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Donnerstag, 7. März 2024

Hybride Monstrositäten: Nicolas Novas "Bestiarium des Anthropozäns"

Nicolas Nova & Disnovation.org: "Ein Bestiarium des Athropozäns" mit zahlreichen Illustrationen, aus dem Englischen übersetzt von Dieter Fuchs, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023, 248 Seiten, 28 €

Es ist nicht nur der zur Jagd auf Drohnen abgerichtete Adler, es es sind viele Beispiele für hybride Mineralien, Tiere, Pflanzen, Pilze und "Gebrauchsgegenstände", die der Autor und Wissenschaftler Nicolas Nova mit dem Künstlerinnenkollektiv DISNOVA.org für den speziellen Fußabdruck der Menschheit zusammengetragen und in diesem Buch beschrieben hat. Das Anthropozän ist laut WIKIPEDIA das "Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist". In der Tat leben wir etwa seit dem Beginn des Industriezeitalters in einer hybriden Welt, in der Organisches und Synthetisches vielfach eine Einheit bilden. Der Einfluss des Menschen auf die Biosphäre ist allgegenwärtig, ja global, und geologisch nachweisbar. Herbert Simon schrieb 1990 in "Die Wissenschaften des Künstlichen": Ein Wald kann eine Naturerscheinung sein - ein Bauernhof ist sicherlich keine. Gerade die Spezies, von denen der Mensch in puncto Ernährung abhängt, sein Getreide und sein Vieh, sind Artefakte seiner Erfindungskraft. Ein gepflügtes Feld ist nicht in größerem Maße Teil der Natur als eine asphaltierte Straße - aber auch nicht in geringerem". Es gibt nur bisher kaum ein Bewusstsein davon.

Aus den zahllosen Beispielen für die "Fußabdrücke", mit denen der Mensch spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg die Welt prägt, versucht das "Bestiarium" eine vorsichtige Klassifizierung in vier Naturreiche: Zum Naturreich der Mineralien gehören etwa künstliche Riffe, neuerdings Häuser aus dem 3-D-Drucker, Betonbauwerke wie die Küstentetrapoden, die als Wellenbrecher dienen, oder die berühmten "Drachenzähne", die von Hitlers Westwall bis zur Ukraine Panzer aufhalten sollen. Künstliche Berge und Seen gehören ebenso dazu wie Hühnerknochen von Fleischhähnchen aus der Massentierhaltung, die sich von ihren natürlichen Verwandten derart unterscheiden, dass sie als Epochenmerkmal taugen.

Einige der spaktakulärsten Hybridformen in dieser Sammlung sind Bergwerks-Kanarienvögel und verschiedene andere Sensortiere. Vögel oder Einsiedlerkrebse gehörn dazu, die ihre Nester aus Plastik bauen, Spinnenseide, Mikroplastik in den Mägen verendeter Meerestiere sowie Spionagetiere mit Kameras und dergleichen. So tragen Albatrosse und verschiedene Zugvögel Satellitensender zur umfangreichen Sammlung wissenschaftlicher Daten über Vogelzug, Ernährungsverhalten, die Haltbarkeit von Partnerschaften etc. Geschützte Wölfe, Luchse, Elefanten und Nashörner, aber auch Raubtiere in Reservaten und Naturschutzgebieten geben auf diese Weise Auskunft über ihre Wanderungen und Reviergrößen. Das Wissen über die Natur und die Verträglichkeit von Tier und Mensch ist dank solcher Hilfsmittel schier unendlich gewachsen. Der bereits erwähnte Drohnen fangende Adler oder diverse Spürhunde gehören ebenfalls hierher. Für erfolgereiche Minen-Spürhunde, die ein Bein verloren hatten, wurden sogar schon Prothesen angefertigt. Aber auch "Rollator"-Wägelchen für gelähmte bzw. amputierte Hunde und Katzen sind relativ bekannt.

Frappierend auch, was sich im Kapitel über das Naturreich der Pflanzen findet: Würfelförmig gezüchtete Wassermelonen, die sich gut verpacken, transportieren und auf Märkten stapeln lassen, haben manche Tomatenbauern inspiriert. Kunstblumen und Kunstrasen kennt man schon lange, Stacheldraht auch. Aber gerade darum werden solche Dinge oft gar nicht mehr wahrgenommen. Dass Hecken und Plantagenwälder künstlichen Ursprungs sind, ist klar. Doch wie weit sie die Landschaft verändern, schon weniger. 

Eher Exoten finden sich im "Naturreich der Sonstigen" (wie ich finde, ein ziemlich einfallsloser Titel): Aus radioaktiven Pilzen, die in der Region Tschernobyl wachsen, kann man eine Creme herstellen, die Krebspatienten, Arbeiter in Atomkraftwerken oder Astronauten vor Radioaktivität schützt. Antibiotikaresistente Bakterien gäbe es nicht ohne den massenhaften Einsatz von Antibiotika durch Tierzüchter nicht. Das Corona-Virus Sars Cov 2 wäre ohne menschlichen Einfluss nicht entstanden. Legionellen kommen in der Natur vor, besiedeln aber in gefährlichen Konzentrationen nur von Menschen geschaffene Warmwasserleitungen (Duschköpfe), Speicher, Wasserhähne, Kühltürme von Kraftwerken oder Abflussrohre. "Geimpfte" Wolken und Kunstschnee sind Produkte zur Imitation von fehlendem Regen der Schneefall. Genutzt werden sie von Landwirtshaft und der Tourismus-Industrie in Skigebieten.

Ein abschließendes Kapitel ist grundsätzlichen Betrachtungen gewidmet. Da kann man Essays über Klassifizierung lesen, über Künstlichkeit, rekombinante Gemeingüter oder "anthopogene Landschaften". Das liest sich nicht immer einfach - auch schon rein optisch. Eine kleine Schrift in silbergrau auf schwarzem Papier ist anstrengend für die Augen. Vielleicht sollten Viel- und Schnell-Leser dadurch gebremst werden? Jedenfalls sind Pausen nicht dumm. Das "Bestiarium des Anthropozäns" ist ein kluges, lehrreiches Buch für Naturfreunde und Technikbegeisterte gleichermaßen. Es gibt eine Vorstellung davon, wonach zu suchen und was zu finden wäre, wenn in einer fernen Zukunft einmal Ausgrabungen durch Außerirdische  auf der Erde stattfinden sollten.


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