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Freitag, 12. Januar 2024

Kampf gegen die Gespenster der Erinnerung

Dieter Schlesak: "Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr". Roman, Pop Verlag Ludwigsburg 2021, 503 Seiten, 29 €
 

"Nichts mehr kann mir passieren, es ist ja schon passiert." Das ist einer der Schlüsselsätze in diesem Roman, der den Erzähler im Schreiben vor dem Verschwinden rettet. Der lebt als "Freigänger" in einer psychiatrischen Anstalt und heißt mit einem abgespaltenen Teil seines Ich, der früher am Leben draußen teilhatte, Michael Terplan. Das Zimmer des Erzählers ist sein Zufluchtsort: leer bis auf das weiß gestrichene Anstaltsbett, Kleiderschrank, Tisch mit dem Laptop und Stuhl. Terplan ist sein wichtigstes Gespenst "aus der Zeit, in der es mich noch gab", das Gespenst seiner Erinnerung. Die anderen sind die Stimmen der Toten, die Terplan als nahe Verwandte und Freunde auf seinem Lebensweg begleitet haben und ihm nun durch den Kopf gehen. "Sie sind da, und wenn sie nicht tot sind, kann auch die Vergangenheit nicht vergangen sein." Die schreibt er auf, jetzt steckt sie in seinem Laptop: Literatur als Selbstvergewisserung, hier wortwörtlich Erinnerungsarbeit. Dabei sucht er das Gespräch mit der Toten und versucht, sich von einem Berg aus der eigenen schmerzlichen Biografie zu befreien, ein quälendes Gewicht von Geschichte, Traditionen, Begrifflichkeiten und ideologischen Verstickungen seines Elternhauses in Krieg und Deutschtümelei unter den Siebenbürger Sachsen.

Mehr als einmal ist dem Erzähler sein Leben um die Ohren geflogen, hat er alles verloren bzw. wurde ihm alles genommen - bis hin zur Identität. Die steckt jetzt nur noch und einzig in seinem Laptop, und den nehmen sie ihm auch in der Anstalt nicht weg. Es ist schwer (und zwar mit Absicht), zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Er fürchtet den Tod nicht, weil er die Wiedervereinigung mit all den Toten bedeutet, die er vermisst, sozusagen die einzige Möglichkeit der Heimkehr eines Unbehausten. Er fürchtet jedoch die angekündigten Elektroschocks, die ihn seines Gedächtnisses berauben werden - dagegen schreibt er an. Daher kehren auch autobiographisch geprägte Szenen immer wieder, die seine Leser schon aus den  Romanen "Vaterlandstage" (1986) und "TranssylWAHNien" (2014) kennen.

Dieter Schlesak wurde 1934 in Schäßburg/Rumänien geboren und starb 2019 im italienischen Camaiore. Nach dem Studium der Germanistik in Bukarest arbeitete er als Redakteur bei der deutschsrachigen Zeitschrift Neue Literatur und trat bald als Autor hervor. 1968 erschien sein erster Lyrikband im Bukarester Literaturverlag. 1969 emigrierte er nach Deutschland. Das Ost-West-Trauma und der Kulturschock des Wechsels vom Balkan nach Mitteleuropa beherrschten von da an sein Schreiben und Leben. Zahlreiche Auszeichnungen konnten daran nichts ändern. Um nur die wichtigsten zu erwähnen: 1980 der Andreas-Gryphius-Preis, 1993 der Nikolaus-Lenau-Preis, 2005 die Ehrendoktorwürde der Universität Bukarest.

Der Erzähler ist oft weggetreten, also in Gedanken, "also gar nicht da". Das passiert zwar den meisten, aber die Leute sagen, er sei krank. Seinen Pfleger findet er nett - ein komischer Kauz, ganz wie auch die Irrenärzte. "Ich glaube, die sind verrückter als wir." Er hat einen neuen Freund in der Anstalt namens Ritter Edler - "ein Schweizer, der aber viel in der Welt herumgekommen ist; er ist wegen einer bizarren Liebesgeschichte mit einer Lehrerin hier, er nennt sie die Weltglücksfrau, die ihm den Verstand geraubt hat, nicht aber die Vernunft und ein Wissen, das täglich in seinen lustigen Sätzen explodiert. Er ist der lebensbejahendste und positivste Mensch, den ich je kennengelernt habe. So wirkt er heilend auf mich."

An Besuchstagen kommen Terplans Frau Jann, sein Sohn Michael, sein Bruder Hannes, seine Schwester Carmen, die Nichten und Neffen, Schwäger und guten Freunde, sogar seine Exfrau Maria, Leserinnen und manchmal Kritiker. Von Schwester Erika hat er feuchte Träume, die sie nachsichtig weglächelt. Der Roman ist keine linear erzählte Geschichte, sondern ein ständiges Hin und Her der Erinnerungen. Manchmal ausgelöst durch konkrete Ereignisse wie Gespräche mit freundlichen Rumänen, die sein Elternhaus in Schäßburg bewohnen, als der Exilant nach Jahrzehnten der Abwesenheit erstmals wieder seine alte Heimat besucht, seine Auswanderung, die Grenzübertritte bei späteren Urlauben, die Besuche der heimatlos gewordenen Mutter und Ehefrau, das Heimweh der Alten. Träume. Friedhofsbesuche. Tagebücher. Behördengänge, Familienfeste. 

Mit so einem Buch wird kein Autor je ferig. Deshalb ist es posthum erschienen. Wenn Rückkehr und Heimkehr der Tod sind, dann bedeutet umgekehrt der Tod die höchste Form der Rückkehr - in die Erinnerung mit all ihren Brüchen, Narben und Wahrheiten.


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