Seiten

Samstag, 25. Mai 2024

Das erste Jahr: Tagebuch einer jungen Mutter

Anna Ospelt: Frühe Pflanzung. Limmat Verlag Zürich, 96 Seiten, 24 €

Eigenwillig, feinfühlig, poetisch: eine Art Tagebuch und auch wieder keines ist dieses Buch. Es ist kein Text, es ist viele, es entzieht sich einer schnellen Einordnung, und der Leser darf davon ausgehen, dass dies Absicht ist. Die studierte Soziologin und Pädagogin hat etwas Flirrendes, Zartes geschrieben, bei dem sich genaue, fast wissenschaftliche Beobachtung mischt mit einer Gefühlsintensität, die sonst eher lyrisch genannt wird. Sie zieht Vergleiche zwischen einer Pflanze und einem Menschenleben. Wie ein Setzling in die Erde gepflanzt, gegossen und bewacht wird, so wächst ein Kind während der Schwangerschaft im Bauch der Mutter und kommt zur Welt. Elementare Dinge also, die Ospelt auf eigentümliche Weise erkundend beschreibt. "Es sei noch kein Kind gewesen. Früher nannte man das eine Frucht!" Und wenig später: "Ich pflanzte eine mehrjährige Blume anstelle der Frucht. Grabe sie aus, grabe sie ein. Die Frucht hatte die Größe einer Rosenknospe bereits überschritten. Allerlei Knospengrößen schon gehabt. Man weiß nicht, in welcher Form die Knospe sich entfaltet hätte, in welcher Farbe, mit welchem Duft." 

Später wird es irgendwann heißen, das Kind rieche nach Mandarinen. Das erste von sieben Kapiteln endet mit einem poetisch-lakonischen Satz, der das eigene Leben, das Schreiben reflektiert: "Das Schreibgewebe beginnt, sich zu lösen." Das zweite und titelgebende beginnt im Garten, als im Herbst Eicheln ins Gras fallen. Sie notiert "Eicheln sind Erzählkapseln", und "Die Schwangerschaft ist ein ungewisses Feld. Die Freude über die Bewegung im Bauch ist ein erster Eindruck auf die Zeit mit dem Kind. Das Warten darauf auch. ...Ich schreibe mit, um bei mir zu bleiben." Das könne sie vergessen, wird ihr mehrfach gesagt. Vorsicht, vermintes Gelände: "Als würde der herausragende Bauch dazu einladen, mir zu nahe zu treten." Vaduz, wo Ospelt lebt, ist von den hohen Bergen des oberen Rheintals umgeben. Da sieht sie "Die Schneedecke fließt langsam die Hügel hinab."

Die Rubrik "Flora" gliedert sich einfach in die vier Jahreszeiten. Im Frühling kommt das Kind. "Ich sitze am Fenster und warte, bis E. neben mir aufwacht. Sie ist fünf Tage alt. ... Einzelne Knospern streckten ihre Köpfe aus der Erde, als wir das Hause kamen. Außerdem blühen auf der Wiese Primeln und Kokusse. ... Fortwährend dieses Öffnen und Schließen der Augen. Fortwähred diese Wachsein und Schlafsein." Was ist das, "Schlafsein"? Egal, es ist Ospelt. Sie beobachtet, dass der Blick des Kindes sich zunächst hauptsächlich nach innen richtet. Nach fünf Wochen kann das Kind lächeln und "sehr laut schreien."

Familien-Stilleben mit Hund und Humor: "Wir liegen wie Ölsardinen zu dritt im Bett, der Hund neben dem Bett. N. und ich blass um die Nase, E. rosig, der Hund schnarchend."  Die Hebamme bestärkt sie darin, zu schreiben und zu lesen. Schwangerschaft und Geburt waren kräftezehrend. "Ich stille, wickle, lese und notiere. Mache ich mehr, holt mich der Schüttelfrost ein. N. wickelt, kocht, putzt und geht seiner Erwerbsarbeit nach."

Sieben Wochen nach der Geburt beobachtet sie den innigen Blick der Tochter, die kleine Fettpolster an den Händen bekommt, gurrt und summt. Sie bemerkt fehlende Schreibtischzeit und braucht "kleine Freizeiten: unter der Dusche, in einem Brief, im Kunstmuseum. Mein Aufatmen darin." Sie bekommt ein schlechtes Gewissen davon, eine Enttäuschung, eine Pflicht nicht zu erfüllen, die Selbstaufgabe heißen müsste. "Ich widerspreche diesen Gefühlen vehement, trotzdem suchen sie mich heim."

Wenn Waldsäume im Sommer beginnen, sich abzuzeichnen, heißt das bei Ospelt: "Dunkelheit fließt vom Berg." Sie beobachtet und liest bestätigend von der "Ich-Schmelze in der frühen Elternschaft." Stellt fest, dass sie ein wenig mollig und lethargisch geworden ist. Die erste Beikost fürs Kind, die erste Lesung der Mutter sind notiert. Und: "Es fällt mir schwer, mir in dieser formlosen Zeit eine Form zu geben." Wenn die Tochter schläft, schreibt die Mutter. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Zettel, Ideen und Bücher. Nach fünf Monaten wäre die Elternzeit vorbei, und sie stellt fest: "Immer wieder überrascht es mich, wie müde und vergesslich ich bin. Noch immer".

