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Samstag, 8. Juni 2024

"Die Zärtlichkeit der Schweigenden": Der Abschied von Teodor Currentzis

Schlussapplaus: Currentzis und Solisten

Teodor Currentzis dirigierte am 6. und 7. Juni in Stuttgart zum Abschied als Chefririgent des SWR Symphonieorchesters das "War Requiem" von Benjamin Britten. Vor dem Konzertbeginn in der Liederhalle dankte SWR-Intendyant Kai Gniffke dem Freund und Musiker mit bewegenden Worten für großartige musikalische Erlebnisse und seine ungewöhnlich erfolgreiche Arbeit mit dem Orchester in den sechs Jahren seiner Amtszeit. Nach der Fusion der SWR-Orchester in Stuttgart und Freiburg hat der junge Currentzis aus zwei teils demotivierten und frustrierten Rumpforchestern einen ganz neuen, ganz eigenen Klangkörper geformt sowie mit seinem Charisma, seinen Ideen für Konzerte und Aufführungen klassischer wie Neuer Musik junge Publikumskreise angezogen. Mit öffentlichen Workshops und ungewöhnlichen Konzertformen traf er den Nerv der Zeit und des Publikums, nicht nur die Liederhalle war bei jedem seiner Auftritte bis auf den letzten Platz ausverkauft. Wie ein Popstar umjubelt und durchaus unorthodox gekleidet, aber bescheiden und zugewandt in seinem Auftreten, machte er als "Probenmonster" aus seinen Musikern extrem engagierte Weltstars, mit denen er auch auf Tourneen im In- und Ausland viel Erfolg hatte. Gniffke ging auch auf die Tatsache ein, dass Currentzis einen russischen Pass hat und aus Verantwortung für die russischen Musiker seines Ensembles MusicaEterna zwar gegen den Krieg in der Ukraine Stellung bezogen, eine konfrontative Positionierung gegen Wladimir Putin jedoch stets vermieden hat. Zu Recht wies Gniffke darauf hin: "Benjamin Brittens War Requiem ist nicht nur eine der bedeutendsten Kompositionen des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein bewegendes  Symbol der Versöhnung, ein Statement gegen den Krieg schlechthin".

Das War Requiem entstand 1962 als Auftragsarbeit zur Einweihung der neuen Kathredrale von Coventry neben den Ruinen des historischen Sakralbaus, der von den Nazis im Luftkrieg gegen England völlig zerbombt wurde. Das anderthalbstündige Mammutprojekt ist der Appell eines Mannes an die Menschheit, der sich als Komponist, Dirigent und Pianist immer für die Jugend, den Frieden und die Völkerverständigung eingesetzt hat. Er sagte in einem Interview dazu: "Ich glaube einfach nicht an Macht und Gewalt", und er war ein großer Bewunderer und Freund von Dmitrij Schostakowitsch, den auch Currentzis verehrt. 

Die Texte des monumentalen Chorwerks bestehen aus der lateinischen "Missa pro defunctis" (Totenmesse) und Gedichten von Wilfried Owen, ein sprachmächtiges Gedenken der Gefallenen im Ersten Weltkrieg. Der Dichter selbst kam am 4. November 1918 starb als Soldat mit nur 25 Jahren bei Ors in Frankreich - nur wenige Tage vor dem Waffenstillstand. Sie stehen im Dialog oder Wechselgesang der Solisten von Tenor und Bariton, die nur von einem Kammerensemble begleitet werden, auf der einen Seite, und dem lateinischen Messtext, den drei Chöre und eine Sopranistin mit der großen Orchesterbegleitung singen. Tenor und Bariton streuen in englischer Sprache als imaginäre Stimmen von Gefallenen einst verfeindeter Lager ihre Erinnerungen und Gedanken über das Grauen des organisierten Massenmordes in die Texte der traditionellen Messe ein. Von fern erklingen die hellen Stimmen eines Knabenchors und die Orgel, die wie aus höheren Sphären von Erlösung und ewiger Ruhe künden.

Der Aufbau des Werkes in den sechs Sätzen folgt der klassischen lateinischen Totenmesse mit den bekannten Titeln Requiem aeternam, Dies irae, Offertorium, Sanctus, Agnus Dei und Libera me. Glockenklänge und tiefe Streicher begleiten den einleitenden Messtext Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, Und das ewige Licht leuchte ihnen. Und da sei ein Zitat erlaubt, um die Wucht der nachfolgenden Verse von Wilfried Owen in Übersetzung nachvollziehbar zu machen:

Welche Totenglocken läuten denen, die wie Vieh sterben?

Nur die ungeheure Wut der Geschütze,

Nur das Knattern ratternder Gewehre

Kann hastige Gebete herunterrasseln.

Kein Hohn für sie in Oitaneien oder Glocken,

Und keine einzige Stimme der Trauer, bis auf die Chöre,

Die schrillen, wahnsinnigen Chöre heulender Granaten

Und Hörner, die aus trostlosen Landschaften nach ihnen rufen.

 

Welche Kerzen sollen gehalten werden um sie auf ihrem Weg zu geleiten?

Nicht in den Händen von Knaben, sondern in ihren Augen

Möge das Licht des Abschieds leuchten.

Die Blässe junger Mädchen soll ihr Leichentuch sein,

Ihre Blumen die Zärtlichkeit der Schweigenden,

Und jede langsame Dämmerung ein Fallen des Vorhangs.

Der Knabenchor des collegium juvenum Stuttgart war effektvoll vorne an der großen Tribüne des Zuschauerraums platziert, das SWR Vokalensemble und der London Symphony Chorus auf der großen Chorempore über der Hauptbühne, auf der das SWR Symphonieorchester in großer Besetzung saß, davor der Dirigent, die Sopranistin Irina Lungu, der Tenor Allan Clayton und der Bariton Matthias Goerne. Allein diese Aufstellung macht schon klar, welche Mammutaufgabe da auf den Dirigenten wartete. Auch wenn er die Unterstützung des musikalischen Assistenten Gregor A. Mayrhofer und traditionell die Chorpartien durch Chorleiter einstudiert wurden (SWR Vokalensemble: Yuval Weinberg; collegium juvenum: Sebastian Kunz; London Symphony Chorus: Mariana Rosas) blieb die Aufgabe für den Dirigenten riesig, und er löste sie mit Bravour. Auf eine detaillierte Bewertung der Chöre und Solisten möchte ich wegen der Nähe des Werks zum modernen Musiktheater und den Carmina Burana von Carl Orff verzichten, weil ich nicht kompetent dafür bin. Der Gesamteindruck war jedoch mehr als stimmig, er war großartig.

Am Ende erklang nochmals ein leises Requiem aeternam dona eis, Domine zu Glockenklängen. Der Rest war Schweigen. Nachdenkliches, ehrfürchtiges, berührtes Schweigen. Das Publikum schwieg gut eine Minute, bevor der Beifallssturm losbrach. Als er endete, verließen 2000 tief berührte Menschen die Liederhalle wie Besucher eines Gottesdienstes eine Kathedrale. Was mir durch Mark und Bein ging angesichts des Schweigens von Currentzis, der es immer vorzieht, durch Kunst zu sprechen: "Die Zärtlichkeit der Schweigenden". Sie war sehr groß.

Einen kleinen Wermutstropfen muss ich aber in mein Lob gießen. Warum hat es keine große Projektion der deutschen Übersetzung der Gedichte von Wilfried Owen gegeben? Bei anderen Gelegenheiten war das möglich, und hier wäre so etwas eine wesentliche Hilfe bei der Aufgabe gewesen, die englischen Texte zu verstehen, die von den Solisten präsentiert wurden. So konnte das Publikum nur ungefähr das bekannte lateinische Textrepertoire der Chöre verfolgen, während man bei den anspruchsvollen lyrischen Reflexionen zum massenhaften Sterben im Krieg nur die Wahl hatte, seine Aufmerksamkeit auf die Musik oder den Text zu richten. Ich kann z.B. ganz gut Englisch, aber hier konnte ich kaum ein Wort verstehen. Schade. So saßen dann 2000 Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums mit der Nase im Textbüchlein da...



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