonde Schönheit in Blau war, die in der zweiten Halbzeit vorn auf der Bühne saß und erst kurz vor Schluss sang: Die Sopranistin Alyona Rostovskaya mit einer glockenreinen traurigen Arie von Jean-Philippe Rameau in einer Suite, die Currentzis ganz aus Werken dieses barocken Franzosen arrangiert hatte. Was wird er da erst nächste Woche mit Gustav Mahler anstellen?
Aber kurz der Reihe nach. Das Licht ging aus statt an, dann kamen die Musiker langsam auf eine Bühne, auf der nur wenige Orientierungshilfen glommen: die ganz unerlässlichen Pultlämpchen für Notenblätter, vor allem des Pianisten Christoph Grund, der mit ausladender Gestik und Fingerspitzengefühl das langsam sich steigernde Stück "Musik für Klavier und Ensemble" von Marko Nikodijevic spielte. Magie pur. Man hätte das auch "Der sibirische Schamane" nennen können. Es folgte etwas, das auch geübte Hörer erst ab dem dritten Satz als die Symphonie Nr. 7 a-Dur Ludwig van Beethovens erkannten. Das war ein völlig neuer Beethoven, so unverbraucht, so mutig und frech - und doch, da bin ich sicher, so penibel genau nach der Partitur wie nur möglich. Eine Offenbarung für die Ohren, mit Streichern, die im Stehen mehr gaben als sie im Sitzen je zu haben geglaubt hatten. Da hielten die Leute schon den Atem an.
Und vollends platzte der Knoten anfangs verhaltener, noch etwas unsicherer Zuneigung nach der Pause mit Jean Philippe Rameau. Da hörte sich diese 300 Jahre alte Musik plötzlich teilweise an wie Irish Folk. Da stampften Dirigent, Streicher und Flötisten im Rhythmus den Boden, wurden zu Straßenmusikanten und steigerten sich in eine Trance hinein, die das Publikum nach jedem Abschnitt zum Applaudieren brachte. Vornehme Zurückhaltung bis zum Schlussapplaus? - Ach was, das ist Geschichte. Weg damit! Das ging schon bei Beethoven so, da grinsten noch einige nachsichtig. Aber zum Ende hin wurde die Stimmung immer dionysischer, im positiven Sinne hemmungsloser. Zum Abschied zogen der Dirigent mit seinen rot geschnürten Sportschuhen, Solisten und Orchester in Polonayse durchs tobende Volk im erneut abgedunkelten Saal, kamen zurück, feierten miteinander wie vielleicht einst im Karneval zu Venedig. Seltsam, neu, fremd und vertraut zugleich, wahrlich wunderbar überraschend.



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