Zehn Tage Urlaub in Zürich, in der leeren Wohnung der Schwester von N., genießt sie als "schöne, innige Zeit. Zu zweit mit E." Die bewegt sich, brabbelt und kräht fröhlich, führt mit der Stoffmaus lange Zwiegespräche. Neu ist nun: "Ich muss nicht mehr immer alleine sein, um zu mir zu kommen, sondern kann mit E. bei mir sein. Das ist eine neue Erfahrung, die wohltut." Noch eine Ospelt-Vokabel ist die für Schreibtischzeit: "Hirnzimmer", ein Rückzugsort, den man immer bei sich hat. Die Folge ist eine erneute Lesung, diesmal mit der ganzen "Familie". Das Wort löst bei Autorin und Partner Heiterkeit aus. Ein Lehnwort aus der volkstümlichen Zoologie wird vereinnahmt: "Natternhemden" nennt man die abgestreifte alte Haut von Schlangen nach der Häutung. "Als meine Großmutter älter wurde, alt wurde, wirkten ihre Blusen Jahr für Jahr größer und größer. Diese Blusen, ihre Natternhemden, trage nun ich. Sie sind meine Stillkleidung." - Ein ungewöhnlicher, eigenwilliger, eigener Sprachgebrauch.

"Nach und nach wachsen E. und ich aus unserem Kokon heraus," heißt es im Herbst. "Freiräume schimmern auf. ... Wir beginnen damit, dass E. regelmäßig mehrere Stunden am Stück bei ihren Großeltern verbringt." Anschließend riecht E. nach ihrer Großmutter. Frauen haben doch sehr feine Nasen. Ist es Schulung durch Parfüm? Der "Bergfreund" verändert sein Gesicht, hat nun rote Wangen und eine grüne Stirn. Die Mutter dünstet "Apfelstücke für E., die sie mit den Händen essen kann. Die Amseln picken das Gehäuse auf." Als das Kind zahnt, weint es nachts vor Schmerzen. Und dann wieder so ein poetischer Ausdruck: "N. und ich sind so müde, dass die Zeit schürfend vergeht."

Ospelt malt ihre Sprache in Bildern, die physisch werden. Damit sie ihren Schreibraum betreten kann, muss "ein babyfreies Fenster sich öffnen. Das ist neu. Die Tür im Brustkorb grenzt an meinen Schreibraum, abends schimmert Licht durch den Türspalt." Zugleich werden ganz handfeste Fragen gestellt und diskutiert: "Habe keine Antworten darauf, was richtig ist: wann wieder erwerbsarbeiten, wie viel. ... In jedem Fall ist die Burteilung falsch, der hauptsächlich Mütter ausgesetzt sind: die Maßregelung von Frauen mit Kind, die nicht erwerbsarbeiten. Die Maßregelung von Frauen mit Kind, die erwerbsarbeiten." Falsch sicher auch, dass Wahl und Spielfraum eine Frage von Privilegien sind oder die Erschöpfung vieler Mütter strukturell bedingt ist.

"Wäre das anders, wenn Fürsorgearbeit vergütet würde, anerkannt würde? Wenn Literatur und andere Künste, politisches, ökologisches und soziales Engagement anderkannt und angemessen vergütet würden?" - Schwierige Fragen. Der deutsche Schriftstellerverband VS hat genau aus solchen Gründen ein Mindesthonorar für Lesungen von 500 € beschlossen, mit der Folge, dass die Mitglieder kaum noch zu Lesungen eingeladen werden, weil kleine Veranstalter wie Buchhandlungen, Stadtbüchereien oder Vereine und Kirchengemeinden (also die große Mehrzahl der Veranstalter) sich dieses Mindesthonorar nicht leisten können.

Der Gang der Mutter verändert sich. Der Winter überzuckert die Berge. "Eine Amsel sitzt auf dem alten Apfelbaum und plustert sich. Ich hänge Apfelgehäuse zu den schneewangigen, am Baum übrig gebliebenen Äpfeln." Das erste Weihnachten zu viert sieht N., E., die Mutter und den Hund. Der Radius von Mutter und Tochter vergrößert sich. Das Kind sitzt auf dem Schoß und greift nach Büchern, Lesezeichen, Stiften und Briefen. "Wenn E. schläft, wird die Luft sanft. Samten."

Wie selbstverständlich ist die klaglose Arbeitsteilung junger Eltern, die Ospelt "Schichtienst" nennt: Das Kind zigfach in den Schlaf wiegen, eine Hälfte der Nacht er, die andere sie? "Hin und wieder wache ich nun vor E. auf und kann in Ruhe aufstehen, einen Kaffee trinken. Diese geschenkten Zeiten leuchten."

Zur Entspannung beginnt Ospelt, Miniaturgeschichten über eine pensionierte Frau Mörschil zu schreiben, die einen festen Tagesablauf hat und mit ihrem Papagei namens "Na und" den Abend allein vor dem Fernseher verbringt. Manchmal spaziert sie morgens mit E. los, um einen sehr starken Kaffee trinken zu gehen und Menschen zu sehen. Das Kind ist jetzt bald ein Jahr alt, und langsam wird der Alltag einfacher. "Weil N. und ich uns gewöhnt haben, an den sich stets  verändernden Rhythmus, an Kontrollverlust, an verringerte Bewegungsfreiheit. ... Weil wir ein hilfsbereites Umfeld haben. Weil wir nachts zunehmend besser schlafen. Weil die Liebe mitwächst."

Was am Ende bleibt, ist eine gesteigerte Achtsamkeit, ein noch genaueres, meditatives Hinschauen auf die Wege der alltäglichen Routine. "Schnee fällt zwischen die Zeilen". 

 

 

 

Keine Kommentare: